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Das Wirtshaus im Spessart

Vor vielen Jahren, als im Spessart die Wege noch schlecht und nicht so häufig als jetzt befahren waren, zogen zwei junge Burschen durch diesen Wald. Der eine mochte achtzehn Jahre alt sein und war ein Zirkelschmied, der andere, ein Goldarbeiter, konnte nach seinem Aussehen kaum sechzehn Jahre haben und tat wohl jetzt eben seine erste Reise in die Welt. Der Abend war schon heraufgekommen, und die Schatten der riesengroßen Fichten und Buchen verfinsterten den schmalen Weg, auf dem die beiden wanderten. Der Zirkelschmied schritt wacker vorwärts und pfiff ein Lied, schwatzte auch zuweilen mit Munter, seinem Hund, und schien sich nicht viel darum zu kümmern, daß die Nacht nicht mehr fern, desto ferner aber die nächste Herberge sei; aber Felix, der Goldarbeiter, sah sich oft ängstlich um. Wenn der Wind durch die Bäume rauschte, so war es ihm, als höre er Tritte hinter sich; wenn das Gesträuch am Wege hin und her wankte und sich teilte, glaubte er Gesichter hinter den Büschen lauern zu sehen.

Der junge alte Goldschmied war sonst nicht abergläubisch oder mutlos. In Würzburg, wo er gelernt hatte, galt er unter seinen Kameraden für einen unerschrockenen Burschen, dem das Herz am rechten Fleck sitze; aber heute war ihm doch sonderbar zumute. Man hatte ihm vom Spessart so mancherlei erzählt; eine große Räuberbande sollte dort ihr Wesen treiben, viele Reisende waren in den letzten Wochen geplündert worden, ja man sprach sogar von einigen greulichen Mordgeschichten, die vor nicht langer Zeit dort vorgefallen seien. Da war ihm nun doch etwas bange für sein Leben, denn sie waren ja nur zu zweit und konnten gegen bewaffnete Räuber gar wenig ausrichten. Oft gereute es ihn, daß er dem Zirkelschmied gefolgt war, noch eine Station zu gehen, statt am Eingang des Waldes über Nacht zu bleiben.

»Und wenn ich heute nacht totgeschlagen werde und um Leben und alles komme, was ich bei mir habe, so ist’s nur deine Schuld, Zirkelschmied; denn du hast mich in den schrecklichen Wald hereingeschwätzt.«

»Sei kein Hasenfuß«, erwiderte der andere, »ein rechter Handwerksbursche soll sich eigentlich gar nicht fürchten. Und was meinst du denn? Meinst du, die Herren Räuber im Spessart werden uns die Ehre antun, uns zu überfallen und totzuschlagen? Warum sollten sie sich diese Mühe geben? Etwa wegen meines Sonntagsrocks, den ich im Ranzen habe, oder wegen des Zehrpfennigs von einem Taler? Da muß man schon mit Vieren fahren, in Gold und Seide gekleidet sein, wenn sie es der Mühe wert finden, einen totzuschlagen.«

»Halt! Hörst du nicht etwas pfeifen im Wald?« rief Felix ängstlich.

»Das war der Wind, der um die Bäume pfeift, geh nur rasch vorwärts, lange kann es nicht mehr dauern.«

»Ja, du hast gut reden wegen des Totschlagens«, fuhr der Goldarbeiter fort. »Dich fragen sie, was du hast, durchsuchen dich und nehmen dir allenfalls den Sonntagsrock und den Gulden und dreißig Kreuzer; aber mich, mich schlagen sie gleich anfangs tot, nur weil ich Gold und Geschmeide mit mir führe. «

»Ei, warum sollten sie dich totschlagen deswegen? Kämen jetzt vier oder fünf dort aus dem Busch mit geladenen Büchsen, die sie auf uns anlegten, und fragten ganz höflich: „Ihr Herren, was habt ihr bei euch?“ und „Machet es euch bequem, wir wollen’s euch tragen helfen“, und was dergleichen anmutige Redensarten sind; da wärest du wohl kein Tor, machtest dein Ränzchen auf und legtest die gelbe Weste, den blauen Rock, zwei Hemden und alle Halsbänder und Armbänder und Kämme, und was du sonst noch hast, höflich auf die Erde und bedanktest dich fürs Leben, das sie dir schenkten.«

»So, meinst du«, entgegnete Felix sehr eifrig, »den Schmuck für meine Frau Pate, die vornehme Gräfin, soll ich hergeben? Eher mein Leben; eher laß ich mich in kleine Stücke zerschneiden. Hat sie nicht Mutterstelle an mir vertreten und seit meinem zehnten Jahr mich aufziehen lassen? Hat sie nicht die Lehre für mich bezahlt und Kleider und alles? Und jetzt, da ich sie besuchen darf und etwas mitbringe von meiner eigenen Arbeit, das sie beim Meister bestellt hat, jetzt, da ich ihr an dem schönen Geschmeide zeigen könnte, was ich gelernt habe, jetzt soll ich das alles hergeben und die gelbe Weste dazu, die ich auch von ihr habe? Nein, lieber sterben, als daß ich den schlechten Menschen meiner Frau Pate Geschmeide gebe!«

»Sei kein Narr!« rief der Zirkelschmied. »Wenn sie dich totschlagen, bekommt die Frau Gräfin den Schmuck dennoch nicht. Drum ist es besser, du gibst ihn her und erhältst dein Leben.«

Felix antwortete nicht; die Nacht war jetzt ganz heraufgekommen, und bei dem ungewissen Schein des Neumonds konnte man kaum auf fünf Schritte vor sich sehen; er wurde immer ängstlicher, hielt sich näher an seinen Kameraden und war mit sich uneinig, ob er seine Reden und Beweise billigen sollte oder nicht. Noch eine Stunde beinahe waren sie fortgegangen, da erblickten sie in der Ferne ein Licht. Der junge Goldschmied meinte aber, man dürfe nicht trauen, vielleicht könnte es ein Räuberhaus sein, aber der Zirkelschmied belehrte ihn, daß die Räuber ihre Häuser oder Höhlen unter der Erde haben, und dies müsse das Wirtshaus sein, das ihnen ein Mann am Eingang des Waldes beschrieben.

