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Das Klapperstorch-Märchen

Wovon die Beine der Teckel so kurz sind, und daß sie sich dieselben abgelaufen haben, weiß jeder. Wie aber der Storch zu seinen langen Beinen gekommen ist, das ist eine ganz andere Geschichte. Drei Tage nämlich, ehe der Storch ein kleines Kind bringt, klopft er mit seinem roten Schnabel an das Fenster der Leute, welche es bekommen sollen, und ruft: „Schafft eine Wiege,
Ein‘ Schleier für Fliegen,
Ein buntes Röcklein,
Ein weißes Jäcklein,
Mützchen und Windel:
Bring‘ ein klein Kindel!“
Dann wissen die Leute, woran sie sind. Doch zuweilen, wenn er sehr viel zu tun hat, vergißt er es, und dann gibt‘s große Not, weil nichts fertig ist. Bei zwei armen Leuten, welche im Dorf in einer kleinen Hütte wohnten, hatte es der Storch auch vergessen. Als er mit dem Kinde kam, war niemand zu Hause. Mann und Frau waren auf Feldarbeit gegangen und Türe und Fenster verschlossen; auch war nicht einmal eine Treppe vor dem Hause, auf die er es hätte legen können. Da flog er aufs Dach und klapperte so lange, bis das ganze Dorf zusammenlief und eine alte Frau eilends aufs Feld hinaussprang, um die Leute zu holen. „Herr Nachbar, Frau Nachbarin! Herr Nachbar, Frau Nachbarin!“ rief sie schon von weitem, ganz außer Atem, „um Gottes Willen! Der Storch sitzt auf eurem Hause und will euch ein kleines Kind bringen. Niemand ist da, der ihm‘s Fenster aufmachen kann. Wenn ihr nicht bald kommt, läßt er‘s fallen, und ‘s gibt ein Unglück. Oben beim Müller hat er es vor drei Jahren auch fallen lassen, und das arme Wurm ist heute noch bucklig.“ Da liefen die beiden Hals über Kopf nach Haus und nahmen dem Storche das Kind ab. Wie sie es besahen, war es ein wunderhübscher kleiner Junge, und Mann und Frau waren vor Freude außer sich. Doch der Storch hatte sich über das lange Warten so geärgert, daß er sich vornahm, ganz bestimmt den beiden Leuten nie wieder ein Kind zu bringen. Als sie endlich kamen, sah er sie schon ganz schief und ärgerlich an, und während er fortflog, sagte er noch: „Heute wird‘s auch wieder spät werden, ehe ich zu meiner Frau Storchen in den Sumpf komme. Ich habe noch zwölf Kinder auszutragen, und es ist schon spät. Das Leben wird einem doch recht sauer!“ Doch die beiden Leute hatten in ihrer Herzensfreude es gar nicht bemerkt, daß sich der Storch so schwer geärgert. Eigentlich war er ja auch ganz allein daran schuld, daß er so lange hatte warten müssen, weil er es ihnen doch vergessen hatte, es ihnen vorher zu sagen. Wie nun das Kind wuchs und täglich hübscher wurde, sagte eines Tages die Frau: „Wenn wir dem guten Storch, der uns das wunderhübsche Kind gebracht hat, nur irgend etwas schenken könnten, was ihm Spaß macht! Weißt du nichts? Mir will gar nichts einfallen!“ „Das wird schwerhalten“, erwiderte der Mann; „er hat schon alles!“ Am nächsten Morgen jedoch kam er zu seiner Frau und sagte zu ihr: „Was meinst du, wenn ich dem Storch beim Tischler ein paar recht schöne Stelzen machen ließe? Er muß doch immer in den Sumpf, um Frösche zu fangen, und dann wieder in den großen Teich hinterm Dorf, aus dem er die kleinen Knaben herausholt. Da muß er doch sehr oft nasse Füße bekommen! Ich dächte auch, er hätte damals, als er zu uns kam, ganz heiser geklappert.“ „Das ist ein herrlicher Einfall!“ entgegenete die Frau. „Aber der Tischler muß die Stelzen recht schön rot lackieren, damit sie zu seinem Schnabel passen!“ „So?“ sagte der Mann; „meinst du wirklich rot? Ich hatte an Grün gedacht.“ „Aber, bester Schatz!“ fiel die Frau ein, „wo denkst du hin? Ihr Männer wißt doch niemals, was zusammenpaßt und gut steht. Sie müssen unbedingt rot sein!“ Da nun der Mann sehr verständig war und stets auf seine Frau hörte, so bestellte er denn wirklich rote Stelzen, und als sie fertig waren, ging er an den Sumpf und brachte sie dem Storch. Und der Storch war sehr erfreut, probierte sie gleich und sagte: „Eigentlich war ich auf euch recht böse, weil ihr mich damals so lange habt warten lassen. Weil ihr aber so gute Leute seid und mir die schönen roten Stelzen schenkt, so will ich euch auch noch ein kleines Mädchen bringen. Heute über vier Wochen werde ich kommen. Daß ihr mir dann aber auch hübsch zu Hause seid, und expreß es erst noch einmal ansagen werde ich nun nicht. Den Weg kann ich mir sparen! – Hörst du?“ „Nein, nein!“ erwiderte der Mann. „Wir werden sicher zu Hause sein. Du sollst diesmal keinen Ärger davon haben.“ Als die vier Wochen um waren, kam richtig der Storch geflogen und brachte ein kleines Mädchen; das war noch hübscher als der kleine Junge, und war nun gerade das Pärchen voll. Auch blieben beide Kinder hübsch und gesund, und die Eltern auch, so daß es eine rechte Freude war. – Nun wohnte aber im Dorf noch ein reicher Bauer, der besaß ebenfalls nur einen Knaben, und der war noch dazu ziemlich garstig, und der Bauer wünschte sich auch noch ein Mädchen dazu. Als er vernahm, wie es die armen Leute angefangen, dachte er bei sich, es könne ihm gar nicht fehlen. Er ging sofort zum Tischler und bestellte ebenfalls ein paar Stelzen, viel schöner wie die, welche die armen Leute hatten anfertigen lassen. Oben und unten mit goldenen Knöpfen und in der Mitte grün, gelb und blau geringelt. Als sie fertig waren, sahen sie in der Tat ungewöhnlich schön aus. Darauf zog er sich seinen besten Rock an, nahm die Stelzen unter den Arm und ging hinaus an den Sumpf, wo er auch gleich den Storch fand. „Ganz gehorsamer Diener, Euer Gnaden!“ sagte er zu ihm und machte ein tiefes Kompliment. „Meinst du mich?“ fragte der Storch, der auf seinen schönen roten Stelzen behaglich im Wasser stand. „Ich bin so frei!“ erwiderte der Bauer. „Nun, was willst du?“ „Ich möchte gern ein kleines Mädchen haben, und da hat sich meine Frau erlaubt, Euer Gnaden ein kleines Geschenk zu schicken. Ein Paar ganz bescheidene Stelzen.“ „Da mach nur, daß du wieder nach Hause kommst!“ entgegnete der Storch, indem er sich auf einem Bein umdrehte und den Bauer gar nicht wieder ansah. „Ein kleines Mädchen kannst du nicht bekommen; und deine Stelzen brauche ich auch nicht! Ich habe schon zwei sehr schöne rote, und da ich meist nur eine auf einmal benutze, so werden sie wohl sehr lange vorhalten. – Außerdem sind ja deine Stelzen ganz abscheulich häßlich. Pfui! blau, grün und gelb geringelt wie ein Hanswurst! Mit denen dürfte ich ja der Frau Storchen gar nicht unter die Augen kommen.“ Da mußte der Bauer mit seinen schönen Stelzen abziehen, und ein kleines Mädchen hat er sein Lebtag nicht bekommen.

Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen

Es gibt Menschen mit gläsernen Herzen. Wenn man leise daran rührt, klingen sie so fein wie silberne Glocken. Stößt man jedoch derb daran, so gehen sie entzwei. Da war nun auch ein Königspaar, das besaß drei Töchter, und alle drei hatten gläserne Herzen. „Kinder“, sagte die Königin, „nehmt euch mit euren Herzen in acht, sie sind eine zerbrechliche Ware!“ Und sie taten es auch. Eins Tages jedoch lehnte sich die älteste Schwester zum Fenster hinaus über die Brüstung und sah hinab in den Garten, wie die Bienen und Schmetterlinge um die Levkojen flogen. Dabei drückte sie sich ihr Herz: kling! ging es, wie wenn etwas zerspringt, und sie fiel hin und war tot. Wieder nach einiger Zeit trank die zweite Tochter eine Tasse zu heißen Kaffee. Da gab es abermals einen Klang, wie wenn ein Glas springt, nur etwas feiner wie das erstemal, und auch sie fiel um. Da hob sie ihre Mutter auf und besah sie, merkte aber bald zu ihrer Freude, daß sie nicht tot war, sondern daß ihr Herz nur einen Sprung bekommen hatte, jedoch noch hielt. „Was sollen wir nun mit unserer Tochter anfangen?“ ratschlagten der König und die Königin. „Sie hate einen Sprung im Herzen, und wenn er auch nur fein ist, so wird es doch leicht ganz entzweigehen. Wir müssen sie sehr in acht nehmen.“ Aber die Prinzessin sagte: „Laßt mich nur! Manchmal hält das, was einen Sprung bekommen hat, nachher gerade noch recht lange!“ – Indessen war die jüngste Königstochter auch groß geworden und so schön, gut und verständig, daß von allen Seiten Königssöhne herbeiströmten und um sie freiten. Doch der alte König war durch Schaden klug geworden und sagte: „Ich habe nur noch eine ganze Tochter, und auch die hat ein gläsernes Herz. Soll ich sie jemandem geben, so muß es ein König sein, der zugleich Glaser ist und mit so zerbrechlicher Ware umzugehen versteht.“ Allein es war unter den vielen Freiern nicht einer, der sich gleichzeitig auf die Glaserei gelegt hätte, und so mußten sie alle wieder abziehen. – Da war nun unter den Edelknaben im Schloß des Königs einer, der war beinahe fertig. Wenn er noch dreimal der jüngsten Königstochter die Schleppe getragen hatte, so war er Edelmann. Dann gratulierte ihm der König und sagte ihm: „Du bist nun fertig und Edelmann. Ich danke dir. Du kannst gehen.“ Als er nun das erstemal der Prinzessin die Schleppe trug, sah er, daß sie einen ganz königlichen Gang hatte. Als er sie ihr das zweitemal trug, sagte die Prinzessin: „Laß einmal einen Augenblick die Schleppe los, gib mir deine Hand und führe mich die Treppe hinauf, aber fein zierlich, wie es sich für einen Edelknaben, der eine Königstochter führt, schickt.“ Als er dies tat, sah er, daß sie auch eine ganz königliche Hand hatte. Sie aber merkte auch etwas; was es aber war, will ich erst nachher sagen. Endlich, als er ihr das drittemal die Schleppe trug, drehte sich die Königstochter um und sagte zu ihm: „Wie reizend du mir meine Schleppe trägst! So reizend hat sie mir noch keiner getragen.“ Da merkte der Edelknabe, daß sie auch eine ganz königliche Sprache führte. Damit war er nun aber fertig und Edelmann. Der König dankte und gratulierte ihm und sagte, er könne nun gehen. Als er ging, stand die Königstochter an der Gartentüre und sprach zu ihm: „Du hast mir so reizend die Schleppe getragen wie kein anderer. Wenn du doch Glaser und König wärst!“ Darauf antwortete er, er wolle sich alle Mühe geben, es zu werden; sie möge nur auf ihn warten, er käme gewiß wieder. Er ging also zu einem Glaser und fragte ihn, ob er nicht einen Glaserjungen gebrauchen könne. „Jawohl“, erwiderte dieser, „aber du mußt vier Jahre bei mir lernen. Im ersten Jahr lernst du die Semmeln vom Bäcker holen und die Kinder waschen, kämmen und anziehen. Im zweiten lernst du die Ritzen mit Kitt verschmieren, im dritten Glas schneiden und einsetzen, und im vierten wirst du Meister.“ Darauf fragte er den Glaser, ob er nicht von hinten anfangen könne, weil es dann doch schneller ging. Indes der Glaser bedeutete ihm, daß ein ordentlicher Glaser immer von vorn anfangen müsse, sonst würde nichts Gescheites daraus. Damit gab er sich zufrieden. Im ersten Jahre holte er also die Semmeln vom Bäcker, wusch und kämmte die Kinder und zog sie an. Im zweiten verschmierte er die Ritzen mit Kitt, im dritten lernte er Glas schneiden und einsetzen, und im vierten Jahre wurde er Meister. Darauf zog er sich wieder seine Edelmannskleider an, nahm Abschied von seinem Lehrherrn und überlegte sich, wie er es anfinge, um nun auch noch König zu werden. Während er so auf der Straße, ganz in Gedanken versunken, einherging und aufs Pflaster sah, trat ein Mann an ihn heran und fragte, ob er etwas verloren habe, daß er immer so auf die Erde sähe. Da erwiderte er: verloren habe er zwar nichts, aber suchen täte er doch etwas, nämlich ein Königreich; und fragte ihn, ob er nicht wisse, was er zu beginnen habe, um König zu werden. „Wenn du ein Glaser wärst“, sagte der Mann, „wüßte ich schon Rat.“ „Ich bin ja gerade ein Glaser!“ antwortete er, „und eben fertig geworden!“ Als er dies gesagt, erzählte ihm der Mann die Geschichte von den drei Schwestern mit den gläsernen Herzen, und wie der alte König durchaus seine Tochter nur einem Glaser vermählen wolle. „Anfangs“, so sprach er, „war noch die Bedingung, daß der Glaser, der sie bekäme, auch noch ein König oder ein Königssohn sein müsse; weil sich aber keiner finden will, der alles beides ist, Glaser und König zugleich, so hat er etwas nachgegeben, wie es der Klügste immer tun muß, und zwei andere Bedingungen gestellt. Glaser muß er freilich immer noch sein, dabei bleibt es!“ „Welches sind denn die beiden Bedingungen?“ fragte der junge Edelmann. „Er muß der Prinzessin gefallen und Samtpatschen haben. Kommt nun ein Glaser, welcher der Prinzessin gefällt und auch Samtpatschen hat, so will ihm der König seine Tochter geben und ihn später, wenn er tot ist, zum König machen. Es sind nun auch schon eine Menge Glaser auf dem Schloß gewesen, aber der Prinzessin wollte keiner gefallen. Außerdem hatten sie auch alle keine Samtpatschen, sondern grobe Hände, wie das von gewöhnlichen Glasern nicht anders zu erwarten ist.“ Als dies der junge Edelmann vernommen, ging er in das Schloß, entdeckte sich dem König, erinnerte ihn daran, wie er bei ihm Edelknabe gewesen sei, und erzählte ihm, daß er seiner Tochter zuliebe Glaser geworden und sie nun gar gern heiraten und nach seinem Tode König werden wolle. Da ließ der König die Prinzessin rufen und fragte sie, ob der junge Edelmann ihr gefiele, und als sie dies bejahte, weil sie ihn gleich erkannte, sagte er dann weiter, er solle nun auch seine Handschuhe ausziehen und zeigen, ob er auch Samtpatschen habe. Aber die Prinzessin meinte, dies sei unnötig, sie wisse es ganz genau, daß er wirklich Samtpatschen habe. Sie hätte es schon damals gemerkt, als er sie die Treppe hinaufgeführt hätte. So waren denn beide Bedingungen erfüllt, und da die Prinzessin einen Glaser zum Mann bekam und noch dazu einen mit Samtpatschen, so nahm er ihr Herz sehr in acht, und es hielt bis an ihr seliges Ende. Die zweite Schwester aber, welche schon den Sprung hatte, wurde die Tante, und zwar die allerbeste Tante der Welt. Dies versicherten nicht bloß die Kinder, welche der junge Edelmann und die Prinzessin zusammen bekamen, sondern auch alle anderen Leute. Die kleinen Prinzessinnen lehrte sie lesen, beten und Puppenkleider machen; den Prinzen aber besah sie die Zensuren. Wer eine gute Zensur hatte, wurde sehr gelobt und bekam etwas geschenkt; hatte aber einmal einer eine schlechte Zensur, dann gab sie ihm einen Katzenkopf und sprach: „Sage einmal, sauberer Prinz, was du dir eigentlich vorstellst? Was willst du später einmal werden? Heraus mit der Sprache! Nun, wird‘s bald?“ Und wenn er dann schnuckste und sagte: „Kö-Kö-Kö-König!“ lachte sie und fragte: „König! Wohl König Midas? König Midas Hochgeboren mit zwei langen Eselsohren!“ Dann schämte sich der, welcher die schlechte Zensur bekommen hatte, gewaltig. Und auch diese zweite Prinzessin wurde steinalt, obwohl ihr Herz einen Sprung hatte. Wenn sich jemand darüber wunderte, sagte sie regelmäßig: „Was in der Jugend einen Sprung kriegt und geht nicht gleich entzwei, das hält nachher oft gerade noch recht lange.“ – Und das ist auch wahr. Denn meine Mutter hat auch so ein altes Sahnetöpfchen, weiß, mit kleinen bunten Blumensträußchen besät, das hat einen Sprung, solange ich denken kann, und hält immer noch; und seit es meine Mutter hat, sind schon so viele neue Sahnetöpfchen gekauft und immer wieder zerbrochen worden, daß man sie gar nicht zählen kann.