Es war ein langes, aber niedriges Haus, ein Karren stand davor, und nebenan im Stalle hörte man Pferde wiehern. Der Zirkelschmied winkte seinen Gesellen an ein Fenster, dessen Laden geöffnet waren. Sie konnten, wenn sie sich auf die Zehen stellten, die Stube übersehen. Am Ofen in einem Armstuhl schlief ein Mann, der seiner Kleidung nach ein Fuhrmann und wohl auch der Herr des Karrens vor der Türe sein konnte. An der andern Seite des Ofens saßen ein Weib und ein Mädchen und spannen; hinter dem Tisch an der Wand saß ein Mensch, der ein Glas Wein vor sich, den Kopf in die Hände gestützt hatte, so daß sie sein Gesicht nicht sehen konnten. Der Zirkelschmied aber wollte aus seiner Kleidung bemerken, daß es ein vornehmer Herr sein müsse.

Als sie so noch auf der Lauer standen, schlug ein Hund im Hause an. Munter, des Zirkelschmieds Hund, antwortete, und eine Magd erschien in der Türe und schaute nach den Fremden heraus.

Man versprach, ihnen Nachtessen und Betten geben zu können; sie traten ein und legten die schweren Bündel, Stock und Hut in die Ecke und setzten sich zu dem Herrn am Tische. Dieser richtete sich bei ihrem Gruße auf, und sie erblickten einen feinen jungen Mann, der ihnen freundlich für ihren Gruß dankte.

»Ihr seid spät auf der Bahn«, sagte er, »habt Ihr Euch nicht gefürchtet, in so dunkler Nacht durch den Spessart zu reisen? Ich für meinen Teil habe lieber mein Pferd in dieser Schenke eingestellt, als daß ich nur noch eine Stunde geritten wäre.«

»Da habt Ihr allerdings recht gehabt, Herr!« erwiderte der Zirkelschmied. »Der Hufschlag eines schönen Pferdes ist Musik in den Ohren dieses Gesindels und lockt sie auf eine Stunde weit; aber wenn ein paar arme Burschen wie wir durch den Wald schleichen, Leute, welchen die Räuber eher selbst etwas schenken könnten, da heben sie keinen Fuß auf!«

»Das ist wohl wahr«, entgegnete der Fuhrmann, der, durch die Ankunft der Fremden erweckt, auch an den Tisch getreten war, »einem armen Mann können sie nicht viel anhaben seines Geldes willen; aber man hat Beispiele, daß sie arme Leute nur aus Mordlust niederstießen oder sie zwangen, unter die Bande zu treten und als Räuber zu dienen.«

»Nun, wenn es so aussieht mit diesen Leuten im Wald«, bemerkte der junge Goldschmied, »so wird uns wahrhaftig auch dieses Haus wenig Schutz gewähren. Wir sind nur zu viert und mit dem Hausknecht fünf; wenn es ihnen einfällt, zu zehnt uns zu überfallen, was können wir gegen sie? Und überdies«, setzte er leise und flüsternd hinzu, »wer steht uns dafür, daß diese Wirtsleute ehrlich sind?«

»Da hat es gute Wege«, erwiderte der Fuhrmann. »Ich kenne diese Wirtschaft seit mehr als zehn Jahren und habe nie etwas Unrechtes darin verspürt. Der Mann ist selten zu Hause, man sagt, er treibe Weinhandel; die Frau aber ist eine stille Frau, die niemand Böses will; nein, dieser tut Ihr unrecht, Herr!«

»Und doch«, nahm der junge vornehme Herr das Wort, »doch möchte ich nicht so ganz verwerfen, was er gesagt. Erinnert Euch an die Gerüchte von jenen Leuten, die in diesem Wald auf einmal spurlos verschwunden sind. Mehrere davon hatten vorher gesagt, sie würden in diesem Wirtshaus übernachten, und als man nach zwei oder drei Wochen nichts von ihnen vernahm, ihrem Weg nachforschte und auch hier im Wirtshaus nachfragte, da soll nun keiner gesehen worden sein; verdächtig ist es doch.«

»Weiß Gott«, rief der Zirkelschmied, »da handelten wir ja vernünftiger, wenn wir unter dem nächsten Baum unser Nachtlager nähmen als hier in diesen vier Wänden, wo an kein Entspringen zu denken ist, wenn sie einmal die Türe besetzt haben; denn die Fenster sind vergittert.«

Sie waren alle durch diese Reden nachdenklich geworden. Es schien gar nicht unwahrscheinlich, daß die Schenke im Wald, sei es gezwungen oder freiwillig, im Einverständnis mit den Räubern war. Die Nacht schien ihnen daher gefährlich; denn wie manche Sage hatten sie gehört von Wanderern, die man im Schlaf überfallen und gemordet hatte; und sollte es auch nicht an ihr Leben gehen, so war doch ein Teil der Gäste in der Waldschenke von so beschränkten Mitteln, daß ihnen ein Raub an einem Teil ihrer Habe sehr empfindlich gewesen wäre. Sie schauten verdrießlich und düster in ihre Gläser. Der junge Herr wünschte, auf seinem Roß durch ein sicheres, offenes Tal zu traben, der Zirkelschmied wünschte sich zwölf seiner handfesten Kameraden, mit Knütteln bewaffnet, als Leibgarde, Felix, der Goldarbeiter, trug bange mehr um den Schmuck seiner Wohltäterin als um sein Leben; der Fuhrmann aber, der einigemal den Rauch seiner Pfeife nachdenklich vor sich hingeblasen, sprach leise: »Ihr Herren, im Schlaf wenigstens sollen sie uns nicht überfallen. Ich für meinen Teil will, wenn nur noch einer mit mir hält, die ganze Nacht wach bleiben.«

»Das will ich auch« – »ich auch«, riefen die drei übrigen; »schlafen könnte ich doch nicht«, setzte der junge Herr hinzu. »Nun, so wollen wir etwas treiben, daß wir wach bleiben«, sagte der Fuhrmann, »ich denke, weil wir doch gerade zu viert sind, könnten wir Karten spielen, das hält wach und vertreibt die Zeit.«

»Ich spiele niemals Karten«, erwiderte der junge Herr, »darum kann ich wenigstens nicht mithalten.«

»Und ich kenne die Karten gar nicht«, setzte Felix hinzu.

»Was können wir denn aber anfangen, wenn wir nicht spielen«, sprach der Zirkelschmied, »singen? Das geht nicht und würde nur das Gesindel herbeilocken; einander Rätsel und Sprüche aufgeben zum Erraten? Das dauert auch nicht lange. Wißt ihr was? Wie wäre es, wenn wir uns etwas erzählten? Lustig oder ernsthaft, wahr oder erdacht, es hält doch wach und vertreibt die Zeit so gut wie Kartenspiel.«

»Ich bin’s zufrieden, wenn Ihr anfangen wolltet«, sagte der junge Herr lächelnd. »Ihr Herren vom Handwerk kommt in allen Ländern herum und könnet schon etwas erzählen; hat doch jede Stadt ihre eigenen Sagen und Geschichten.«

»Ja, ja, man hört manches«, erwiderte der Zirkelschmied, »dafür studieren Herren wie Ihr fleißig in den Büchern, wo gar wundervolle Sachen geschrieben stehen; da wüßtet Ihr noch Klügeres und Schöneres zu erzählen als ein schlichter Handwerksbursche wie unsereiner. Mich müßte alles trügen, oder Ihr seid ein Student, ein Gelehrter.«

»Ein Gelehrter nicht«, lächelte der junge Herr, »wohl aber ein Student und will in den Ferien nach der Heimat reisen; doch was in unsern Büchern steht, eignet sich weniger zum Erzählen, als was Ihr hier und dort gehöret. Darum hebet immer an, wenn anders diese da gerne zuhören!«

»Noch höher als Kartenspiel«, erwiderte der Fuhrmann, »gilt bei mir, wenn einer eine schöne Geschichte erzählt. Oft fahre ich auf der Landstraße lieber im elendesten Schritt und höre einem zu, der nebenhergeht und etwas Schönes erzählt; manchen habe ich schon im schlechten Wetter auf den Karren genommen, unter der Bedingung, daß er etwas erzähle, und einen Kameraden von mir habe ich, glaube ich, nur deswegen so lieb, weil er Geschichten weiß, die sieben Stunden lang und länger dauern.«

»So geht es auch mir«, setzte der junge Goldarbeiter hinzu, »erzählen höre ich für mein Leben gerne, und mein Meister in Würzburg mußte mir die Bücher ordentlich verbieten, daß ich nicht zuviel Geschichten las und die Arbeit darüber vernachlässigte. Darum gib nur etwas Schönes preis, Zirkelschmied, ich weiß, du könntest erzählen von jetzt an, bis es Tag wird, ehe dein Vorrat ausginge.«

Der Zirkelschmied trank, um sich zu seinem Vortrag zu stärken, und hub alsdann also an: Die Sage vom Hirschguldenweiter

»Das ist die Sage von dem Hirschgulden«, endete der Zirkelschmied, »und wahr soll sie sein. Der Wirt in Dürrwangen, das nicht weit von den drei Schlössern liegt, hat sie meinem guten Freund erzählt, der oft als Wegweiser über die schwäbische Alb ging und immer in Dürrwangen einkehrte.«

Die Gäste gaben dem Zirkelschmied Beifall. »Was man doch nicht alles hört in der Welt«, rief der Fuhrmann. »Wahrhaftig, jetzt erst freut es mich, daß wir die Zeit nicht mit Kartenspielen verderbten, so ist es wahrlich besser; und gemerkt habe ich mir die Geschichte, daß ich sie morgen meinen Kameraden erzählen kann, ohne ein Wort zu fehlen.«

»Mir fiel da, während Ihr so erzähltet, etwas ein«, sagte der Student.

»O erzählet, erzählet!« baten der Zirkelschmied und Felix.

»Gut«, antwortete jener, »ob die Reihe jetzt an mich kommt oder später, ist gleichviel; ich muß ja doch heimgehen, was ich gehört. Das, was ich erzählen will, soll sich wirklich einmal begeben haben.«

Er setzte sich zurecht und wollte eben anheben zu erzählen, als die Wirtin den Spinnrocken beiseitesetzte und zu den Gästen an den Tisch trat. »Jetzt, ihr Herren, ist es Zeit, zu Bette zu gehen«, sagte sie, »es hat neun Uhr geschlagen, und morgen ist auch ein Tag.«

»Ei, so gehe zu Bette!« rief der Student, »setze noch eine Flasche Wein für uns hierher, und dann wollen wir dich nicht länger abhalten.«

»Mitnichten«, entgegnete sie grämlich, »solange noch Gäste in der Wirtsstube sitzen, können Wirtin und Dienstboten nicht weggehen. Und kurz und gut, ihr Herren, machet, daß ihr auf eure Kammern kommet; mir wird die Zeit lange, und länger als neun Uhr darf in meinem Hause nicht gezecht werden.«

»Was fällt Euch ein, Frau Wirtin?« sprach der Zirkelschmied staunend, »was schadet es denn Euch, ob wir hier sitzen, wenn Ihr auch schon längst schlafet; wir sind rechtliche Leute und werden Euch nichts hinwegtragen, noch ohne Bezahlung fortgehen. Aber so lasse ich mir in keinem Wirtshaus ausbieten.«