Die Traumbuche

Hundert Jahre oder mehr ist’s wohl her, daß der Blitz in sie einschlug und sie von oben bis unten auseinanderspellte, und ebensolange schon geht der Pflug über die Stätte; früher aber stand einige hundert Schritte vor dem ersten Hause des Dorfes auf dem grünen Rasenhügel eine alte mächtige Buche; so ein Baum, wie jetzt gar keine mehr wachsen, weil Tiere und Menschen, Pflanzen und Bäume immer kleiner und erbärmlicher werden. Die Bauern sagten, sie stamme noch aus der Heidenzeit und ein heiliger Apostel sei unter ihr von den falschen Heiden erschlagen worden. Da hätten die Wurzeln des Baumes Apostelblut getrunken, und wie es ihm in den Stamm und in die Äste gefahren, sei er davon so groß und kräftig geworden. Wer weiß, ob’s wahr ist? Eine eigene Bewandtnis aber hatte es mit dem Baum; das wußte jeder, klein und groβ im Dorf. Wer unter ihm einschlief und träumte, des Traum ging unabweislich in Erfüllung. Deshalb hieß er schon seit undenklichen Zeiten die Traumbuche, und niemand nannte ihn anders. Eine besondere Bedingung war jedoch dabei: wer sich zum Schlaf legte unter die Traumbuche, durfte nicht daran denken, was er wohl träumen würde. Tat er es doch, so träumte er nichts wie Krimskrams und verworrenes Zeug, aus dem kein vernünftiger Mensch klug werden konnte. Das war nun allerdings eine sehr schwere Bedingung, weil die meisten Menschen viel zu neugierig sind, und so mißlang es denn auch den allermeisten, die es versuchten; und zu der Zeit, wo die folgende Geschichte sich zutrug, war im Dorf wohl kein einziger, weder Mann noch Weib, dem’s auch nur ein einziges Mal gelungen wäre. Aber seine Richtigkeit hatte es mit der Traumbuche, das war sicher. – Eines heißen Sommertages also, da kein Lüftchen sich regte, kam auch einmal ein armer Handwerksbursche die Straße daher gewandert, dem war es in der Fremde viele Jahre hindurch weh und übel gegangen. Als er vor dem Dorfe anlangte, drehte er zum Überfluß noch einmal alle seine Taschen um, doch sie waren sämtlich leer. Was fängst du an? dachte er bei sich. Todmüde bist du; umsonst nimmt dich kein Wirt auf, und das Fechten ist ein beschwerliches Handwerk. Da erblickte er die herrliche Buche mit dem grünen Rasenhügel davor; und da sie nur wenige Schritte abseits vom Wege stand, legte er sich unter sie ins Gras, um etwas auszuruhen. Doch der Baum hatte ein seltsames Rauschen, und wie er seine Zweige leise bewegte, ließ er bald hier, bald da einen feinen glitzernden Sonnenstrahl durchfallen und bald hier, bald da ein Stückchen blauen Himmel durchscheinen: da fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein. Als er eingeschlafen war, warf die Buche einen Zweig mit drei Blättern herab, der fiel ihm gerade auf die Brust. Da träumte er, er säße in einer gar heimlichen Stube am Tisch, und der Tisch wäre sein, und die Stube auch, und ebenso das Haus. Und vor dem Tisch stände eine junge Frau, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sähe ihn gar freundlich an, und das wäre seine Frau. Und auf seinen Knien säße ein Kind, dem fütterte er seinen Brei, und weil er zu heiß wäre, bliese er immer auf den Löffel. Und da sagte die Frau: „Was du doch für eine gute Kindermuhme bist, Schatz!“ und lachte darüber. In der Stube aber spränge noch ein anderes Kind herum, ein dicker, pausbäckiger Junge, und er hätte an eine große Mohrrübe einen Bindfaden gebunden und zöge sie hinter sich her und riefe immer hü und hott, als wär’s der beste Fuchs. Und alle beide Kinder wären ebenfalls sein. So träumte er; und der Traum mußte ihm wohl sehr gefallen, denn er lachte im Schlaf übers ganze Gesicht. Als er aufwachte, war es schon fast Abend geworden, und vor ihm stand der Schäfer mit seinen Schafen und strickte. Da sprang er erquickt auf, dehnte und reckte sich und sagte: „Lieber Himmel, wem’s so wüchse! Es ist aber doch hübsch, daß man nun wenigstens weiß, wie’s ist.“ Da trat der Schäfer an ihn heran und fragte ihn, woher er käme und wohin er wollte und ob er schon etwas von dem Baume gehört habe. Nachdem er sich überzeugt, daß er so unschuldig war wie ein neugeborenes Kind, rief er aus: „Ihr seid ein Glückspilz! Denn daß Ihr etwas Gutes geträumt habt, war ja doch auf Euerem Gesicht zu lesen; habe ich Euch doch schon lange betrachtet, wie Ihr so dalagt!“ Darauf erzählte er ihm, was es für eine Bewandtnis mit dem Baume habe: „Was Ihr geträumt habt, geht in Erfüllung; das ist so sicher als wie, daß das hier ein Schaf und das dort ein Bock ist. Fragt nur die Leute im Dorf, ob ich nicht recht habe! Nun sagt aber auch einmal, was Ihr geträumt habt!“ „Alterchen“, erwiderte der Handwerksbursche schmunzelnd, „so fragt man die Bauern aus. Meinen schönen Traum behalte ich für mich; das könnt Ihr mir nun schon gar nicht verdenken. Aber daraus werden tut doch nichts!“ Und das sagte er nicht bloß so, sondern es war sein Ernst; denn als er nun auf das Dorf zuging, sprach er vor sich hin: „Papperlapapp, Schäferschnack! Möchte wohl wissen, wo der Baum die Wissenschaft herhaben sollte.“ Als er in das Dorf kam, ragte am dritten Haus vom Giebel eine lange Stange heraus, an der hing eine goldene Krone, und unten vor der Haustüre stand der Kronenwirt. Der war gerade sehr guter Laune, denn er hatte schon zur Nacht gegessen und war rundherum satt, und das war sein beste Stunde. Da zog er höflich den Hut und fragte, ob er ihn nicht um einen Gotteslohn zur Nacht behalten wolle. Der Kronenwirt besah sich den schmucken Burschen in seinen staubigen, abgerissenen Kleidern von oben bis unten. Dann nickte er freundlich und sagte: „Setz dich nur gleich hier in die Laube neben die Tür; es wird wohl noch ein Stück Brot und ein Krug Wein übriggeblieben sein. Unterdessen können sie dir eine Streu machen.“ Darauf ging er hinein und schickte seine Tochter, die brachte Brot und Wein, setzte sich zu ihm und ließ sich erzählen, wie es in der Fremde aussähe. Dann erzählte sie ihm auch wieder alles, was sie wußte, aus dem Dorf: wie der Weizen stände, und daß des Nachbars Frau Zwillinge bekommen hätte, und wann das nächste Mal in der Krone zu Tanz gespielt würde. Auf einmal aber stand sie auf, bog sich zu dem Handwerksburschen über den Tisch hinüber und sagte: „Was hast du denn da für drei Blätter am Latz?“ Da sah der Handwerksbursche hin und fand den Zweig mit den drei Blättern, der während des Schlafes auf ihn herabgefallen war. Er stak ihm gerade im Latz. „Die müssen von der großen Buche dicht vorm Dorfe sein“, erwiderte er, „unter der ich einen kleinen Nick gemacht habe.“ Da horchte das Mädchen neugierig auf und wartete, was er wohl weiter sagen würde. Als er schwieg, begann sie ihn gar vorsichtig auszukundschaften, bis sie sicher war, daß er wirklich unter der Traumbuche geschlafen; und dann ging sie so lange wie die Katze um den heißen Brei, bis sie sich überzeugt zu haben glaubte, daß er nichts von der sonderbaren Kraft und Eigenschaft der Traumbuche wisse; denn er war ein Schalk und tat so, als wüßte er gar nichts. Als sie auch damit fertig war, holte sie noch einen Krug Wein, sprach ihm freundlich zu, daß er noch trinken möge, und erzählte ihm alles Mögliche, was sie geträumt hätte und wie es doch gar schade wäre, daß nie etwas in Erfüllung ginge. Indem kam der Schäfer vom Felde zurück und trieb die Schafe durch die Dorfstraße. Als er an der Krone vorbeikam und das Mädchen mit dem Handwerksburschen in eifrigem Gespräch in der Laube sitzen sah, blieb er einen Augenblick stehen und sagte: „Ja, ja, Euch wird er schon den hübschen Traum erzählen; mir will er nichts sagen!“ Darauf trieb er seine Schafe weiter. Da ward das Mädchen noch neugieriger, und wie er immer noch nichts von seinem Traume sagte, konnte sie es nicht mehr verwinden und fragte ihn ganz offen, was er denn, während er unter der Buche geschlafen, geträumt habe. Da machte der Handwerksbursche, der ein arger Schalk und durch den schönen Traum übermütig fröhlich gestimmte war, ein schlaues Gesicht, zwinkerte mit den Augen und sagte: „Einen herrlichen Traum habe ich gehabt, das muß wahr sein; aber ich getraue mich nicht zu sagen, wie er war.“ Aber sie drang immer weiter in ihn und quälte, er möchte es doch sagen. Da rückte er ganz nahe an sie heran und sagte ernsthaft: „Denkt nur, mir hat geträumt, ich würde noch einmal des Kronenwirts Töchterlein heiraten und später selbst Kronenwirt werden!“ Da wurde das Mädchen erst kreideweiß und dann purpurrot und ging ins Haus. Nach einer Weile kam sie wieder und fragte, ob er das wirklich geträumt habe und es sein Ernst sei. „Gewiß, gewiß“, sagte er, „gerade wie Ihr sah die aus, die mir im Traum erschienen ist!“ Da ging das Mädchen abermals ins Haus und kam nicht wieder. Sie ging in ihre Kammer, und die Gedanken liefen ihr übers Herz wie Wasser übers Wehr: immer neue und immer andere, und immer wieder dieselben, so, daß es gar kein Ende hatte. „Er weiß nichts von dem Baume“, sagte sie. „Er hat’s geträumt. Ich mag wollen oder nicht, es wird schon so kommen. Es ist nichts daran zu ändern.“ Darauf legte sie sich zu Bett, und die ganze Nacht träumte sie von dem Handwerksburschen. Als sie am anderen Morgen aufwachte, kannte sie sein Gesicht ganz auswendg, so oft hatte sie es über Nacht im Traum gesehen – und ein schmucker Bursche war’s, das ist wahr. Der Handwerksbursche aber hatte auf seiner Streu wundervoll geschlafen; Traumbuche, Traum und was er am Abend zu der Wirtstochter gesagt, längst vergessen. Er stand in der Wirtsstube an der Tür und wollte eben dem Kronenwirt die Hand reichen zum Abschied. Da trat sie herein, und wie sie ihn reisefertig dastehen sah, überfiel sie eine sonderbare Angst, als dürfe sie ihn nicht fortlassen. „Vater“, sagte sie, „der Wein ist immer noch nicht gezapft, und der junge Bursch hat nichts zu tun; könnte er einen Tag hierbleiben, so möchte er sich seine Zeche verdienen und ein Stückchen Reisegeld obendrein.