Die Frau rollte zornig die Augen: »Meint ihr, ich werde wegen jedem Lumpen von Handwerksburschen, wegen jedem Straßenläufer, der mir zwölf Kreuzer zu verdienen gibt, meine Hausordnung ändern? Ich sag‘ euch jetzt zum letztenmal, daß ich den Unfug nicht leide!«

Noch einmal wollte der Zirkelschmied etwas entgegnen; aber der Student sah ihn bedeutend an und winkte mit den Augen den übrigen. »Gut«, sprach er, »wenn es denn die Frau Wirtin nicht haben will, so laßt uns auf unsere Kammern gehen. Aber Lichter möchten wir gerne haben, um den Weg zu finden.«

»Damit kann ich nicht dienen«, entgegnete sie finster, »die andern werden schon den Weg im Dunkeln finden, und für Euch ist dies Stümpfchen hier hinlänglich; mehr habe ich nicht im Hause.«

Schweigend nahm der junge Herr das Licht und stand auf. Die andern folgten ihm, und die Handwerksburschen nahmen ihre Bündel, um sie in der Kammer bei sich niederzulegen. Sie gingen dem Studenten nach, der ihnen die Treppe hinanleuchtete.

Als sie oben angekommen waren, bat sie der Student, leise aufzutreten, schloß sein Zimmer auf und winke ihnen herein. »Jetzt ist kein Zweifel mehr«, sagte er, »sie will uns verraten; habt ihr nicht bemerkt, wie ängstlich sie uns zu Bett zu bringen suchte, wie sie uns alle Mittel abschnitt, wach und beisammen zu bleiben? Sie meint wahrscheinlich, wir werden uns jetzt niederlegen und dann werde sie um so leichteres Spiel haben.«

»Aber meint Ihr nicht, wir könnten noch entkommen?« fragte Felix. »Im Wald kann man doch eher auf Rettung denken als hier im Zimmer.«

»Die Fenster sind auch hier vergittert«, rief der Student, indem er vergebens versuchte, einen der Eisenstäbe des Gitters loszumachen. »Uns bleibt nur ein Ausweg, wenn wir entweichen wollen, durch die Haustüre; aber ich glaube nicht, daß sie uns fortlassen werden.«

»Es käme auf den Versuch an«, sprach der Fuhrmann, »ich will einmal probieren, ob ich bis in den Hof kommen kann. Ist dies möglich, so kehre ich zurück und hole euch nach.« Die übrigen billigten diesen Vorschlag, der Fuhrmann legte die Schuhe ab und schlich sich auf den Zehen nach der Treppe; ängstlich lauschten seine Genossen oben im Zimmer; schon war er die eine Hälfte der Treppe glücklich und unbemerkt hinabgestiegen; aber als er sich dort um einen Pfeiler wandte, richtete sich plötzlich eine ungeheure Dogge vor ihm in die Höhe, legte ihre Tatzen auf seine Schultern und wies ihm, gerade seinem Gesicht gegenüber, zwei Reihen langer, scharfer Zähne . Er wagte weder vor- noch rückwärts auszuweichen; denn bei der geringsten Bewegung schnappte der entsetzliche Hund nach seiner Kehle. Zugleich fing er an zu heulen und zu bellen, und alsobald erschienen der Hausknecht und die Frau mit Lichtern .

»Wohin, was wollt Ihr?« rief die Frau.

»Ich habe noch etwas in meinem Karren zu holen«, antwortete der Fuhrmann, am ganzen Leibe zitternd; denn als die Türe aufgegangen war, hatte er mehrere braune, verdächtige Gesichter, Männer mit Büchsen in der Hand, im Zimmer bemerkt.

»Das hättet Ihr alles auch vorher abmachen können«, sagte die Wirtin mürrisch. »Fassan, daher! Schließ die Hoftüre zu, Jakob, und leuchte dem Mann an seinen Karren!« Der Hund zog seine greuliche Schnauze und seine Tatzen von der Schulter des Fuhrmanns zurück und lagerte sich wieder quer über die Treppe; der Hausknecht aber hatte das Hoftor zugeschlossen und leuchtete dem Fuhrmann. An ein Entkommen war nicht zu denken. Aber als er nachsann, was er denn eigentlich aus dem Karren holen sollte, fiel ihm ein Pfund Wachslichter ein, die er in die nächste Stadt überbringen sollte. »Das Stümpfchen Licht oben kann kaum noch eine Viertelstunde dauern«, sagte er zu sich, »und Licht müssen wir dennoch haben!« Er nahm also zwei Wachskerzen aus dem Wagen, verbarg sie in dem Ärmel und holte dann zum Schein seinen Mantel aus dem Karren, womit er sich, wie er dem Hausknecht sagte, heute nacht bedecken wolle.

Glücklich kam er wieder auf dem Zimmer an. Er erzählte von dem großen Hund, der als Wache an der Treppe liege, von den Männern, die er flüchtig gesehen, von allen Anstalten, die man gemacht, um sich ihrer zu versichern, und schloß damit, daß er seufzend sagte: »Wir werden diese Nacht nicht überleben.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Student, »für so töricht kann ich diese Leute nicht halten, daß sie wegen des geringen Vorteils, den sie von uns hätten, vier Menschen ans Leben gehen sollten. Aber verteidigen dürfen wir uns nicht. Ich für meinen Teil werde wohl am meisten verlieren; mein Pferd ist schon in ihren Händen, es kostete mich fünfzig Dukaten noch vor vier Wochen; meine Börse, meine Kleider gebe ich willig hin; denn mein Leben ist mir am Ende doch lieber als alles dies.«

»Ihr habt gut reden«, erwiderte der Fuhrmann, »solche Sachen, wie Ihr sie verlieren könnt, ersetzt Ihr Euch leicht wieder; aber ich bin der Bote von Aschaffenburg und habe allerlei Güter auf meinem Karren, und im Stall zwei schöne Rosse, meinen einzigen Reichtum.«