“ Und der Kronenwirt hatte nichts dagegen, denn er hatte schon seinen Morgentrunk gemacht und gefrühstückt und war so satt, so daß es seine beste Stunde war. Doch das Zapfen ging sehr langsam, und das Mädchen hatte immer dies oder jenes, weshalb der Handwerksbursche einmal aus dem Keller heraufgeholt werden mußte. Als das Faß endlich leer und die Flaschen gefüllt waren, meinte sie, es wäre doch ganz gut, wenn er erst noch etwas im Feld hülfe; und als er damit auch fertig war, fand sich noch mancherlei im Garten zu tun, woran vorher niemand gedacht hatte. So verging Woche um Woche, und jedwede Nacht träumte sie von ihm. Am Abend aber saß sie mit ihm in der Laube vor dem Haus, und wenn er erzählte, wie es ihm weh und übel unter den fremden Leuten ergangen sei, kam ihr immer eine Schnake ins Auge oder ein Haar, so daß sie sich die Augen mit der Schürze reiben mußte. Und nach einem Jahr war der Handwerksbursche immer noch im Hause; und alles war gescheuert, weißer Sand in allen Zimmern gestreut und darauf kleine grüne Tannenzweige, und das ganze Dorf hielt Feiertag. Denn der junge Handwerksbursch hielt Hochzeit mit dem Kronenwirtskind, und alle Leute freuten sich; und wer sich nciht freute, weil er ein Neidhammel war, der tat wenigstens so. Bald darauf hatte der Kronenwirt auch wieder einmal seine beste Stunde, weil er nämlich rundherum satt war, und saß, die Tabaksdose auf dem Schoß, im Lehnstuhl und schlief. Als er gar nicht wieder erwachte, wollten sie ihn wecken; da war er tot – mausetot. Da war nun der junge Handwerksbursch wirklich Kronenwirt, wie er es im Scherze gesagt, und sonst traf alles ein, wie er es unter der Buche geträumt. Denn sehr bald hatte er auch zwei Kinder, und wahrscheinlich nahm er auch einmal das eine von ihnen auf den Schoß und fütterte es und blies dabei auf den Löffel, und sicher fuhr gleichzeitig der andere Knabe mit der Mohrrübe im Zimmer umher, obwohl der, von dem ich diese Geschichte weiß, mir es nicht gesagthat und ich es selbst vergessen habe, ihn expreß danach zu fragen. Aber es wird schon so gewesen sein, weil das, was man unter der Traumbuche träumte, stets aufs Haar eintraf. Eines Tages nun, es mochten wohl an die vier Jahre seit der Hochzeit verflossen sein, saß der junge Kronenwirt – denn das war er ja jetzt – auch einmal in der Wirtsstube. Da kam sene Frau herein, stellte sich vor ihn hin und sagte: „Denke dir, gestern unter Mittag ist einer von unsern Mähern unter der Traumbuche eingeschlafen und hat nicht daran gedacht. Weißt du, was er geträumt hat? Er hat geträumt, er wäre steinreich. Und wer ist’s? Der alte Kaspar, der so dumm ist, daß er einen dauert, und den wir nur aus Mitleid behalten. Was der wohl mit dem vielen Gelde anfangen wird?“ Da lachte der Mann und sagte: „Wie kannst du nur an das dumme Zeug glauben und bist sonst eine so kluge Frau? Überlege dir doch selbst, ob ein Baum, und wenn er noch so schön und alt ist, die Zukunft wissen kann.“ Da sah die Frau ihren Mann mit großen Augen an, schüttelte den Kopf und sprach ernsthaft: „Mann, versündige dich nicht! Über solche Dinge soll man nicht scherzen.“ „Ich scherze nicht, Frau!“ erwiderte der Mann. Darauf schwieg die Frau wieder eine Weile, als wenn sie ihn nicht recht verstünde, und sagte dann: „Wozu das nur alles ist! Ich dächte, du hättest alle Ursache, dem alten heiligen Baume dankbar zu sein. Ist nicht alles so eingetroffen, wie du es geträumt?“ Als sie dies gesagt, machte der Mann das freundlichste Gesicht der Welt und entgegnete: „Gott weiß es, daß ich dankbar bin, Gott und dir. Ja, ein schöner Traum war’s! Ist mir’s doch, als wenn es erst gestern gewesen wäre, so genau erinnere ich mich noch daran. Und doch ist alles noch tausendmal schöner geworden, als ich es geträumt; und du bist auch noch tausendmal lieber und hübscher als die junge Frau, die mir damals im Traume erschienen war.“ Und die Frau sah ihn wieder mit großen Augen an; darauf fuhr er fort: „Was nun aber den Baum anbelangt und den Traum, Herzensschatz, so denke ich: wer gern tanzt, dem ist leicht gepfiffen; und: wie man in den Wald schreit, so schallt es wieder heraus. War es mir die vielen Jahre weh und übel gegangen, so war’s wohl kein Wunder, wenn ich auch einmal von was Liebem träumte.“ „Daß du aber gerade geträumt hast, du würdest mich heiraten!“ „Das hab‘ ich nie geträumt! Bloß eine junge Frau sah ich mit zwei Kindern, und sie war lange nicht so hübsch wie du und die Kinder auch nicht.“ „Pfui“, erwiderte die Frau. „Willst du mich verleugnen oder den Baum? Hast du mir nicht am ersten Tag, wo wir uns sahen – es war schon Abend und draußen in der Laube –, hast du mir da nicht gleich gesagt, du hättest geträumt, du würdest mich heiraten und Kronenwirt werden?“ Da fiel dem Manne zum ersten Male wieder der Schwerz ein, den er sich damals mit seiner jetzigen Frau erlaubt hatte, und er sagte: „Es kann nichts helfen, liebe Frau! Ich habe wirklich damals nicht von dir geträumt; und wenn ich es gesagt, so war es nur ein Scherz. Du warst so neugierig; da wollte ich dich necken!“ Da brach die Frau in heftiges Weinen aus und ging hinaus. Nach einer Weile ging er ihr nach. Sie stand im Hof am Brunnen und weinte immer noch. Er versuchte sie zu trösten, doch vergeblich. „Du hast mir meine Liebe gestohlen und mich um mein Herz betrogen!“ sagte sie. „Ich wede nie wieder froh werden!“ Da fragte er sie, ob sie ihn denn nicht liebhätte, so lieb wie keinen andern Menschen auf der Welt, und ob sie nicht zufrieden und glücklich miteinander gelebt hätten wie niemand weiter im Dorf. Sie mußte alles zugeben, aber sie blieb traurig wie zuvor, trotz allem Zureden. Da dachte er: Laß sie ausweinen! Über Nacht kommen andere Gedanken; morgen ist sie die alte. Doch er täuschte sich; denn am andern Morgen weinte die Frau zwar nicht mehr, aber sie war ernst und traurig und ging ihrem Mann aus dem Wege. Jeder Versuch, sie zu trösten, scheiterte wie am Abend zuvor. Den größten Teil des Tages saß sie in einer Ecke und grübelte, und wenn ihr Mann hereintrat, schrak sie zusammen. Als dies mehrere Tage gedauert, ohne daß eine Änderung eintrat, befiel auch ihn eine große Traurigkeit; denn er fürchtete, er hätte die Liebe seiner Frau auf immer verloren. Er ging still im Hause umher und sann auf Abhilfe, doch es wollte ihm nichts einfallen. Da ging er eines Mittags zum Dorfe hinaus und schlenderte durchs Feld. Es war ein heißer Julitag; keine Wolke am Himmel. Die reife Saat wogte wie ein goldner See, und die Vögel sangen; doch sein Herz war voller Bekümmernis. Da sah er von fern die alte Traumbuche stehen: wie eine Königin der Bäume ragte sie hoch in den Himmel hinein. Es kam ihm vor, als wenn sie ihm mit ihren grünen Zweigen zuwinkte und wie eine alte Freundin zu sich riefe. Er ging hin und setzte sich unter sie und dachte an die vergangene Zeit. Fünf Jahre waren ziemlich genau verflossen, seit er als ein armer Teufel zum ersten Male unter ihr geruht und so schön geträumt hatte. Ach so wunderschön! Und der Traum hatte fünf Jahre gedauert. – Und nun? Alles vorbei! Alles vorbei? Auf immer? – Da fing die Buche wieder zu rauschen an, wie vor fünf Jahren, und bewegte ihre mächtigen Zweige. Und wie sie dieselben bewegte, ließ sie wie damals bald hier, bald dort einen feinen glitzernden Sonnenstrahl durchfallen und bald hier, bald da ein Stückchen blauen Himmel durchscheinen. Da wurde sein Herz stiller, und er schlief ein; denn er hatte vor Sorge die vorhergehenden Nächte nicht geschlafen. Und nicht lange, so träumte er denselben Traum wie vor fünf Jahren, und die Frau am Tisch und die spielenden Kinder hatten die alten, lieben Gesichter von seiner Frau und von seinen Kindern. Und die Frau sah ihn so freundlich an – ach, so freundlich. Da wachte er auf, und als er sah, daß es nur ein Traum war, ward er noch trauriger. Er brach sich einen grünen Zweig ab von der Buche, ging nach Haus und legte ihn ins Gesangbuch. Als die Frau am nächsten Tage – es war gerade Sonntag – in die Kirche gehen wollte, fiel der Zweig heraus. Da wurde der Mann, der danebenstand, rot, bückte sich und wollte ihn in die Tasche stecken. Doch die Frau sah es und fragte, was es für ein Blatt sein. „Es ist von der Traumbuche; sie meint es besser mit mir wie du!“ erwiderte der Mann. „Denn als ich gestern draußen war und unter ihr saß, schlief ich ein. Da wollte sie mich wohl trösten; denn mir träumte, du wärest wieder gut und hättest alle vergessen. Aber es ist nicht wahr! Es ist nichts mit der alten guten Buche. Ein schöner herrlicher Baum ist sie schon, aber von der Zukunft weiß sie nichts.“ Da starrte ihn die Frau an, und dann ging es wie ein Sonnenschein über ihr Gesicht: „Mann, hast du das wirklich geträumt?“ „Ja!“ entgegnete er fest, und sie merkte, daß es die Wahrheit war; denn er zuckte mit dem Gesicht, weil er nicht weinen wollte. „Und ich war wirklich deine Frau?“ Als er auch dies bejahte, fiel ihm die Frau um den Hals und küßte ihn so oft, daß er sich ihrer gar nicht erwehren konnte. „Gelobt sei Gott“, sagte sie, „nun ist alles wieder gut! Ich habe dich ja so lieb –so lieb, wie du es gar nicht weißt! Und ich habe die Tage solche Angst gehabt, ob ich dich denn auch wirklich liebhaben dürfte, und ob mir nicht Gott eigentlich einen anderen Mann bestimmt hatte. Denn mein Herz gestohlen hast du mir doch, du böser Mann, und ein bißchen Betrug war doch dabei! – Ja, gestohlen hast du mir’s; aber nun weiß ich doch, daß es dir nichts geholfen hat und daß es auch ohnedem so gekommen wäre.“ Darauf schwieg sie eine Weile und fuhr dann fort: „Nicht wahr, du sprichst nie wieder schlecht von der Traumbuche?“ „Nein, niemals; denn ich glaube an sie; vielleicht etwas anders wie du, aber darum doch nicht weniger fest. Verlaß dich darauf! Und den Zweig wollen wir vorn ins Gesangbuch heften, damit er nicht verlorengeht.“

Heino im Sumpf

„Unser Sohn ist ein großer Jäger“, sagte der alte König. „Er reitet alle Tage mit der Armbrust in den Wald. Aber er bringt nie ein Wild zurück, soviel er auch erlegt; denn er schenkt alles, was er schießt, den armen Leuten. Es ist ein sehr guter Mensch!“ So sagte der alte König zur Königin. Doch die Rehe im Walde dachten etwas ganz anderes. Sie hatten gar keine Furcht vor Heino; denn sie kannten ihn schon lange und wußten, daß er ihnen nichts zuleide tat. Er ritt ja immer nur durch den Wald hindurch bis an das Waldende; und am Waldende stand ein kleines Häuschen, fasz ganz zugedeckt von Bäumen und Gesträuch, und Fenster und Haustüre fast ganz zugewachsen von Efeu und Geißblatt. Vor der Tür aber stand Blauäuglein, und wenn sie den Königssohn kommen sah, leuchteten ihre großen blauen Augen vor Freude wie zwei Sterne und beschienen ihr ganzes Gesicht. – Doch Heino brachte immer und immer kein Wild nach Hause und wollte stets allein reiten; und wenn sein Vater mit ihm ritt, traf er nichts. Da merkte der alte König wohl, daß es etwas Besonderes mit dem Jagen sein müsse. Er ließ einen Diener heimlich Heino nachschleichen, und der erzählte ihm alles. Da fuhr es ihm in die Krone, und er ward sehr zornig; denn Heino war sein einziger Sohn, und er gedachte ihn mit der Tochter eines mächtigen Königs zu vermählen. Er rief daher zwei Jägerknechte, zeigte ihnen einen Klumpen Goldes, so groß wie ein Kopf, und versprach, ihnen denselben zu schenken, wenn sie Blauäuglein umbringen würde. Aber Blauäuglein hatte eine schneeweiße Taube, die saß jeden Tag auf dem höchsten Baume im Walde und sah nach dem Schloß. Wenn Heino zu Pferde stieg, um zu Blauäuglein zu reiten, flog sie schnell voran, schlug mit den Flügeln gegen das Fenster und rief: „Es rascheln die Zweiglein,
Es kommt was geschritten,
Herzliebstes Blauäuglein,
Es kommt was geritten!“ Dann stellte sich Blauäuglein vor die Haustüre und wartete, bis Heino kam. Als nun die weiße Taube die beiden Jägerknechte gegen Abend nach dem Walde schleichen sah, ahnte ihr nichts Gutes. Sie flog eilends zum Schloß an Heinos Fenster, schlug gegen die Scheiben, bis er kam und ihr aufmachte, und sagte ihm alles, was sie gesehen hatte. Da stürzte er atemlos in den Wald, und als er bei dem kleinen Häuschen ankam, hatten schon die Jägerknechte Blauäuglein gebunden und ratschlagten, wie sie es töten sollten. Da schlug er ihnen die beiden Häupter ab, trug sie nach Haus und setzte sie seinem Vater vor die Kammer auf die Schwelle. Der alte König aber konnte die ganze Nacht nicht schlafen, sondern hörte fortwährend ein leises Wimmern und Stöhnen vor seiner Tür. Als der Morgen graute, stand er auf und sah nach, was es wäre. Da standen die beiden Köpfe der Jägerknechte auf der Schwelle, und zwischen beiden lag ein Brief von Heino, in dem stand geschrieben, daß er nichts mehr weder von Vater noch Mutter wissen wolle, und daß er sich jedwede Nacht vor Blauäugleins Haus auf die Schwelle legen würde mit dem nackten Schwert auf dem Schoß. Wer da käme, ihr ein Leid zu tun, dem schlüge er das Haupt ab, wie er es den beiden Jägerknechten getan, und wenn‘s der König selbst wäre. Als der alte König dies gelesen, ward er sehr betreten. Er ging zur Königin und erzählte ihr alles. Diese aber schalt ihn aus, daß er Blauäuglein habe wollen umbringen lassen, und sagte: „Du hast alles verdorben! Wer wid nur immer gleich alles totmachen wollen! Ihr Männer seid doch gar zu schlimm, einer wie der andere! Stets heißt es: biegen oder brechen. Da sind von dir heute sechs Hemden aus der Wäsche gekommen, da fehlen wieder an allen sechsne die Hemdkragenbänder. Wo sind sie hin? Abgerissen hast du sie wieder, weil du sie verknotet hast, anstatt sie mit Geduld aufzuknüpfen. Und Heino ist geradeso wie du. Nun soll ich‘s wieder gutmachen!“ „Schon gut, schon gut“, erwiderte der König, der wohl fühlte, daß die Königin recht hatte, „sei nur ruhig und höre auf zu schelten; davon wird‘s auch nicht besser.“ Und die Königin warf sich die Nacht über unaufhörlich im Bette hin und her und überlegte sich, was sie tun wolle. Soblad es hell ward, ging sie auf den Anger und grub ein Kraut heraus, das war giftig und hatte schwarze Beeren. Darauf ging sie in den Wald und pflanzte es gerade an den Weg. Als sie zurückkam, fragte sie der König, was sie gemacht habe. Da antwortete sie: „Ich habe ihm ein Kraut in den Weg gepflanzt, darauf wächst eine rote Blume; wer sie bricht, muß sein Liebstes vergessen.“ Am nächsten Morgen, als Heino durch den Wald ging, stand das Kraut am Wege und hatte eine schöne rote Blume getrieben, die funkelte in der Sonne und duftete so stark, daß ihm fast die Sinne vergingen. Aber obschon es über Nacht stark getaut hatte, so waren doch das Kraut sowohl als die Blume ganz trocken. Da sagte er: „Was ist das für ein Kraut,
Ein Kraut, worauf‘s nicht taut?“ Da antwortete die Blume: „Ein Kraut, das niemand find‘t,
Als nur ein Königskind!“ Darauf fragte er wieder: „Und wenn ich dich nun bräch‘,
Du Blum‘ an meinem Weg?“ und die Blume erwiderte: „So blüht‘ ich noch viel schöner,
Du stolzer Königssohn!“ Da konnte er sich nicht halten und pflückte die Blume; und als er das getan, hatte er sein Liebstes vergessen und ging zu seinen Eltern ins Schloß. Als ihn seine Mutter kommen sah, hatte er die rote Blume am Wams stecken. Da wußte sie, daß alles gelungen sei, und rief den König. Der ging seinem Sohne entgegen, brachte ihm einen goldenen Helm und eine goldene Rüstung und sprach: „Ich bin alt und schwach; geh in die Welt und sieh zu, wie‘s draußen aussieht. Wenn du nach zwei Jahren zurückkehrst, will ich dir das Königreich geben.“ Darauf wählte sich Heino dreißig Knappen aus, zog mit ihnen von einem Königreich in das andere und besah sich die Herrlichkeit der Welt. – Als aber Heino nicht wiederkam, merkte Blauäuglein wohl, daß er sie verlassen habe. Jeden Morgen schickte sie die weiße Taube aus, die mußte so lange in der Welt herumfliegen, bis sie Heino gefunden. Und jeden Abend kam die weiße Taube wieder und sagte Blauäuglein, wo Heino wäre und wie es ihm ging: „Was macht mein lieber Held,
Mein junges Königsblut?“ und die Taube antwortete: „Er fährt in alle Welt
Und hat gar stolzen Mut!“ „Hat er noch mein vergessen
Und denkt er nimmer mein?“ „Er hat dein noch vergessen,
Beim Trinken und beim Essen,
Bei Regen und Sonnenschein!“ Zwei Jahre waren schon vergangen, da kam die weiße Taube eines Abends auch wieder zurück und hatte einen Blutfleck am Flügel. Da fragte Blauäuglein: „Was macht mein lieber Held,
Mein junges Königsblut?“ Da sah sie den Blutfleck am Flügel und wurde sehr traurig. „Ist er tot?“ fragte sie. „Wollte Gott, wollte Gott,
Daß er wäre tot!“ gurrte die Taube. „Im Irrwischsumpf, da ist er ertrunken,
Im Irrwischsumpf, da ist er versunken.
Wo das Schilfgras wächst,
Da liegt er verhext,
Daß Gott erbarm‘, In der Irrwischkönigin weißem Arm!“ Da hieß Blauäuglein die weiße Taube sich auf ihre Schulter setzen, damit sie ihr den Weg wiese, und machte sich auf, Heino zu suchen. Nachdem sie drei Tage gewandert war, kam sie an den Irrwischsumpf, wo Heino verzaubert lag. Sie setzte sich still an den Weg und wartete, bis es Abend wurde. Als es dunkel ward, bezog sich der Himmel, und die Wolken jagten. Prasselnd schlug der Regen in das Erlen-gebüsch; und nicht lange, so sah sie fern im Sumpf die ersten blauen Flämmchen aufsteigen. Da schürzte sie sich ihre Röcke, stieg beherzt hinab in das Schilfgras und wanderte vorwärts, unverrückt nach den Irrlichtern schauend. Es war ein beschwerlicher Weg; denn sie sank bald bis über die Knöchel ein, der Wind peitschte ihr das Haar um die Schultern, daß sie stehenbleiben mußte, um es in einen großen Knoten im Nacken zusammenzuschürzen, und der Regen lief ihr über die Wangen. Aber der Sumpf wurde immer tiefer, und die blauen Flämmchen, welche in immer größerer Zahl an allen Orten hervorstiegen, schienen sie äffen zu wollen. Denn wenn es eine Zeitlang den Anschein gehabt, als wenn sie stillständen oder gar ihr entgegenkämen, so daß sie schon hoffte, sie bald zu erreichen, so schwebten sie doch bald wieder bis zur Mitte des Sumpfes zurück oder verlöschten plötzlich, um an einer entfernteren Stelle wieder aufzusteigen. Sie sank jetzt schon bis fast an die Knie ein und konnte nicht mehr wie zwei oder drei Schritte hintereinander tun, ohne sich auszuruhen. Da hörte das Unwetter auf, die schmale Mondsichel trat zwischen den Wolken heraus, und vor ihr, inmitten einer großen dunklen Lache, erhob sich das verzauberte Schloß der Irrwisch-königin. Weiße Stufen führten aus dem totstillen Wasser in eine große, offenstehende Halle, welche von vielen Säulen von blauem und grünen Kristall mit goldenen Knäufen getragen wurde, und in buntem Gewirr tanzten in dieser Halle eine unzählbare Menge von Irrlichtern um ein besonders hell flackerndes, hoch aus ihrer Mitte hervorschwebendes Flämmchen herum. Da lösten sich plötzlich aus dem Gewühl eine Anzahl Irrlichter ab und bildeten zwei Kreise, die wirbelnd aus der Halle hervorstürzten. Und während der eine von ihnen dicht vor den Stufen des Schlosses stehenblieb, näherte sich der andere rasch, und bald erkannte Blauäuglein zwölf blasse, aber wunderschöne Jungfrauen, welche auf der Stirn goldene Diademe trugen, an denen sich vorn kleine goldene Schalen erhoben, worin die blauen Flämmchen brannten. In wildem Tanze schwebten sie an Blauäuglein heran und umringten sie; und während aus dem Schlosse eine zauberische Musik erklang, sangen sie: „In den Reihn,
In den Reihn,
Holde Schwester, Blauäuglein, herein!
In dem Schloß,
In dem Schloß,
Da winkt dir ein süßer Genoß! Sieh, wie‘s blinkt!
Wie er winkt,
Wie er grüßt, wie er grüßend dir winkt!
Vergiß, was du liebtest auf Erden,
Der Unseren eine zu werden!“ Aber Blauäuglein sah die Geister mit ihren großen klaren Augen ruhig und unverwandt an und sagte: „Ihr habt keine Macht über mich! Ob ich wieder lebendig aus dem Sumpfe komme, weiß Gott im Himmel allein; wen ich aber auch sterben muß, so werdet ihr mich doch nicht in euere Gewalt bekommen!“ Da flohen die Jungfrauen nach allen Richtungen tief in den Sumpf zurück. Statt ihrer aber schwebte der zweite Kreis Irrlichter heran, der bis dahin vor den Stufen des Schlosses hin und her getanzt hatte. Das waren zwölf wunderschöne, aber totenblasse Knaben, ebenfalls mit blauen Flämmchen über den Stirnen. Sie bildeten einen Kreis um Blauäuglein und tanzten langsam um sie her, indem sie abwechselnd ihre weißen Arme hoch über ihre Häupter erhoben und rückwärts nach dem Schlosse zeigten. Und besonders einer von ihnen näherte sich immer wieder Blauäuglein, als wenn er sie umfassen wollte; und wie sie ihn genauer ansah, so war es Heino. Da zuckte es ihr durchs Herz, als wenn sie ein eiskaltes Schwert durchführe, und sie schrie laut: „Heino, Gott steh dir bei in deiner großen Not!“ Kaum hatte sie dies ausgerufen, so fuhr ein heftiger Windstoß über den Sumpf, und die Lichter der Irrwische verloschen. Die stille Fläche der Lache kräuselte sich, und schwarze Wellen schlugen an den weißen Stufen des Schlosses empor. Dann sank das Schloss lautlos in die Tiefe, und an seiner Stelle stsanden vier Pfähle von faulem Holz, die Überreste einer alten heidnischen Fischerhütte. Vor Blauäuglein aber, im tiefen Sumpf bis an den Gürtel einge-sunken, stand Heino, leibhaftig, wie er gewesen war, aber blaß und traurig. Die Haare hingen ihm wirr auf die Stirn, und Helm und Harnisch waren verrostet. „Bist du es, Blauäuglein?“ fragte er wehmütig. „Ja, Heino, ich bin‘s.“ „Laß mich“, erwiderte er, „ich bin ein verlorener Mann!“ Doch sie gab ihm die Hand und sprach ihm Mut ein; und er versuchte einige Schritte vorwärts zu kommen. Dann blieb er stehen und sagte: „Blauäuglein, ich versinke;
Blauäuglein, ich ertrinke!“ Doch sie hielt ihn nur fester und entgegnete: „Nein, Heino, du versinkst nicht!
Nein, Heino, du ertrinkst nicht!
Halt dich an mir nur fest,
So wirst du doch erlöst!“ So half sie ihm Schritt für Schritt vorwärts und immer wieder blieb er stehen und sprach: „Blauäuglein, ich versinke;
Blauäuglein, ich ertrinke!“ Umd immer wieder tröstete sie ihn und sagte: „Nein, Heino, du versinkst nicht!
Nein, Heino, du ertrinkst nicht!
Halt dich an mir nur fest,
So wirst du doch erlöst!“ Mit unsäglicher Mühe waren sie endlich so weit gekommen, daß sie von fern schon das Ende des Sumpfes und die Straße sahen. Da blieb Heino ganz stehen und rief: „Ich kann nicht weiter, Blauäuglein! Geh du allein zurück und grüß mein Mütterchen. Du kommst wohl heraus, denn du sinkst ja nicht tief ein; aber mir geht‘s fast bis ans Herz.“ Dabei wandte er sich um und blickte nach der Stätte zurück, wo das Schloß versunken war. „Sieh dich nicht um!“ rief Blauäuglein ängstlich. Aber sie hatte kaum Zeit gehabt, dies auszurufen, als auch schon von der Mitte des Sumpfes ein einzelnes blaues Flämmchen auf beide zugeschwebt kam. Es näherte sich rasch, und die Königin der Irrwische stand vor ihnen. Sie hatte einen Kranz von weißen Wasserrosen auf dem Haupte, und ihr Diadem war eine goldene Schlange, welche sich leise durch ihr Haar und um ihre Stirn bewegte. Mit ihren glühenden Augen schaute sie Heino an, als wollte sie ihm bis ins Herz sehen. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und bat flehend: „Komm zurück, Heino!“ Und er stand und sah sie an und schwankte unstet. Da riß Blauäuglein ihm das Schwert von der Seite und schwang es gegen die Irrwischkönigin. Doch die Irrwischkönigin lächelte und sprach: „Törichtes Kind, was willst du mir tun? Ich bin nicht von Fleisch und Blut.“ Und sie faßte Heino und zog ihn mit Gewalt an sich, daß ihre schwarzen Locken über sein Gesicht fielen. Da rief Blauäuglein in ihrer Herzensangst: „Und bist du nicht von Fleisch und Blut, du entsetzliches Weib, so ist es doch dieser hier, den ich aus deinen Händen erretten will!“ Und sie zückte das Schwert noch einmal mit aller Kraft, und wie die Irrwischkönigin noch einen Versuch machte, Heino, dessen rechte Hand sie erfaßt hatte, mit sich fortzureißen, rief sie: „Heino, es tut nicht weh!“ und schlug ihm mit einem Schlage den Arm dicht am Handgelenk ab. Da verlosch auch die Flamme auf dem Haupte der Königin, und sie selber zerrann wie ein Nebelbild; die weiße Taube aber, die bisher auf der Schulter von Blauäuglein gesessen, flog auf die Schulter Heinos. „Nun bist du erlöst, Heino!“ rief Blauäuglein, als sie dies sah. „Komm, es ist nicht mehr weit zur Straße; nimm deine letzten Kräfte zusammen. Sieh, du sinkst gar nicht mehr tief ein.“ Und sie gingen weiter, aber immer noch blieb Heino oft stehen und sprach: „Blauäuglein, mein Arm brennt sehr!“ Doch sie erwiderte: „Heino, mich schmerzt‘s noch mehr!“ Aber das letzte Stück mußte sie ihn fast tragen, und als er den letzten Schritt aus dem Sumpfe getan, sank er todmüde auf die Straße nieder und schlief ein. Da nahm sie ihren Schleier und verband ihm den Arm, so daß er aufhörte zu bluten. – Als sie sah, daß er still und ruhig schlief, zog sie sich den Ring, den er ihr geschenkt, vom Finger, steckte ihm denselben an die Hand und machte sich auf den Heimweg. Sobald sie angekommen war, ging sie zum alten König und sagte zu ihm, indem sie ihn freudig mit ihren großen blauen Augen anblickte: „Ich habe Euren Sohn erlöst; er wird bald zu Euch zurückkehren. Behüt Euch Gott, mich seht Ihr nimmer wieder.“ Da zog sie der alte König an sein Herz und sprach: „Blauäuglein, meine Tochter, du kannst eine Krone tragen so stolz wie ein Königskind! Wenn du ihm verzeihen willst und einen Einarmigen zum Manne nehmen, so sollst du seine Königin sein dein Leben lang.“ Als er dies gesagt, öffnete er die Türe, und herein trat Heino und schloß Blauäuglein in seine Arme. Da war große Freude im ganzen Land, und alle Leute wollte das schöne fromme Mädchen sehen, welches den Königssohn errettet hatte. Als sie jedoch vor dem Altare standen und die Ringe wechseln sollten, vergaß Heino, daß ihm die rechte Hand fehlte, und er dtreckte dem Priester den Stumpf hin. Da geschah ein Wunder; denn als der Priester den Stumpf berührte, wuchs aus ihm eine neue Hand hervor, wie eine weiße Blume aus einem braunen Ast. Aber um das Handgelenk lief ein feiner roter Streif, schmal wie ein Faden, herum. Den behielt er sein ganzes Leben.