»Ich kann unmöglich glauben, daß sie Euch ein Leides tun werden«, bemerkte der Goldschmied, »einen Boten zu berauben, würde schon viel Geschrei und Lärmen im Land machen. Aber dafür bin ich auch, was der Herr dort sagt; lieber will ich gleich alles hergeben, was ich habe, und mit einem Eid versprechen, nichts zu sagen, ja niemals zu klagen, als mich gegen Leute, die Büchsen und Pistolen haben, um meine geringe Habe wehren.«

Der Fuhrmann hatte während dieser Reden seine Wachskerzen hervorgezogen. Er klebte sie auf den Tisch und zündete sie an. »So laßt uns in Gottes Namen erwarten, was über uns kommen wird«, sprach er, »wir wollen uns wieder zusammen niedersetzen und durch Sprechen den Schlaf abhalten.« »Das wollen wir«, antwortete der Student, »und weil vorhin die Reihe an mir stehengeblieben war, will ich euch etwas erzählen.« Das kalte Herz

Bei diesen Worten wurde der Erzähler durch ein Geräusch vor der Schenke unterbrochen. Man hörte einen Wagen anfahren, mehrere Stimmen riefen nach Licht, es wurde heftig an das Hoftor gepocht, und dazwischen heulten mehrere Hunde. Die Kammer, die man dem Fuhrmann und den Handwerksburschen angewiesen hatte, ging nach der Straße hinaus; die vier Gäste sprangen auf und liefen dorthin, um zu sehen, was vorgefallen sei. Soviel sie bei dem Schein einer Laterne sehen konnten, stand ein großer Reisewagen vor der Schenke; soeben war ein großer Mann beschäftigt, zwei verschleierte Frauen aus dem Wagen zu heben, und einen Kutscher in Livree sah man die Pferde abspannen, ein Bediensteter aber schnallte den Koffer los. »Diesen sei Gott gnädig«, seufzte der Fuhrmann. »Wenn diese mit heiler Haut aus der Schenke kommen, so ist mir für meinen Karren auch nicht mehr bange.«

»Stille!« flüsterte der Student. »Mir ahnet, daß man eigentlich nicht uns, sondern dieser Dame auflauert; wahrscheinlich waren sie unten schon von ihrer Reise unterrichtet. Wenn man sie nur warnen könnte! Doch halt! Es ist im ganzen Wirtshaus kein anständiges Zimmer für die Damen als das neben dem meinigen. Dorthin wird man sie führen. Bleibet ihr ruhig in dieser Kammer; ich will die Bediensteten zu unterrichten suchen.«

Der junge Mann schlich sich auf sein Zimmer, löschte die Kerzen aus und ließ nur das Licht brennen, das ihm die Wirtin gegeben. Dann lauschte er an der Türe.

Bald kam die Wirtin mit den Damen die Treppe herauf und führte sie mit freundlichen, sanften Worten in das Zimmer nebenan. Sie redete ihren Gästen zu, sich bald niederzulegen, weil sie von der Reise erschöpft sein würden; dann ging sie wieder hinab. Bald darauf hörte der Student schwere männliche Tritte die Treppe heraufkommen. Er öffnete behutsam die Türe und erblickte durch eine kleine Spalte den großen Mann, welcher die Damen aus dem Wagen gehoben. Er trug ein Jagdkleid und hatte einen Hirschfänger an der Seite und war wohl der Reisestallmeister oder Begleiter der fremden Damen. Als der Student merkte, daß dieser allein heraufgekommen war, öffnete er schnell die Tür und winkte dem Mann, zu ihm einzutreten. Verwundert trat dieser näher, und ehe er noch fragen konnte, was man von ihm wolle, flüsterte ihm jener zu: »Mein Herr! Sie sind heute nacht in eine Räuberschenke geraten.«

Der Mann erschrak; der Student zog ihn aber vollends in seine Türe und erzählte ihm, wie verdächtig es in diesem Hause aussehe.

Der Jäger wurde sehr besorgt, als er dies hörte; er belehrte den jungen Mann, daß die Damen, eine Gräfin und ihre Kammerfrau, anfänglich die ganze Nacht durch haben fahren wollen; aber etwa eine halbe Stunde von dieser Schenke sei ihnen ein Reiter begegnet, der sie angerufen und gefragt habe, wohin sie reisen wollten. Als er vernommen, daß sie gesonnen seien, die ganze Nacht durch den Spessart zu reisen, habe er ihnen abgeraten, indem es gegenwärtig sehr unsicher sei. »Wenn Ihnen am Rat eines redlichen Mannes etwas liegt«, habe er hinzugesetzt, »so stehen Sie ab von diesem Gedanken; es liegt nicht weit von hier eine Schenke; so schlecht und unbequem sie sein mag, so übernachten Sie lieber daselbst, als daß Sie sich in dieser dunklen Nacht unnötig der Gefahr preisgeben.« Der Mann, der ihnen dies geraten, habe sehr ehrlich und rechtlich ausgesehen, und die Gräfin habe in der Angst vor einem Räuberanfall befohlen, an dieser Schenke stille zu halten.

Der Jäger hielt es für seine Pflicht, die Damen von der Gefahr, worin sie schwebten, zu unterrichten. Er ging in das andere Zimmer, und bald darauf öffnete er die Türe, welche von dem Zimmer der Gräfin in das des Studenten führte. Die Gräfin, eine Dame von etwa vierzig Jahren, trat, vor Schrecken bleich, zu dem Studenten heraus und ließ sich alles noch einmal von ihm wiederholen. Dann beriet man sich, was in dieser mißlichen Lage zu tun sei, und beschloß, so behutsam als möglich die zwei Bediensteten, den Fuhrmann und die Handwerksburschen herbeizuholen, um im Fall eines Angriffs wenigstens gemeinsame Sache machen zu können.