Der alte Koffer

Ein alter Herr, der viel reiste, besaß einen Koffer. Schön war der Koffer nicht, sondern grundhäßlich; denn er war mit struppigem Seehundsfell überzogen und hatte eiserne Bäner und Ecken. In dem Fell aber waren schon oft die Motten gewesen, und das eiserne Beschläge war stark verrostet, hatte auch mit der Zeit manchen Buckel und manche Schmarre bekommen. „Der kann was vertragen“, sagten die Kofferträger, wenn sie ihn aus dem Wagen hoben. Bums! warfen sie ihn hin, daß es krachte. Das war nun gerade nicht dazu angetan, die ohnedies schon üble Laune des alten Koffers zu mildern. Mit seinen eisernen Ecken stieß und knuffte er jeden, der ihm in den Weg kam. „Ihr braucht mir ja nicht zu nahe kommen“, brummte er, wenn die andern Koffer, mit denen er zusammen reiste, sich darüber beklagten. „Ihr wollt euch doch bloß ansehn, wie struppig ich bin.“ Aber der Herr, dem der Koffer gehörte, war ein Sonderling. Wenn er zu Haus war, mußte der Koffer stets in seiner Stube unter dem vergoldeten Spiegel stehen, obgleich es recht komisch aussah: der alte, häßliche Koffer in der sonst ganz hübschen, gemütlichen Stube. Und wenn er reiste und irgendwo einkehrte, war es stets das erste, daß er sich den Koffer bringen und neben sein Bett stellen ließ. „Es wird wohl Geld im Koffer sein!“ meinten die Leute, „weil er ihn gar nicht aus den Augen läßt.“ Doch in diesem Punkte waren sie völlig auf dem Holzwege. Etwas darin war schon; aber Geld? Nein, Geld am allerwenigsten! War nun der alte Herr ganz allein in der Stube, so drückte er auf eine geheime Feder. Schwupp! sprang der Koffer auf, und was war darin? Ein vollständig verschlossener, prachtvoller Kasten mit rotem Samt beschlagen und mit goldenen Tressen und Schnüren besetzt. Sobald jemand anderes in die Stube eintrat, schnapp! schlug der Deckel zu. Doch das Dienstmädchen des alten Herrn war sehr schlau. Einmal ließ sie die Schuhe vor der Türe stehen und schlich ganz leise in Strümpfen bis an den Koffer hin, der gerade offenstand. Sie war schon ganz dicht daneben, und als sie es so rot und golden im Koffer blinken sah, vergaß sie sich und rief: „Herrgott, der alte Koffer ist ja wohl inwendig ganz hübsch!“ Da merkte der Koffer, daß jemand Fremdes da sei. Schnapp! schlug er mit Gewalt zu und hätte ihr beinahe den Finger abgeklemmt; denn sie wollte eben hineingreifen, um sich zu überzeugen, ob es wirklich Samt und weich wäre. „Pfui!“ sagte sie erschrocken, „was ist das für ein alter, garstiger Koffer; mit dem darf man sich gar nicht einlassen!“ Wenn sie später jemand nach dem Koffer fragte, mit dem der Herr so geheim tue, und ob nicht irgend etwas Besonderes daran sei, erwiderte sie, es sei gar nichts an dem alten Koffer und darin noch weniger. Jeder Mensch habe seine Eigenheiten, besonders was alte, unverheiratete Leute seien. Ihr Herr habe nun einmal sein Herz an den alten struppigen Koffer gehängt; weiter sei es nichts. Aber es war doch etwas Besonderes in dem Koffer. Denn zuweilen riegelte der alte Herr vorsichtig sämtliche Zimmertüren zu, drückte auf die geheime Feder, so daß der Deckel aufsprang, horchte dann noch einmal, ob alles draußen still wäre, und wenn er niemanden hörte, hob er denroten Samtkasten aus dem Koffer heraus und setzte ihn vor sich auf den Tisch. Darauf drückte er auf eine zweite verborgene Feder am Kasten, und der rote Samtdeckel sprang auch auf. Und was war darin? Unglaublich, aber wahr! Eine ganz niedliche kleine Märchenprinzessin mit zwei langen Zöpfen hinten herunter und roten Hackenschuhen. Sie sprang auch sofort mit gleichen Beinen aus dem Kasten heraus, setzte sich darauf und ließ die Beine baumeln – und das machte sie so reizend – und fing dann an, die allerhübschesten Märchen zu erzählen. Und der alte Herr saß im Lehnstuhl und hörte ihr aufmerksam zu. – Eines Tages, als sie eben mit Erzählen fertig war, sagte sie: „Ich habe dir nun schon so viele hübsche Märchen erzählt; ich glaube, du vergißt sie immer wieder. Kannst du sie nicht aufschreiben?“ „O ja“, antwortete der alte Herr, „aufschreiben könnte ich sie schon, wenigstens so einigermaßen und freilich bei weitem nicht so hübsch, als du sie erzählst; aber es darf niemand wissen, woher ich sie weiß, und besonders nicht, daß du in dem alten Koffer steckst. Denn ich muß dich ganz allein haben. Sonst kommen gleich alle Leute und wollen dich besehen und tapsen dich mit ihren ungeschickten Fingern an. Der Samt am Kasten würde auch bald schlecht werden.“ „Nein, um Gottes willen!“ entgegnete die kleine Märchenprinzessin. „Aber wundern würden sich die Leute doch, wenn sie wüßten, wer in dem alten Koffer steckt.“ Und dann lachte sie. „Still!“ sagte auf einmal der alte Herr, „es klopft jemand an der Türe. Kriech rasch wieder in den Kasten.“ Sodann trug er eilig den Kasten in den Koffer. Schnapp! schlug der Deckel mit Seehundsfell zu, und als das Dienstmädchen – denn sie war es – hereinkam und den Tee brachte, stand der alte Koffer wieder ganz mürrisch und struppig unter dem Spiegel. Als sie an ihm vorbeiging, gab sie ihm heimlich, und ohne daß der alte Herr es merkte, einen Fußtritt und murmelte: „Alter garstiger Koffer, gestern hast du mir beinahe den Finger abgeklemmt.“

Die himmlische Musik

Als noch das goldene Zeitalter war, wo die Engel mit den Bauernkindern auf den Sandhaufen spielten, standen die Tore des Himmels weit offen, und der goldene Himmelsglanz fiel aus ihnen wie ein Regen auf die Erde herab. Die Menschen sahen von der Erde in den offenen Himmel hinein; sie sahen oben die Seligen zwischen den Sternen spazierengehen, und die Menschen grüßten hinauf, und die Seligen grüßten herunter. Das Schönste aber war die wundervolle Musik, die damals aus dem Himmel sich hören ließ. Der liebe Gott hatte dazu die Noten selber aufgeschrieben, und tausend Engel führten sie mit Geigen, Pauken und Trompeten auf. Wenn sie zu ertönen begann, wurde es ganz still auf der Erde. Der Wind hörte auf zu rauschen, und die Wasser im Meer und in den Flüssen standen still. Die Menschen aber nickten sich zu und drückten sich heimlich die Hände. Es wurde ihnen beim Lauschen so wunderbar zumut, wie man das jetzt einem armen Menschenherzen gar nicht beschreiben kann. – So war es damals ; aber es dauerte nicht lange. Denn eines Tages ließ der liebe Gott zur Strafe die Himmelstore zumachen und sagte zu den Engeln: „Hört auf mit eurer Musik; denn ich bin traurig!“ Da wurden die Engel auch betrübt und setzten sich jeder mit seinem Notenblatt auf eine Wolke und zerschnitzelten die Notenblätter mit ihren kleinen goldenen Scheren in lauter einzelne Stückchen; die ließen sie auf die Erde hinunterfliegen. Hier nahm sie der Wind, wehte sie wie Schneeflocken über Berg und Tal und zerstreute sie in alle Welt. Und die Menschenkinder haschten sich jeder ein Schnitzel, der eine ein großes und der andere ein kleines, und hoben sie sich sorgfältig auf und hielten die Schnitzel sehr wert; denn es war ja etwas von der himmlischen Musik, die so wundervoll geklungen hatte. Aber mit der Zeit begannen sie sich zu streiten und zu entzweien, weil jeder glaubte, er hätte das Beste erwischt; und zuletzt behauptete jeder, das, was er hätte, wäre die eigentliche himmlische Musik, und das, was die anderen besäßen, wäre eitel Trug und Schein. Wer recht klug sein wollte – und deren waren viele –, machte noch hinten und vorn einen großen Schnörkel daran und bildete sich etwas ganz Besonderes darauf ein. Der eine pfiff a und der andere sang b; der eine spielte in Moll und der andere in Dur; keiner konnte den andern verstehen. Kurz, es war ein Lärm wie in einer Judenschule. – So steht es noch heute. – Wenn aber der Jüngste Tag kommen wird, wo die Sterne auf die Erde fallen und die Sonne ins Meer und die Menschen sich an der Himmelspforte drängen wie die Kinder zu Weihnachten, wenn aufgemacht wird – da wird der liebe Gott durch die Engel alle die Papierschnitzel von seinem himmlischen Notenbuche wieder einsammeln lassen, die großen ebensowohl wie die kleinen, und selbst die ganz kleinen, auf denen nur eine einzige Note steht. Die Engel werden die Stückchen wieder zusammensetzen, und dann werden die Tore aufspringen, und die himmlische Musik wird aufs neue erschallen, ebenso schön wie früher. Da werden die Menschenkinder verwundert und beschämt dastehen und lauschen und einer zum andern sagen: „Das hattest du! Das hatte ich! Nun aber klingt es erst wunderbar herrlich und ganz anders, nun alles wieder beisammen und am richtigen Orte ist!“ – Ja, ja! So wird’s. Ihr könnt euch darauf verlassen.

Eine Kindergeschichte

Der Kirchhof, auf dem die zwei kleinen Kinder spielten, von denen ich heute erzählen will, lag hoch oben auf dem grünen Bergeshange. Das Dörfchen, zu dem er gehörte, lag schon hoch genug über dem waldigen Tal, so daß die Wolken es oft verdeckten, wenn man unten auf dem blauen Flusse vorüberfuhr. Doch der Kirchhof lag noch höher über dem Dorf, so daß seine vielen schwarzen Kreuze recht in den blauen Himmel hineinragten. Es war ziemlich mühsam für die Leute, ihre Verstorbenen aus dem Dorfe nach dem Kirchhof zu tragen, denn der Weg war steil und steinig, bis man zu der grünen Matte kam, auf der der Kirchhof lag; doch sie taten es gern. Denn die Bergbewohner können es nicht im Tal aushalten; da wird es ihnen so dumpf und ängstlich zumut, wie uns in einem tiefen Keller – und ihre Toten noch weniger. Hoch oben auf dem Berge müssen sie begraben sein, so daß sie weit hinaus in das Land sehen können und hinunter ins Tal, wo die Schiffe fahren. Ganz in der Ecke des Kirchhofes war ein verlassenes Grab. Es wuchs nur Gras auf ihm und in dem Grase ganz versteckt ein paar wilde weiße oder blaue Blümchen, die niemand gepflanzt hatte. Denn in dem Grabe lag ein alter Hagestolz, der weder Weib noch Kind noch sonst irgend jemand hinterlassen hatte, der sich um ihn bekümmerte. Aus fremdem Lande war er gekommen, woher, das wußte keiner. Er war jeden Morgen auf die Kuppe des Berges gestiegen und hatte dort stundenlang gesessen. Aber bald war er gestorben, und man hatte ihn begraben. Einen Namen hatte er ja sicher gehabt; wie er aber lautete, wußte ebenfalls niemand, nicht einmal der Totengräber. Im Kirchenbuche standen nur drei Kreuze und dahinter „ein alter fremder Hagestolz, gestorben am soundsovielten, im Jahre des Herrn soundso“. – Das ist nun freilich sehr wenig; aber die zwei kleinen Kinder des Totengräbers, von denen ich eben erzählen wollte, hatten das alte, verlassene Grab in der Kirchhofsecke ganz besonders gern; denn es war ihnen erlaubt, auf ihm zu spielen und herumzutrampeln, soviel sie Lust hatten, während sie die anderen Gräber nicht anrühren durften. Diese waren alle sehr sorgfältig imstand gehalten; das Gras war frisch geschoren und dicht wie Samt, auch blühten allerhand Blumen auf ihnen, die der Totengräber täglich mit großer Sorgfalt begoß, wozu er sich das Wasser mühsam aus dem Dorfbrunnen heraufschleppen mußte. Auf vielen lagen auch Kränze und bunte Bänder. „Trinchen“, sagte der kleine Knabe, der vor dem verlassenen Grabe kniete, indem er sich wohlgefällig das Loch besah, welches er in die Seitenwand des Grabes mit seinen kleinen Händen hineingegraben hatte, „Trinchen, unser Haus ist fertig. Ich habe es mit bunten Steinen ausgepflastert und Blumenblätter darauf gestreut. Ich bin der Vater und du bist die Mutter. – Guten Morgen, Mutter, was machen unsre Kinder?“ „Hans“, entgegnete die Kleine, „du mußt nicht so rasch spielen. Ich habe noch keine Kinder, aber ich werde gleich welche bekommen.“ Darauf lief sie zwischen den Gräbern und Büschen umher und kam, beide Hände mit Schnecken gefüllt, wieder: „Höre, Vater, ich habe schon sieben Kinder, sieben wunderschöne Schneckenkinder!“ „Dann wollen wir sie gleich zu Bett bringen, denn es ist schon spät.“ Sie pflückten grüne Blätter ab, legten sie in das Loch, die bunten Schneckenhäuser darauf, und deckten jedes wieder mit einem grünen Blatte zu. „Jetzt sei einmal still, Hänschen“, rief das kleine Mädchen, „ich muß meine Kinder einsingen; das muß ich ganz allein machen. Der Vater singt nie mit. Du kannst unterdessen noch auf die Arbeit gehen.“ Und Hänschen lief fort, und Trinchen sang mit ganz feiner Stimme: „Schlaft mir allzusammen ein,
Meine sieben Kinderlein
In euren weichen Betten.
Schlummert süß und schlafet aus,
Steckt mir keins die Beinchen ’raus
Unter eurer Decke!“
Aber das eine Blatt begann sich zu bewegen, und eine von den Schnecken steckte unter demselben ihren Kopf mit den feinen Hörnern hervor. Da tippte die Kleine sie mit dem Finger auf den Kopf und sagte: „Warte, Gustl, du bist immer die Unartigste! Heute früh hast du dich schon nicht wollen kämmen lassen. Willst du gleich wieder ins Bett!“ Und sie sang noch einmal: „Schlummert süß und schlafet aus,
Steckt mir keins die Beinchen ’raus
Unter eurer Decke!
Seid ihr dann geschlafen ein,
Fliegt ein Engel ins Zimmer ’rein,
Besieht sich alle sieben:
Deine Kinder sind alle weiß und rot,
Ein‘ schönen Gruß vom lieben Gott,
Ob sie auch fromm geblieben?
Meine Kinder sind alle fromm,
Sie woll‘n gern in den Himmel komm‘n,
Schön‘ Dank für Milch und Wecken.
Bring wieder einen Gruß nach Haus:
Es stecke auch keins die Beinchen ’raus
Mehr unter seiner Decke.“
Als sie ausgesungen hatte, waren die sieben Schnecken wirklich alle eingeschlafen, wenigstens lagen sie alle still, und da Hänschen immer noch nicht zurückkehrte, lief die Kleine noch einmal im Kirchhof umher und suchte neue Schnecken. Sie sammelte eine große Zahl in ihrer Schürze und kehrte mit ihnen zum Grabe zurück. Da saß Hänschen und wartete. „Vater“, rief sie ihm entgegen, „ich habe noch hundert Kinder gekriegt!“ „Höre Frau“, erwiderte der Kleine, „hundert Kinder sind sehr viel. Wir haben bloß einen Puppenteller und zwei Puppengabeln. Womit sollen die Kinder essen? Hundert Kinder hat auch gar keine Mutter. Es gint auch nicht hundert Namen. Wie sollen wir unsere Kinder taufen? Trag sie wieder fort!“ „Nein, Hänschen“, sagte das kleine Mädchen, „hundert Kinder sind sehr hübsch. Ich brauche sie alle.“ – Indes kam die junge Frau des Totengräbers mit zwei großen Butterbroten, denn die Vesperstunde hatte geschlagen. Sie küßte die beiden Kinder, hob sie auf, setzte sie auf das Grab und sagte: „nehmt eure neuen Schürzen hübsch in acht.“ – Da saßen sie nun stumm wie die Spatzen und aßen. – Aber der alte Hagestolz in seinem einsamen Grabe hatte alles vernommen; denn die Toten hören alles sehr genau, was man an ihrem Grabe spricht. Er dachte an die Zeit, wo er noch ein kleiner Knabe gewesen war. Da hatte er auch ein kleines Mädchen gekannt, und sie hatten zusammen gespielt, hatten Häuser gebaut und waren Mann und Frau gewesen. Und dann dachte er an die spätere Zeit, wo er das kleine Mädchen noch einmal gesehen hatte, wie es schon erwachsen war. Nachher hatte er nie wieder etwas von ihm gehört, denn er war seine eigenen Wege gegangen, und die mußten wohl nicht sehr schön gewesen sein, denn je mehr er daran dachte, und je mehr oben auf seinem Grabe die Kinder schwatzten, um so trauriger wurde er. Er fing an zu weinen und weinte immer mehr. Und als die Totengräberfrau die Kinder auf sein Grab setzte und sie ihm nun gerade auf der Brust saßen, weinte er noch viel mehr. er versuchte seine Arme auszustrecken, denn es war ihm so, als müsse er die Kinder an sein Herz drücken. Aber es ging nicht; denn auf ihm lagen sechs Fuß Erde, und sechs Fuß Erde wiegen schwer, sehr schwer. Da weinte er noch mehr; und er weinte immer noch, als die Totengräberfrau längst die Kinder geholt und zu Bett gebracht hatte. Als aber der Totengräber am nächsten Morgen durch den Kirchhof ging, da war aus dem alten verlassenen Grabe eine Quelle entsprungen. Das waren die Tränen, die der alte Hagestolz geweint hatte. Sie rieselte hell aus dem Grabhügel hervor und kam gerade aus dem Loche, wo die beiden Kinder ihr kleines Häuschen hineingegraben hatten. Da freute sich der Totengräber, denn nun brauchte er das Wasser zum Begießen der Blumen nicht mehr aus dem Dorfe den steilen Weg hinaufzutragen. Er machte für die Quelle eine ordentliche Leitung und faßte sie mit großen Steinen ein. Von jetzt an begoß er mit dem Wasser der neuen Quelle alle Gräber auf dem Kirchhofe, und die Blumen auf ihnen blühten nun schöner wie je zuvor. Nur das Grab, worin der alte Hagestolz lag, begoß er nicht, denn es war ja ein altes, verlassenes Grab, nach dem niemand fragte. Trotzdem wuchsen aber auf ihm die wilden Bergblumen üppiger wie an jedem anderen Orte, und die beiden Kinder saßen oft an der Quelle, bauten Mühlen und ließen Papierkähnchen auf ihr schwimmen.