Als dieses bald darauf geschehen war, wurde das Zimmer der Gräfin gegen den Hausflur hin verschlossen und mit Kommoden und Stühlen verrammelt. Sie setzte sich mit ihrer Kammerfrau aufs Bette, und die zwei Bediensteten hielten bei ihr Wache. Die früheren Gäste aber und der Jäger setzten sich im Zimmer des Studenten um den Tisch und beschlossen, die Gefahr zu erwarten. Es mochte jetzt etwa zehn Uhr sein, im Hause war alles ruhig und still, und noch machte man keine Miene, die Gäste zu stören. Da sprach der Zirkelschmied: »Um wach zu bleiben, wäre es wohl das beste, wir machten es wieder wie zuvor; wir erzählten nämlich, was wir von allerlei Geschichten wissen, und wenn der Herr Jäger nichts dagegen hat, so könnten wir weiter fortfahren.« Der Jäger aber hatte nicht nur nichts dagegen einzuwenden, sondern um seine Bereitwilligkeit zu zeigen, versprach er, selbst etwas zu erzählen. Er hub an: Saids Schicksale

»Bei solcher Unterhaltung käme mir kein Schlaf in die Augen, wenn ich auch zwei, drei und mehrere Nächte wach bleiben müßte«, sagte der Zirkelschmied, als der Jäger geendigt hatte. »Und oft schon habe ich dies bewährt gefunden. So war ich in früherer Zeit als Geselle bei einem Glockengießer. Der Meister war ein reicher Mann und kein Geizhals; aber eben darum wunderten wir uns nicht wenig, als wir einmal eine große Arbeit hatten, und er, ganz gegen seine Gewohnheit, so knickerig als möglich erschien. Es wurde in die neue Kirche eine Glocke gegossen, und wir Jungen und Gesellen mußten die ganze Nacht am Herd sitzen und das Feuer hüten. Wir glaubten nicht anders, als der Meister werde sein Mutterfäßchen anstechen und uns den besten Wein vorsetzen. Aber nicht also. Er ließ nur alle Stunden einen Umtrank tun und fing an, von seiner Wanderschaft, von seinem Leben allerlei Geschichten zu erzählen; dann kam es an den Obergesellen, und so nach der Reihe, und keiner von uns wurde schläfrig, denn begierig horchten wir alle zu. Ehe wir uns dessen versahen, war es Tag. Da erkannten wir die List des Meisters, daß er uns durch Reden habe wach halten wollen. Denn als die Glocke fertig war, schonte er seinen Wein nicht und holte ein, was er weislich in jener Nacht versäumte.«

»Das ist ein vernünftiger Mann«, erwiderte der Student, »gegen den Schlaf, das ist gewiß, hilft nichts als Reden. Darum möchte ich diese Nacht nicht einsam bleiben, weil ich mich gegen elf Uhr hin des Schlafes nicht erwehren könnte.«

»Das haben auch die Bauersleute wohlbedacht«, sagte der Jäger, »wenn die Frauen und Mädchen in den langen Winterabenden bei Licht spinnen, so bleiben sie nicht einsam zu Hause, weil sie da wohl mitten unter der Arbeit einschliefen, sondern sie kommen zusammen in den sogenannten Lichtstuben, setzen sich in großer Gesellschaft zur Arbeit und erzählen.«

»Ja«, fiel der Fuhrmann ein, »da geht es oft recht greulich zu, daß man sich ordentlich fürchten möchte, denn sie erzählen von feurigen Geistern, die auf der Wiese gehen, von Kobolden, die nachts in den Kammern poltern, und von Gespenstern, die Menschen und Vieh ängstigen.«

»Da haben sie nun freilich nicht die beste Unterhaltung«, entgegnete der Student. »Mir, ich gestehe es, ist nichts so verhaßt als Gespenstergeschichten.«

»Ei, da denke ich gerade das Gegenteil«, rief der Zirkelschmied. »Mir ist es recht behaglich bei einer rechten Schauergeschichte. Es ist gerade wie beim Regenwetter, wenn man unter dem Dach schläft . Man hört die Tropfen tick, tack, tick, tack auf die Ziegel herunterrauschen und fühlt sich recht warm im Trockenen. So, wenn man bei Licht und in Gesellschaft von Gespenstern hört, fühlt man sich sicher und behaglich.«

»Aber nachher?« sagte der Student. »Wenn einer zugehört hat, der dem lächerlichen Glauben an Gespenster ergeben ist, wird er sich nicht grauen, wenn er allein ist und im Dunkeln? Wird er nicht an alles das Schauerliche denken, was er gehört? Ich kann mich noch heute über diese Gespenstergeschichten ärgern, wenn ich an meine Kindheit denke. Ich war ein munterer, aufgeweckter Junge und mochte vielleicht etwas unruhiger sein, als meiner Amme lieb war. Da wußte sie nun kein anderes Mittel, mich zum Schweigen zu bringen, als sie machte mich fürchten. Sie erzählte mir allerlei schauerliche Geschichten von Hexen und bösen Geistern, die im Hause spuken sollten, und wenn eine Katze auf dem Boden ihr Wesen trieb, flüsterte sie mir ängstlich zu: „Hörst du, Söhnchen? Jetzt geht er wieder Treppe auf, Treppe ab, der tote Mann. Er trägt seinen Kopf unter dem Arm, aber seine Augen glänzen doch wie Laternen; Krallen hat er statt der Finger, und wenn er einen im Dunkeln erwischt, dreht er ihm den Hals um.“«