Pechvogel und Glückskind

In einer kleinen Stadt, nicht weit von dem Orte, wo ich wohne, lebte einmal ein junger Mann, dem alles zum Unglück ausschlug, was er anfing. Sein Vater hatte Pechvogel geheißen, und so hieß er denn auch Pechvogel. Beide Eltern waren ihm früh gestorben, und die lange, dürre Tante, die ihn damals zu sich genommen hatte, prügelte ihn jedesmal, wenn sie aus der Messe kam. Da sie nun aber jeden Tag in die Messe ging, so prügelte sie ihn eben auch alle Tage. Er hatte aber auch wirklich viel Unglück. Denn wenn er ein Glas trug, fiel es ihm gewöhnlich hin; und wenn er dann weinend die Scherben auflas, schnitt er sich stets in die Finger. So ging es in allen Dingen. Zwar die lange Tante starb eines Tages, und er pflanzte um ihr Grab so viel Büsche und Bäume, als wenn er auf ihnen noch einmal alle die Stöcke ziehen wolle, die sie auf seinem Rücken zerschlagen hatte; aber sein Unstern schien mit jedem Jahre nur mehr und mehr zuzunehmen. Da bemächtigte sich seiner eine große Traurigkeit, und er beschloß, in die weite Welt zu gehen. Schlecher kann‘s nimmer werden, dachte er; vielleicht wird‘s besser. Er steckte daher seine ganze Barschaft in die Tasche und wanderte zum Tor hinaus. Vor dem Tor, auf der steinernen Brücke, blieb er noch einmal stehen und lehnte sich über das Geländer. Er sah in die Wellen hinab, die reißend an den Pfeilern vorbeischäumten, und es wurde ihm gar wehmütig ums Herz. Es war ihm fast, als wenn es ein Unglück wäre, die Stadt, in der er so lange gelebt, zu verlassen. Und vielleicht hätte er noch lange so gestanden, wenn ihm nicht plötzlich der Wind den Hut vom Kopfe geweht und in den Fluß geworfen hätte. Da erwachte er aus seinen Träumen, aber der Hut war schon unter der Brücke fortgeschwommen und tanzte auf der anderen Seite mitten im Strom; und jedesmal, wenn ihn eine Welle hochhob, schien er höhnisch zurückzurufen: „Adieu, Pechvogel! Ich reise; bleibe du zu Hause, wenn du Lust hast.“ So machte sich denn Pechvogel ohne Hut auf den Weg. Lustige Gesellen zogen oft genug singend und jubilierend an ihm vorüber und luden ihn ein, in Gemeinschaft mit ihnen die Wanderschaft fortzusetzen. Doch er schüttelte jedesmal traurig den Kopf und sagte: „Ich passe nicht zu euch und würde euch nicht viel Glück bringen! Außerdem heiße ich Pechvogel!“ Sobald sie diesen Namen hörten, wurden die lustigen Burschen ernsthaft und verlegen und machten sich eilends aus dem Staube. Erreichte er abends müde ein Wirtshaus und saß er an einer einsamen Ecke des Schanktisches, den Kopf in die Hand gestützt und vor sich den zinnernen Krug mit Wein, der nimmer leer werden wollte, so trat wohl zuweilen das Wirtstöchterlein leise zu ihm heran, tippte ihn auf die Schulter, so daß er sich erschrocken umdrehte, und fragte, warum er so traurig sei. Wenn er aber dann seine Geschichte erzählte oder gar seinen Namen nannte, schüttelte sie den Kopf, ging zu ihrem Spinnrad zurück und ließ ihn allein sitzen und seinen Gedanken nachhängen. Nachdem Pechvogel mehrere Wochen lang gewandert war, ohne recht eigentlich zu wissen wohin, kam er eines Tages an einen wundervollen großen Garten, der von einem hohen, vergoldeten Geländer umgeben war. Durch das Geländer hindurch sah man uralte Bäume und niedriges Buschwerk, abwechselnd mit großen Rasenplätzen. Dazwischen schlängelte sich ein Bach, über den eine Menge kleiner Brücken führte. Zahme Hirsche und Rehe spazierten auf den gelben Sandwegen umher, kamen bis ans Gitter, streckten ihre Köpfe heraus und fraßen ihm das Brot aus der Hand. In der Mitte des Gartens aber sah man aus den Bäumen ein stattliches Schloß hervorragen. Die silbernen Dächer blitzten in der Sonne, und von den Türmen wehten bunte Fahnen und Banner. Er ging das Geländer entlang; endlich fand er einen großen, offenstehenden Torweg, von dem eine lange schattige Allee gerade auf das Schloß führte. Im Garten selbst war alles still; kein Mensch ließ sich sehen oder hören. Am Tor hing eine Tafel. Aha! dachte er, wie gewöhnlich! Wenn man an einem recht schönen Garten vorbeikommt, wo die Tore einladend offenstehen, dann hängt immer eine Tafel daneben, worauf steht, daß der Eintritt verboten ist. Zu seiner Überraschung sah er jedoch, daß er sich diesmal täuschte: denn auf der Tafel stand weiter nichts als: „Hier darf nicht geweint werden!“ – „So, so“, sagte er, „eine närrische Inschrift“, zog das Taschentuch heruas und rieb sich ein wenig die Augen; denn er war nicht ganz sicher, ob nicht in einer Ecke irgendwo doch eine halbe Träne sitzengeblieben sei. Darauf trat er in den Garten ein. Der große breite Weg, der schnurstracks aufs Schloß zulief, machte ihn beklommen. Er schlug lieber einen Seitengang mitten zwischen hohen Jasmin- und Rosenhecken ein. Den verfolgte er und gelangte in einen kleinen Wald, aus dem ein Weg mit vielen Windungen zu einem Hügel hinaufführte. Als er jetzt abermals um eine Ecke bog, lag die Spitze des Hügels vor ihm, und auf dem Hügel im Grase saß ein wunderschönes Mädchen. Sie hatte eine goldene Krone auf dem Schoß, auf die sie fortwährend hauchte. Dann nahm sie ihre seidene Schürze, rieb die Krone mit ihr, und als sie sah, daß sie wieder ganz blank wurde, klatschte sie vor Freude in die Hände, strich sich ihre langen Haare hinter die Ohren und setzte sich die Krone wieder auf. Den armen Pechvogel überfiel bei ihrem Anblicke eine sonderbare Angst. Sein Herz pochte so laut, als wenn es zerspringen wollte. Er trat hinter einen Busch und duckte sich nieder. Aber es war eine Berberitze, und ein Zweig legte sich ihm gerade quer übers Gesicht. Und wie der Wind den Busch leise hin und her bewegte, kitzelte ihm ein Dorn fortwährend an der Nasenspitze herum, so daß er laut niesen mußte. Erschrocken drehte sich das Mädchen mit der Krone um und sah Pechvogel hinter dem Busche kauern. „Warum versteckst du dich?“ rief sie. „Willst du mir etwas Böses tun, oder fürchtest du dich vor mir?“ Da trat Pechvogel zitternd wie Espenlaub hinter dem Busche hervor. „Du tust mir nichts!“ sagte sie lachend. „Komm her, setze dich ein wenig zu mir; meine Gespielinnen sind alle fortgelaufen und haben mich allein gelassen. Du kannst mir etwas recht Hübsches erzählen, aber was zum Lachen! Hörst du? – Aber du siehst ja so traurig aus! Was fehlt dir denn? Wenn du kein so finsteres Gesicht machtest, wärst du wirklich ein ganz hübscher Mensch.“ „Wenn du es haben willst“, antwortete Pechvogel, „will ich mich wohl einen Augenblick zu dir setzen. Aber wer bist du denn? Ich habe ja mein Lebtag noch nie etwas so Schönes und Herrliches gesehen wie dich!“ „Ich bin die Prinzessin Glückskind, und dies ist meines Vaters Garten.“ „Was machst du denn hier so allein?“ „Ich füttere meine Rehe und Hirsche und putze meine Krone.“ „Und nachher?“ „Dann füttere ich meine Goldfische!“ „Und wenn du damit fertig bist?“ „Dann kommen meine Gespielinnen wieder, und dann lachen wir und singen und tanzen!“ „Ach, was du für ein glückseliges Leben führst! Und das geht so alle Tage?“ „Ja, alle Tage! Nun sage aber auch einmal, wer du bist und wie du heißt.“ „Ach, allerschönste Prinzessin, verlangt nur das nicht von mir! Ich bin der allerunglücklichste Mensch unter der Sonne und habe den allerhäßlichsten Namen.“ „Pfui!“ sagte sie, „ein häßlicher Name ist sehr häßlich! In meines Vaters Ländern gibt es einen, der heißt Entengrütze, und einen anderen, der heißt Fettfleck; du wirst doch nicht etwa so heißen?“ „Nein“, antwortete er, „Entengrütze heiße ich nicht, auch nicht Fettfleck. Mein Name ist noch viel häßlicher. Ich heiße Pechvogel.“ „Pechvogel? Das ist ja zum Totlachen! Kannst du denn keinen andeen Namen kriegen? Höre, ich will mir einmal einen recht hübschen Namen für dich ausdenken, und dann will ich meinen Vater bitten, daß er dir erlaubt, ihn zu tragen. Mein Vater kann alles, was er will; denn er ist König. Aber nur unter der Bedingung tu ich es, daß du ein ganz vergnügtes Gesicht machst. Nimm doch die Hand vom Gesicht; du mußt dir nicht immer so an der Nase herumzupfen! Du hast eine ganz hübsche Nase und wirst sie dir noch ganz und gar verderben. Streich dir einmal die Haare aus der Stirn1 So! Nun siehst du doch einigermaßen vernünftig aus. – Sage einmal, warum bist du eigentlich so traurig? Denn ich bin immer vergnügt, und jeder, mit dem ich rede, freut sich. Nur dir sieht man‘s gar nicht an!“ „Warum ich so traurig bin? Weil ich mein ganzes Leben traurig war und stets Unglück habe. Und du bist immer lustig? Wie fängst du das an?“ „Mich hat eine Fee über die heilige Taufe gehalten, der hatte mein Vater früher einmal einen großen Dienst erwiesen. Sie nahm mich auf den Arm, küßte mich auf die Stirn und sagte zu mir: ‚Du sollst immerdar fröhlich sein und alle Welt fröhlich machen. Wenn dich ein recht trauriger Mensch ansieht, soll er sein Unglück vergessen! Glückskind sollst du heißen!‘ – Dich aber hat wohl keine Fee geküßt?“ „Nein, nein!“ antwortete er hastig, „niemals!“ Darauf wurde die Prinzessin sehr still und nachdenklich und sah ihn mit ihren großen blauen Augen so sonderbar an, daß es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. Dann hub sie wieder an: „Ob es auch immer eine Fee sein muß? Eine Prinzessin ist auch etwas. Komm her, knie dich einmal hin; denn du bist mir zu groß.“ Darauf trat sie vor ihn, gab ihm einen Kuß und lief lachend fort. Ehe sich Pechvogel noch recht besinnen konnte, war sie verschwunden. Langsam stand er auf. Es war ihm, als wenn er aus einem Traum erwachte; und doch fühlte er, daß es kein Traum sein könne, denn eine wunderbare Fröhlichkeit war über sein Herz gekommen. „Wenn ich nur meinen Hut hätte“, sagte er, „daß ich ihn in die Luft werfen könnte. Vielleicht finge er an zu trillern und flöge als Lerche davon! Zumut ist mir‘s so. Ich glaube wirklich, ich bin lustig. Das wäre doch zu merkwürdig.“ – Er pflückte sich noch einen großen Blumenstrauß im Garten und wanderte singend die Landstraße weiter. Sobald er in die nächste Stadt kam, kaufte er sich ein rotsamtnes Wams mit Atlasschlitzen und ein Barett mit einer langen weißen Feder, besah sich im Spiegel und sagte: „Pechvogel heiße ich? Wir wollen doch sehen, ob ich nicht einen anderen Namen bekomme. Aber den schönsten, den es gibt, sonst nehm‘ ich ihn nicht an.“ Dann stieg er auf ein Pferd, gab ihm die Sporen, daß es lustig dahintanzte, und setzte seine Reise fort. Prinzessin Glückskind aber, nachdem sie dem Pechvogel den Kuß gegeben hatte, lief und lief. Dann ging sie langsamer und langsamer, und zuletzt setzte sie sich auf eine Bank unweit vom Schlosse und fing an, bitterlich zu weinen. Als ihre Gespielinnen zurückkehrten und sie fanden, weinte sie immer noch. Sie versuchten sie zu trösten, aber es half nichts. Da liefen sie in ihrer Angst zum König und riefen: „Um Gottes Willen, Herr König! Ein Unglück für das ganze Land! Prinzessin Glückskind sitzt im Garten und weint, und niemand kann ihr helfen.“ Als dies der König hörte, wurde er vor Schrecken blaß und sprang eilig die Treppe in den Garten hinunter. Da saß die Prinzessin weinend auf der Bank und hatte die Krone auf dem Schoß, und es waren auf sie so viele Tränen gefallen, daß sie in der Sonne blitzte, als wenn sie mit tausend Diamanten besetzt wäre. Der König nahm seine Tochter in den Arm und tröstete sie und redete ihr zu; aber sie weinte immerfort. Er führte sie in das Schloß und ließ ihr aus dem ganzen Lande alles, was es nur Schönes und Kostbares gab, kommen; doch sie blieb traurig; und so oft er sie auch bat, ihm doch zu sagen, welch ein schweres Herzeleid ihr widerfahren sei, sie antwortete nicht. Aber der König fragte immer wieder, und zuletzt mußte sie es sagen; und sie erzählte, wie sie im Garten gesessen und wie ein junger Mensch gekommen wäre, der so überaus traurig ausgesehen, und wie sie ihn geküßt hätte, um zu sehen, ob er dadurch nicht vielleicht etwas fröhlicher würde. Da schlug der König die Hände über dem Kopf zusammen. „Einen fremden, hergelaufenen Menschen, wahrscheinlich einen ganz gewöhnlichen Handwerksburschen! Mit schlechten Kleidern; und noch dazu ohne Hut! Es ist unglaublich!“ „Er dauerte mich so sehr!“ „Ein hübscher Grund für eine Prinzessin, den ersten besten Strolch zu küssen! Und Pechvogel heißt er? Unerhört! Aber den Menschen muß ich haben, und wenn ich ihn habe, wird er geköpft. Das ist die allergeringste Strafe, die ihn treffen kann!“ Darauf befahl der König seinen Reitern, das Land nach allen Richtungen hin zu durchstreifen und auf den armen Pechvogel zu fahnden. „Wenn ihr einen jungen Menschen findet, der aussieht, als hätten ihm die Mäuse das Brot weggefressen, und keinen Hut hat, der ist‘s! Den bringt ihr sofort hierher!“ Und die Reiter stoben auseinander wie Spreu, in die der Wind fährt, und durchzogen das ganze Land. Manche von ihnen kamen auch an Pechvogel vorbei, der in seiner vornehmen Kleidung stolz auf dem Pferde saß; aber sie erkannten ihn nicht, und die meisten von ihnen kehrten unverrichteterdinge in das Schloß zurück, wo sie der König zornig anfuhr und alberne, ungeschickte Menschen schalt, die zu gar nichts zu gebrauchen seien. Die Prinzessin aber blieb traurig wie zuvor und kam jeden Mittag mit verweinten Augen zu Tisch; und der König tat auch weiter nichts, als daß er immer wieder seine schöne, traurige Tochter ansah, und ließ darüber Suppe und Braten kalt werden. So ging es Woche um Woche. Eines Tages jedoch enstand plötzlich ein Lärmen auf dem Schloßhofe. Alles lief zusammen, und ehe noch der König Zeit gehabt, ans Fenster zu treten, um nach der Ursache zu sehen, führten schon zwei Reiter den armen Pechvogel in sein Zimmer. Sie hatten ihm die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, aber sein Gesicht strahlte, als wenn ihm in seinem Leben noch nie etwas Lieberes widerfahren wäre. Er verneigte sich vor dem Könige und richtete sich dann stolz auf, abwartend, was er über ihn beschließen würde. „Wir haben den sauberen Vogel gefangen, Majestät!“ sagte der ältere der beiden Reiter. „Er muß sich aber inzwischen gemausert haben; denn Eure Beschreibung paßt wie die Faust aufs Auge! Gewiß hätten wir ihn auch nie gefunden, wenn uns nicht der dumme Tölpel, als wir im Wirtshaus mit ihm zusammentrafen, die ganze Geschichte selbst erzählt hätte. Und wißt ihr, was er getan hat, nachdem wir ihn gefangen und gebunden? Weitergelacht und weitergesungen! Und wie wir ihn auf sein Pferd gesetzt, zwischen unsere Pferde genommen und hierhergejagt? Geschimpft und gezankt, daß wir so langsam ritten! Als wenn er es nicht erwarten könne, bis er geköpft würde. Wenn das der traurigste Mensch in der ganzen Christenheit sein soll, Majestät, so möchte ich wohl den allerlustigsten sehen. Der muß sich dann zum Frühstück die Beine ausreißen und in den Kaffee tauchen. Alles andere hat der hier schon unterwegs gemacht!“ Als der König dies gehört, trat er vor Pechvogel mit gekreuzten Armen hin und sagte: „Also du bist der Mensch, der die Frechheit gehabt hat, sich von der Prinzessin küssen zu lassen?“ „Ja, Herr König! Und ich bin seitdem der allerglückseligste Mensch der Welt geworden!“ „Werft ihn in den Turm, er soll morgen geköpft werden!“ Hierauf führten die Reiter Pechvogel hinaus und in den Turm; der König aber ging mit langen Schritten in seinem Zimmer auf und ab. „Das ist ein schlimmer Handel“, sagte er. „Haben tu ich ihn, und geköpft wird er; aber davon allein wird mein Glückskind nicht wieder lustig.“ Dann ging er leise bis an das Zimmer seiner Tochter, sah durchs Schlüsselloch, schüttelte den Kopf, ging wieder lange auf und ab und ließ endlich seinen Geheimen Rat kommen. Als dieser alles gehört, besann er sich und sagte: „Ich weiß nicht, ob‘s hilft, aber man könnte es versuchen. Daß der Pechvogel vorher traurig war und jetzt lustig ist, ist sicher; ebenso, daß unsere schöne Prinzessin früher stets fröhlich war und nun fortwährend weint. Daß der Kuß daran schuld ist, ist doch sehr wahrscheinlich. Also, der Pechvogel muß der Prinzessin den Kuß wiedergeben. Majestät, das ist meine untertänigste Meinng!“ „Das ist ja ganz unmöglich“, erwiderte der König ärgerlich, „und ganz gegen die Sitte meines Hauses!“ „Ew. Majestät müssen die Sache nur als Staatsakt betrachten, dann geht es wohl, und niemand kann etwas dagegen einwenden.“ Der König überlegte sich die Angelegenheit noch etwas, dann sagte er: „Gut, wir wollen es versuchen. Rufe alle Grafen und Ritter ins Thronzimmer und laß den Gefangenen heraufführen!“ Darauf legte der König seine Staatskleidung an und nahm auf dem Throne Platz. Neben ihm stand die Prinzessin, der er gar nicht gewagt hatte zu sagen, weshalb er sie hatte rufen lassen, und um ihn herum in großem Kreise der ganze Hof; lauter vornehme Herren in goldgestickten Kleidern mit Sternen und Schärpen. Alles war ganz still. Da ging die Tür auf, und Pechvogel wurde hereingebracht. „Du wirst morgen geköpft“, fuhr ihn der König an, „aber zuvor wirst du augenblicklich und vor allen diesen edlen und erlauchten Herren meiner Tochter den Kuß wiedergeben, den sie dir unüberlegterweise gegeben hat!“ „Wenn Ihr nur das wünscht, Herr König“, entgegnete Pechvogel, „so will ich es herzlich gern tun, und wenn es möglich ist, daß ein Mensch noch glücklicher werden kann, als ich es jetzt schon bin, so werde ich es gewiß werden!“ „Das wollen wir erst einmal sehen“, unterbrach ihn der König barsch. „Diesmal könntest du dich verechnet haben!“ Darauf schritt Pechvogel auf die Prinzessin zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuß. Sie aber nahm seine Hand, sah ihn sehr freundlich an, und beide blieben vor dem Throne stehen. „Bist du nun wieder vergnügt, meine liebe Tochter?“ fragte der König. „Ein klein bißchen, Herr Vater“, entgegnete sie. „Aber es wird gewiß nicht lange vorhalten.“ „Ja, ja!“ sagte der König traurig, „ich sehe es schon. Er ist ja nicht wieder traurig geworden, wie es sein müßte, wenn‘s richtig wäre. Er steht ja noch immer da und lächelt und macht immer noch das unverschämt vergnügte Gesicht! Was nun anfangen?“ Da schlug die Prinzessin die Augen nieder und sagte leise: „Ich weiß es, Vater, und will es dir sagen; aber bloß ins Ohr.“ Darauf ging der König mit der Prinzessin auf den Vorsaal, und wie sie wieder hereintraten, nahm er die Hand Pechvogels, legte sie in die der Prinzessin und sagte zu allen den versammelten Herren und Grafen: „Es ist nicht zu ändern, Gottes Wille geschehe; dies ist mein lieber Sohn, der König wird, wenn ich einmal sterbe.“ – Und Pechvogel wurde Prinz und später König. Er wohnte in dem goldenen Schlosse und gab der Prinzessin so viele Küsse, daß sie noch viel fröhlicher wurde als zuvor. Prinzessin Glückskind aber schenkte ihm für seinen häßlichen Namen die allerschönsten; jeden Tag einen anderen. Nur zuweilen, wenn sie recht übermütig lustig war, sagte sie zu ihm: „Weißt du noch, wie du früher hießest?“ und dann wollte sie sich totlachen. Er aber hielt ihr den Mund zu und sprach: „Still! was sollen die Leute denken, wenn sie es hören? Ich verliere ja allen Respekt!“

Wie sich der Christoph und das Bärbel immer aneinander vorbeigewünscht haben

Das mag nun schon geraume Zeit her sein, dass einmal der liebe Gott – wie er es oft zu tun pflegte – sagte: „Du, Gabriel, mach einmal die Luke auf und ‚guck runter! Ich glaube, es weint was!“ Der Gabriel tat, wie ihm der liebe Gott befohlen, hielt sich die Hand vor die Augen, weil’s blendete, sah überall umher und sagte endlich: „Da unten ist eine lange grüne Wiese; an dem einen Ende sitzt das Bärbel und hütet die Gänse und am andern der Christoph und hütet die Schweine, und weinen tun sie alle beide, dass einem das Herz im Leibe weh tut.“ – „So?“ sagte der liebe Gott; „geh weg, Langer, damit ich selbst zusehen kann.“ (Dass der Engel Gabriel sehr lang ist, weiss jeder.) Wie er nun selbst zugesehen hat, fand er es geradeso, wie es der Engel Gabriel gesagt. Dass aber der Christoph und das Bärbel beide so kläglich weinten, hat sich so zugetragen: Der Christoph und das Bärbel hatten sich beide sehr lieb; denn eins hütete die Gänse, das andere die Schweine, und sie passten also gut zusammen, weil nämlich der Stand kein Hindernis machte. Sie nahmen sich denn vor, sie wollten sich heiraten, und meinten, dazu wär’s gerade genug, dass sie sich so liebhätten. Aber die Herrschaft war anderer Meinung. So mussten sie sich denn mit dem Brautstande zufriedengeben. Weil aber Ordnung zu allen Dingen nützt und das Küssen bei Brautleuten eine gar wichtige Sache ist, waren sie übereingekommen, dass sieben Küsse morgens und sieben Küsse abends eine gute Zahl wären. Eine Zeitlang ist es denn auch ganz gut gegangen, und immer waren zur rechten Zeit die sieben richtig voll. Am Morgen aber des Tages, wo diese Geschichte sich zugetragen hat, eben da es zum siebenten Kusse kommen sollte, waren dem Bärbel seine Lieblingsgans und dem Christoph sein Lieblingsferkel wegen des Frühstücks uneinig geworden, also, dass sie sich gar hart anliessen und beinahe schon zu Tätlichkeiten übergingen. Da mussten sie es, um den Streit zu schlichten, bei der falschen Zahl lassen. Wie nun beide nachher so einsam und weit voneinander am Wiesenrande sassen, fiel ihnen ein, dass es doch sehr schlimm sei, und fingen an zu weinen, und weinten immer noch, als der liebe Gott selbst zusah. Der liebe Gott meinte anfangs, ihr Leid würde sich mit der Zeit wohl von selbst geben; als aber das Weinen immer ärger wurde und dem Christoph sein Lieblingsferkel und dem Bärbel seine Lieblingsgans auch schon begannen schier traurig zu werden und ganz sauertöpfische Gesichter zu machen, sprach er: „Ich will ihnen helfen! Was sie sich am heutigen Tage nur immer wünschen mögen, soll in Erfüllung gehen.“ Die zwei hatten aber nur einen Gedanken; denn wie so eins nach dem andern schaute und konnten sich doch nicht sehen, denn die Wies war lang und in der Mitte ein Busch, dachte der Christoph: Wenn ich doch drüben bei den Gänsen wäre! und das Bärbel seufzte: Ach, wäre ich doch bei den Schweinen! Auf einmal nun sass der Christoph wirklich bei den Gänsen und das Bärbel bei den Schweinen; und doch waren sie wieder nicht beieinander, und die falsche Zahl konnte immer noch nicht richtig gemacht werden. Da dachte der Christoph: Das Bärbel wird mich wohl haben besuchen wollen. Und das Bärbel dachte: Was gilt’s, der Christoph ist andersrum zu mir ‚rübergegangen! – Ach, wär‘ ich doch bei meinen Gänsen! – Ach, wär‘ ich doch bei meinen Schweinen! Da sass nun wieder das Bärbel bei den Gänsen und der Christoph bei den Schweinen, und so ist es den ganzen Tag über immer umschichtig fortgegangen, weil sich die beiden stets aneinander vorbeigewünscht haben. So fehlt denn der siebente Morgenkuss des Tages heute noch. Der Christoph wollte ihn zwar selbigen Abends, als sie beide, todmüde gewünscht, nach Hause kamen, nachholen, aber das Bärbel meinte, es helfe nun doch nichts mehr, und die Unordnung sei nimmer wieder gutzumachen. – Als aber der liebe Gott sah, dass sich die beiden immer so aneinander vorbeiwünschten, sprach er: „Da habe ich etwas Gutes angerichtet. Aber, was ich gesagt habe, habe ich gesagt! Dagegen kann nun weiter nichts helfen!“ So hat er sich dann vorgenommen, nie wieder Liebesleuten ihre Wünsche so ohne weiteres in Erfüllung gehen zu lassen, sondern sich immer erst zu erkundigen, was sie denn eigentlich haben wollten. Später aber soll er einmal im Vertrauen zum Gabriel gesagt haben: es wäre doch recht schade, dass ihre Wünsche so gar selten von der Art wären, dass er sie gewähren dürfe; und als ich mich vor langer, langer Zeit einmal in ähnlichen Angelegenheiten an ihn wandte, tat er gar nicht, als wenn er es hörte. Nachher erzählte mir der Gabriel diese Geschichte; da konnte ich mich freilich nicht mehr wundern.