Die Männer lachten über diese Geschichten, aber der Student fuhr fort: »Ich war zu jung, als daß ich hätte einsehen können, dies alles sei unwahr und erfunden. Ich fürchtete mich nicht vor dem größten Jagdhund, warf jeden meiner Gespielen in den Sand; aber wenn ich ins Dunkle kam, drückte ich vor Angst die Augen zu, denn ich glaubte, jetzt werde der tote Mann heranschleichen. Es ging soweit, daß ich nicht mehr allein und ohne Licht aus der Türe gehen wollte, wenn es dunkel war, und wie manchmal hat mich mein Vater nachher gezüchtigt, als er diese Unart bemerkte. Aber lange Zeit konnte ich diese kindische Furcht nicht loswerden, und allein meine törichte Amme trug die Schuld.«

»Ja, das ist ein großer Fehler«, bemerkte der Jäger, »wenn man die kindlichen Gedanken mit solchem Aberwitz füllt. Ich kann versichern, daß ich brave, beherzte Männer gekannt habe, Jäger, die sich sonst vor drei Feinden nicht fürchteten wenn sie nachts im Wald auf Wild lauern sollten oder auf Wilddiebe, da gebrach es ihnen oft plötzlich an Mut; denn sie sahen einen Baum für ein schreckliches Gespenst, einen Busch für eine Hexe und ein paar Glühwürmer für die Augen eines Ungetüms an, das im Dunklen auf sie laure.«

»Und nicht nur für Kinder«, entgegnete der Student, »halte ich Unterhaltungen dieser Art für höchst schädlich und töricht, sondern auch für jeden; denn welcher vernünftige Mensch wird sich über das Treiben und Wesen von Dingen unterhalten, die eigentlich nur im Hirn eines Toren wirklich sind. Dort spukt es, sonst nirgends. Doch am allerschädlichsten sind diese Geschichten unter dem Landvolk. Dort glaubt man fest und unabweichlich an Torheiten dieser Art, und dieser Glaube wird in den Spinnstuben und in der Schenke genährt, wo sie sich enge zusammensetzen und mit furchtbarer Stimme die allergreulichsten Geschichten erzählen.«

»Ja, Herr!« erwiderte der Fuhrmann. »Ihr möget nicht unrecht haben; schon manches Unglück ist durch solche Geschichten entstanden, ist ja doch sogar meine eigene Schwester dadurch elendiglich ums Leben gekommen.«

»Wie das? An solchen Geschichten?« riefen die Männer erstaunt.

»Jawohl, an solchen Geschichten«, sprach jener weiter. »In dem Dorf, wo unser Vater wohnte, ist auch die Sitte, daß die Frauen und die Mädchen in den Winterabenden zum Spinnen sich zusammensetzen. Die jungen Burschen kommen dann auch und erzählen mancherlei. So kam es eines Abends, daß man von Gespenstern und Erscheinungen sprach, und die jungen Burschen erzählten von einem alten Krämer, der schon vor zehn Jahren gestorben sei, aber im Grab keine Ruhe finde. Jede Nacht werfe er die Erde von sich ab, steige aus dem Grab, schleiche langsam und hustend, wie er im Leben getan, nach seinem Laden und wäge dort Zucker und Kaffee ab, indem er vor sich hinmurmle:

„Drei Vierling, drei Vierling um Mitternacht Haben bei Tag ein Pfund gemacht.“

Viele behaupteten, ihn gesehen zu haben, und die Mädchen und Weiber fingen an, sich zu fürchten. Meine Schwester aber, ein Mädchen von sechzehn Jahren, wollte klüger sein als die andern und sagte: „Das glaube ich alles nicht; wer einmal tot ist, kommt nicht wieder!“ Sie sagte es, aber leider ohne Überzeugung; denn sie hatte sich oft schon gefürchtet. Da sagte einer von den jungen Leuten: „Wenn du dies glaubst, so wirst du dich auch nicht vor ihm fürchten; sein Grab ist nur zwei Schritte von Käthchens, die letzthin gestorben. Wage es einmal, gehe hin auf den Kirchhof, brich von Käthchens Grab eine Blume und bringe sie uns, so wollen wir glauben, daß du dich vor dem Krämer nicht fürchtest!“

Meine Schwester schämte sich, von den andern verlacht zu werden, darum sagte sie, „oh! das ist mir ein leichtes; was wollt ihr denn für eine Blume?“

„Es blüht im ganzen Dorf keine weiße Rose als dort; darum bring‘ uns einen Strauß von diesen“, antwortete eine ihrer Freundinnen. Sie stand auf und ging, und alle Männer lobten ihren Mut; aber die Frauen schüttelten den Kopf und sagten: „Wenn es nur gut abläuft!“ Meine Schwester ging dem Kirchhof zu; der Mond schien hell, und sie fing an zu schaudern, als es zwölf Uhr schlug und sie die Kirchhofpforte öffnete.

Sie stieg über manchen Grabhügel weg, den sie kannte, und ihr Herz wurde bange und immer banger, je näher sie zu Käthchens weißen Rosen und zum Grab des gespenstigen Krämers kam.

Jetzt war sie da, zitternd kniete sie nieder und knickte die Blumen ab. Da glaubte sie ganz in der Nähe ein Geräusch zu vernehmen; sie sah sich um; zwei Schritte von ihr flog die Erde von einem Grabe hinweg, und langsam richtete sich eine Gestalt daraus empor. Es war ein alter, bleicher Mann mit einer weißen Schlafmütze auf dem Kopf. Meine Schwester erschrak; sie schaute noch einmal hin, um sich zu überzeugen, ob sie recht gesehen; als aber der im Grabe mit näselnder Stimme anfing zu sprechen: „Guten Abend, Jungfer; woher so spät?“ da erfaßte sie ein Grauen des Todes; sie raffte sich auf, sprang über die Gräber hin nach jenem Hause, erzählte beinahe atemlos, was sie gesehen, und wurde so schwach, daß man sie nach Hause tragen mußte. Was nützte es uns, daß wir am andern Tage erfuhren, daß es der Totengräber gewesen sei, der dort ein Grab gemacht und zu meiner armen Schwester gesprochen habe? Sie verfiel, noch ehe sie dies erfahren konnte, in ein hitziges Fieber, an welchem sie nach drei Tagen starb. Die Rosen zu ihrem Totenkranz hatte sie sich selbst gebrochen.«

Der Fuhrmann schwieg, und eine Träne hing in seinen Augen, die andern aber sahen teilnehmend auf ihn.