Der kleine Mohr und die Goldprinzessin

Es war einmal ein armer kleiner Mohr, der war kohlschwarz und nicht einmal ganz echt in der Farbe, so daß er abfärbte. Abends war sein Hemdkragen stets ganz schwarz, und wenn er seine Mutter anfaßte, sah man alle fünf Finger am Kleid. Deshalb wollte sie es auch nie leiden, sondern stieß und schuppte ihn stets fort, wenn er in ihre Nähe kam. Und bei den anderen Leuten ging es ihm noch schlimmer. Als er vierzehn Jahre alt geworden war, sagten seine Eltern, es sei höchste Zeit, daß er etwas lerne, womit er sich sein Brot verdienen könne. Da bat er sie, soe sollten ihn in die weite Welt hinausziehn und Musikant werden lassen; zu etwas anderem sei er doch nicht zu gebrauchen. Doch sein Vater meinte, das wäre eine brotlose Kunst, und die Mutter wurde gar ganz ärgerlich und erwiderte weiter nichts als: „Dummes Zeug, du kannst nur etwas Schwarzes werden!“ Endlich kamen sie überein, er passe am besten zum Schornsteinfeger. Also brachten sie ihn zu einem Meister in die Lehre, und weil sie sich schämten, daß er ein Mohr war, so sagten sie, sie hätten ihn gleich schwarz gemacht, um zu sehen, wie es ihm stände. So war nun der kleine Mohr Schornsteinfeger und mußte tagaus, tagein in die Essen kriechen. Und die Essen waren oft so eng, daß er Angst hatte, er bliebe stecken. Doch er kam stets glücklich wieder auf dem Dache heraus, obschon es ihm oft so war, als wenn Haut und Haare hängenblieben. Wenn er dann hoch oben auf dem Schornstein saß, wieder Gottes freie Luft atmete und sich die Schwalben um den Kopf fliegen ließ, wurde ihm die Brust so weit, als sollte sie ihm zerspringen. Dann schwenkte er den Besen und rief so laut Ho-i-do! Ho-i-do! wie’s die Schornsteinfeger zu tun pflegen, daß die Leute auf der Straße stehenblieben und sprachen: „Seht einmal den schwarzen Knirps, was der für eine Stimme hat!“ Als er ausgelernt hatte, befahl ihm der Meister, er solle in seine Kammer gehen und sich waschen und ganz fein und nobl anziehen. Er wolle ihn freisprechen, dann wäre er Geselle. Da überkam den armen kleinen Mohr eine Todesangst, denn er sagte sich: „Nun wird alles herauskommen!“ Und das geschah auch; denn als er in seinem besten Staate wieder in die Meisterstube eintrat, wo schon Lehrlinge und Gesellen sich versammelt hatten, war er immer noch sehr schwarz, wenn auch hier und da etwas Helles durchschimmerte, wo er sich das Schwarze in den Essen abgescheuert hatte. Da merkten alle mit Entsetzen, wie es mit ihm stand. Der Meister erklärte, Geselle könne er nun nicht werden, denn er sei ja nicht einmal ein ordentlicher Christenmensch; die Lehrjungen aber fielen über ihn her, zogen ihm die Kleider aus und trugen ihn in den Hof. Dort legten sie ihn trotz alles Sträubens unter die Plumpe, plumpten wacker darauf und rieben ihn mit Strohwisch und Sand, bis ihnen die Armre lahm wurden. Als sie endlich gewahr wurden, daß trotz aller Mühe gar wenig abging, stießen sie ihn unter Scheltworten zur Hoftüre hinaus. Da stand er nun mitten auf der Straße, hilflos und wie ihn der liebe Gott geschaffen, der arme kleine Mohr, und wußte nicht, was anfangen. Da kam durch Zufall ein Mann vorbei, der besah ihn sich von oben bis unten, und als er merkte, daß er ein Mohr war, sagte er, er sei ein vornehmer Herr und wolle ihn in seinen Dienst nehmen. Er solle nichts weiter zu tun bekommen, als hinten auf seinem Wagen stehen, wenn er mit seiner Frau spazierenführe, damit man gleich sähe, daß vornehme Leute kämen. Da besann sich der kleine Mohr nicht lange, sondern ging mit, und anfangs ging alles gut. Denn die Frau des vornehmen Mannes mochte ihn gut leiden, und wenn sie an ihm vorbeiging, streichelte sie ihn jedesmal. Das war ihm in seinem Leben noch nie begegnet. Eines Tages jedoch, da sie auch wieder spazierenfuhren und er hintendrauf stand, erhob sich ein furchtbares Unwetter, und der Regen floß in Strömen. Als sie wieder nach Hause kamen, sah der vornehme Herr, daß es hinten schwarz vom Wagen herabtröpfelte. Da fuhr er den kleinen Mohr barsch an, was das heißen solle. Der erschrak heftig, und weil ihm nichts Besseres einfiel, so antworteteer, die Wolken wären ganz schwarz gewesen, da hätte es gewiß auch schwarz geregnet. „Larifari“, erwiderte der vornehme Herr, der schon merkte, woran’s alg, nahm das Taschentuch, leckte zum Überfluß am Zipfel und fuhr damit dem kleinen Mohr über die Stirn. Da war der Zipfel schwarz. „Dacht‘ ich mir’s doch gleich“, rief er aus, „du bist ja nicht einmal echt! Das ist eine hübsche Entdeckung! Such dir einen anderen Dienst. Ich kann dich nicht gebrauchen!“ Da packte der arme kleine Mohr weinend seine Siebensachen zusammen und wollte gehen. Doch die Frau des vornehmen Mannes rief ihn noch einmal zurück und sagte: es sei recht schade, daß ihr Mann es gemerkt hätte, denn sie wisse es schon lange. Freilich, ein großes Unglück sei es, ein Mohr zu sein, und besonders einer, der abfärbe. Doch er solle nicht verzagen, sondern brav und gut bleiben, dann würde [er] mit der Zeit noch ebenso weiß werden wie die andern Menschen. Darauf schenkte sie ihm eine Geige und einen Spiegel, in dem solle er sich jede Woche einmal besehen. So zog denn der kleine Mohr in die Welt hinaus und wurde Musikant. Einen Meister, der ihm vorspielte, hatte er freilich nicht. Doch er horchte auf das, was die Vögel sangen und was die Büsche und Bäche rauschten, und spielte es ihnen nach. Nachher ward er inne, daß die Blumen im Walde und die Sterne in der dunkeln Mitternacht auch ihre besondere Musik machten, wenn auch eine ganz stille, die nicht jedermann hörte. Das war schon viel schwerer nachzuspielen. Doch das Schwerste lernte er zu allerletzt: so zu spielen, wie die Menschenherzen pochen. Er war wohl schon sehr viel die Kreuz und die Quer umhergewandert und hatte vielerlei erlebt, ehe er das lernte. Und es ging ihm auf seiner Wanderschaft zuweilen gut, meistenteils aber schlecht. Wenn er abends in der Dunkelheit vor irgendeinem Hause haltmachte, ein schönes Lied spielte und um Herberge für die Nacht bat, ließen ihn die Leute wohl ein. Sahen sie aber am andern Morgen, wie schwarz er war und daß man nicht gut tat, sich mit ihm einzulassen, weil er abfärbte, so regnete es spitze Redensarten oder wohl gar Püffe. Deshalb verlor er aber den Mut nicht, sondern dachte an das, was die Frau des vornehmen Mannes zu ihm gesagt hatte, und fiedelte sich weiter von Stadt zu Stadt und von Land zu Land. Jeden Sonntag zog er den Spiegel hervor und sah nach, wieviel abgegangen war. Viel war’s freilich nicht von einem Sonntag zum andern, denn es saß sehr fest, aber doch etwas: und als er fünf Jahre gewandert war, sah man überall die Grundfarbe durchschimmern. Gleichzeitig war er ein solcher Meister auf der Geige geworden, daß, wo er hinkam, jung und alt zusammenströmte, um ihm zuzuhören. – Eines Tages kam er in eine wildfremde Stadt, in der herrschte eine goldene Prinzessin; die hatte Haare von Gold und ein Gesicht von Gold und Hände und Füße von Gold. Sie aß mit einem goldenen Messer und einer goldenen Gabel von einem goldenen Teller, trank goldenen Wein und hatte goldene Kleider an. Kurz alles war golden, was an ihr und um sie war. Im übrigen war sie jedoch über die Maßen stolz und hochmütig, und obschon es ihre Untertanen wünschten, daß sie sich einen Prinzen zum Mann nähme, weil sie meinten, Weiberregiment tauge nichts auf die Dauer, war ihr doch keiner schön und vornehm genug. Jeden Morgen ließen sich etwa sechs Prinzen als Freier bei ihr melden, die abends zuvor mit der Post angekommen waren. Denn weit und breit sprach man von nichts als von der Goldprinzessin und von ihrer Schönheit. Die sechs Prinzen mußten sich dann der Reihe nach vor ihrem Throne aufstellen, und sie besah sich dieselben von allen Seiten. Zuletzt rümpfte sie jedoch jedesmal die Nase und sagte: „Der erste ist budlich,
Der zweite ist schmudlich,
Der dritt hat kein Haar,
Der viert ist nicht gar,
Der fünft ist perplex
Und miesrig der sechst!
Die Kur ist aus.
Jagt mir alle sechse zur Stadt hinaus!“ Alsbald erschienen zwölf riesige Heiducken mit mannslangen Birkenreisern und trieben die ganze Gesellschaft zur Stadt hinaus. So ging es schon seit Jahren alle Tage. – Als der kleine Mohr vernahm, wie wunderschön die Prinzessin war, konnte er an weiter gar nichts denken. Er ging nach ihrem Palaste, setzte sich auf die Treppenstufen, nahm die Geige zur Hand und fing an, sein bestes Lied zu spielen. Vielleicht sieht sie zum Fenster heraus, dachte er, dann bekommst du sie zu sehen. Es währte nicht lange, so befahl die Goldprinzessin ihren drei Kammermädchen nachzusehen, wer draußen so schön spiele. Da brachten sie die Nachricht, es wäre ein Mensch, der habe eine so absonderliche Gesichtsfarbe, wie sie dergleichen noch nie gesehen. Und die eine behauptete, er sei mausgrau; die zweite, er sei hechtgrau, und die dritte gar, er wäre eselsgrau. Darauf meinte jene, das müsse sie selber sehen, sie sollten den Menschen heraufholen. Da gingen die Kammermädchen abermals hinunter und führten ihn herauf, und als er die Prinzessin erblickte, die wirklich über und über von Gold war und wie die Sonne glänzte, war er erst so geblendet, daß er die Augen zumachen mußte. Als er sich aber ein Herz faßte und die Prinzessin ordentlich ansah, da wußte er sich nicht weiter zu helfen; er warf sich vor ihr auf die Knie nieder und sagte: „Allerschönste Goldprinzessin! Ihr seid so schön, wie Ihr es gar nicht wißt! Und wenn Ihr es wißt, so seid Ihr noch hunderttausendmal schöner. Ich bin ein kleiner Mohr, der immer weißer wird; und das Lied, das ich gespielt habe, ist noch lange nicht mein allerschönstes. Einen Mann müßt Ihr durchaus haben; und wenn Ihr mich heiraten wollt, werde ich so vergnügt, daß ich mit gleichen Beinen über den Tisch springen will!“ Als die Prinzessin dies hörte, machte sie zuerst ein Gesicht wie die Gänse, wenn’s wetterleuchtet, denn übermäßig klug war sie gerade nicht, trotz aller ihrer Schönheit, und dann fing sie so laut zu lachen an, daß sie sich die Hüften mit den Händen halten mußte. Und die drei Kammermädchen meinten, sie müßten auch mitlachen, und auf einmal traten noch die zwölf Heiducken herein, und wie sie sahen, wer vor der Goldprinzessin kniete, schlugen auch sie ein Gelächter auf, daß es durch die ganze Stadt schallte. Da befiel den kleinen Mohr ein ungeheurer Schrecken, denn er merkte wohl, daß er etwas Dummes gesagt hatte. Er nahm seine Geige, riß die Tür auf und sprang mit drei Sätzen die Treppe hinab. Dann lief er, ohne sich umzusehen, durch die Straße, querfeldein bis in den nächsten Wald. Dort warf er sich todmüde ins Gras nieder und weinte, als wenn er fortschwimmen wollte. – Doch endlich ward er wieder ruhig und sagte zu sich selbst: Wenn der Kutscher betrunken ist, gehen die Pferde durch! Bist du klug oder bist du dumm? Die Goldprinzessin wolltest du heiraten? Ganz dumm bist du! Da darfst du dich nicht wundern, wenn die Leute dich auslachen. Damit hing er sich die Geige wieder über den Rücken, pfiff sich eins und wanderte weiter und zog wie zuvor von Stadt zu Stadt und von Land zu Land. Und von Jahr zu Jahr wurde er immer weißer, und die Leute gewannen ihn immer lieber, denn die Lieder, die er sich ausdachte, wurden immer schöner, und kein Mensch konnte sich mit ihm auf der Geige messen. Und als er groß und ein Mann geworden war, sah er ganz weiß aus, ja selbst weißer und reiner als die meisten andern Leuten. Niemand wollte glauben, daß er früher ein Mohr gewesen sei.– Es trug sich zu, daß er auch einmal in einen Flecken kam, wo gerade Jahrmarkt war. Da sah er eine Bude mit einem roten Vorhang, der war früher einmal neu gewesen, jetzt aber zerlumpt und voller Flecke. Davor stand ein wüster Gesell mit einer bunten Jacke, der stieß in die Trompete und rief, die Leute möchten doch eintreten, es wären die größten Wunder der Welt zu sehen: ein Kalb mit zwei Köpfen, das zweimal fräße und bloß einmal verdaute, ein Schwein, das die Karten legen und wahrsagen könnte, und die hochberühmte, wunderschöne Goldprinzessin, um die sich alle Männer gerissen hätten. „Das kann doch nicht deine Goldprinzessin sein?“ sagte er, ging jedoch trotzdem hinein. Da war es ihm, als solle er vor Schreck in die Erde sinken; denn sie war es wirklich. Aber das Gold war fast überall ab, und er sah, daß sie nur von Blech war. „Heiliger Gott!“ rief er aus, „wie kommst du hierher und wie siehst du aus?“ „Was ist denn?“ erwiderte sie, als wenn gar nichts wäre. Nachdem sie sich jedoch überlegt, daß er sie gewiß schon früher einmal gesehen, wie sie noch ganz golden war, fügte sie zornig hinzu: „Glaubst du etwa, daß man ewig hält, du alberner Laffe? Zupf dich an deiner eigenen Nase!“ Da hätte er beinahe laut aufgelacht, denn er sah, daß sie ihn nicht erkannt. Doch sie tat ihm viel zu leid, und so fragte er nur leise, ob sie denn gar nicht wisse, wer er sei. Er wäre der kleine Mohr, den sie vorzeiten einmal so sehr ausgelacht hätte. Nun war die Reihe an ihr, ganz still zu werden und sich zu schämen, und unter vielem Schluchzen erzählte sie, wie erst an ein paar Stellen und dann fast überall das Gold heruntergegangen sei; wie sie das ihren Untertanen lange verborgen und wie diese es endlich doch gemerkt und sie fortgejagt hätten. Nun zöge sie auf den Jahrmärkten umher, habe es aber satt, und wenn er noch so dächte wie früher, wollte sie ihn gern heiraten. Darauf erwiderte er sehr ernsthaft, er bedaure sie zwar von Herzen, sei aber schon viel zu verständig, um eine Blechprinzessin zu heiraten. Er hoffe bestimmt, noch einmal eine viel bessere Frau zu bekommen wie sie. Damit ging er zur Bude hinaus und ließ die Blechprinzessin stehen, die vor Wut beinahe platzte und ihm, während er ging, fortwährend nachrief: „Mohrenjunge, Mohrenjunge! kohlschwarzer Mohrenjunge, der abfärbt!“ und ähnliches. Doch niemand wußte, wen sie damit meinte, da er ja längst auch nicht ein Tüpfchen Schwarzes mehr an sich hatte. Er ging daher sittsam weiter, ohne sich auch nur umzusehen, und war froh, daß er in seinem Leben nie wieder etwas von der abscheulichen Person erfuhr. Eine Zeitlang setzte er noch sein altes Wanderleben fort; als er aber fast die ganze Welt gesehen hatte und anfing, des Umherziehens müde zu werden, da traf es sich, daß der König von seinem Spiel hörte und ihn rufen ließ. Ein Lied nach dem andern mußte er ihm bis in die späte Mitternacht vorspielen, und zuletzt stieg der König von seinem Thron, umarmte ihn und fragte, ob er sein bester Freund werden wolle. Als er dies bejahte, ließ ihn der König in seinem goldenen Wagen durch die Stadt fahren und schenkte ihm ein Haus und so viel Geld, daß er sein Lebtag daran genug hatte. Und eine Frau bekam er auch. Zwar keine Prinzessin und noch weniger eine über und über goldene, aber eine Frau, die ein goldenes Herz hatte. Mit der lebte er vergnügt und hochgeehrt bis an sein spätes Ende. Die Blechprinzessin aber ward von Tag zu Tag unscheinbarer, und als das letzte bißchen Gold abgegangen war, wurde sie so viel hin und her geworfen, daß sie lauter Buckel und Dellen bekam. Zuletzt kam sie zu einem Trödler. Dort steht sie noch heute in der Ecke zwischen allerhand Tand und Kram und hat Zeit zu bedenken, daß vielerlei abgeht im Leben, Hübsches wie Häßliches, und daß alles darauf ankommt, was drunter ist.