»So hat das arme Kind auch an diesem Köhlerglauben sterben müssen«, sagte der junge Goldarbeiter, »mir fällt da eine Sage bei, die ich euch wohl erzählen möchte und die leider mit einem solchen Trauerfall zusammenhängt«: Die Höhle von Steenfoll

»Mitternacht ist längst vorüber«, sagte der Student, als der junge Goldarbeiter seine Erzählung geendigt hatte, »jetzt hat es wohl keine Gefahr mehr, und ich für meinen Teil bin so schläfrig, daß ich allen raten möchte, niederzuliegen und getrost einzuschlafen.«

»Vor zwei Uhr morgens möcht‘ ich doch nicht trauen«, entgegnete der Jäger, »das Sprichwort sagt, von elf bis zwei Uhr ist Diebes Zeit.«

»Das glaube ich auch«, bemerkte der Zirkelschmied, »denn wenn man uns etwas anhaben will, ist wohl keine Zeit gelegener als die nach Mitternacht. Darum meine ich, der Studiosus könnte an seiner Erzählung fortfahren, die er noch nicht ganz vollendet hat.«

»Ich sträube mich nicht«, sagte dieser, »obgleich unser Nachbar, der Herr Jäger, den Anfang nicht gehört hat.«

»Ich muß ihn mir hinzudenken, fanget nur an!« rief der Jäger.

»Nun denn«, wollte eben der Student beginnen, als sie durch das Anschlagen eines Hundes unterbrochen wurden. Alle hielten den Atem an und horchten; zugleich stürzte einer der Bediensteten aus dem Zimmer der Gräfin und rief, daß wohl zehn bis zwölf bewaffnete Männer von der Seite her auf die Schenke zukämen.

Der Jäger griff nach seiner Büchse, der Student nach seiner Pistole, die Handwerksburschen nach ihren Stöcken, und der Fuhrmann zog ein langes Messer aus der Tasche. So standen sie und sahen ratlos einander an.

»Laßt uns an die Treppe gehen!« rief der Student, »zwei oder drei dieser Schurken sollen doch zuvor ihren Tod finden, ehe wir überwältigt werden.« Zugleich gab er dem Zirkelschmied seine zweite Pistole und riet, daß sie nur einer nach dem anderen schießen wollten. Sie stellten sich an die Treppe; der Student und der Jäger nahmen gerade ihre ganze Breite ein; seitwärts neben dem Jäger stand der mutige Zirkelschmied und beugte sich über das Geländer, indem er die Mündung seiner Pistole auf die Mitte der Treppe hielt: Der Goldarbeiter und der Fuhrmann standen hinter ihnen, bereit, wenn es zu einem Kampf Mann gegen Mann kommen sollte, das ihrige zu tun. So standen sie einige Minuten in stiller Erwartung: Endlich hörte man die Haustüre aufgehen, sie glaubten auch das Flüstern mehrerer Stimmen zu vernehmen.

Jetzt hörte man Tritte vieler Menschen der Treppe nahen; man kam die Treppe herauf, und auf der ersten Hälfte zeigten sich drei Männer, die wohl nicht auf den Empfang gefaßt waren, der ihnen bereitet war. Denn als sie sich um die Pfeiler der Treppe wandten, schrie der Jäger mit starker Stimme: »Halt! Noch einen Schritt weiter, und ihr seid des Todes. Spannet die Hahnen, Freunde, und gut gezielt!«

Die Räuber erschraken, zogen sich eilig zurück und berieten sich mit den übrigen. Nach einer Weile kam einer davon zurück und sprach: »Ihr Herren! Es wäre Torheit von euch, umsonst euer Leben aufopfern zu wollen, denn wir sind unserer genug, um euch völlig aufzureiben; aber ziehet euch zurück, es soll keinem das Geringste zuleide geschehen; wir wollen keines Groschen Wert von euch nehmen.«

»Was wollt ihr denn sonst?« rief der Student. »Meint ihr, wir werden solchem Gesindel trauen? Nimmermehr! Wollt ihr etwas holen, in Gottes Namen, so kommet, aber den ersten, der sich um die Ecke wagt, brenne ich auf die Stirne, daß er auf ewig keine Kopfschmerzen mehr haben soll!«

»Gebt uns die Dame heraus, gutwillig!« antwortete der Räuber. »Es soll ihr nichts geschehen; wir wollen sie an einen sicheren und bequemen Ort führen, ihre Leute können zurückreiten und den Herrn Grafen bitten, er möge sie mit zwanzigtausend Gulden auslösen.«

»Solche Vorschläge sollen wir uns machen lassen?« entgegnete der Jäger, knirschend vor Wut, und spannte den Hahn. »Ich zähle drei, und wenn du da unten nicht bei drei hinweg bist, so drücke ich los, eins, zwei -«

»Halt!« schrie der Räuber mit donnernder Stimme. »Ist das Sitte, auf einen wehrlosen Mann zu schießen, der mit euch friedlich unterhandelt? Törichter Bursche, du kannst mich totschießen, und dann hast du erst keine große Heldentat getan; aber hier stehen zwanzig meiner Kameraden, die mich rächen werden. Was nützt es dann deiner Frau Gräfin, wenn ihr tot oder verstümmelt auf dem Flur lieget? Glaube mir, wenn sie freiwillig mitgeht, soll sie mit Achtung behandelt werden; aber wenn du, bis ich drei zähle, nicht den Hahnen in Ruhe setzest, so soll es ihr übel ergehen. Hahnen in Ruh‘, eins, zwei, drei!« »Mit diesen Hunden ist nicht zu spaßen«, flüsterte der Jäger, indem er den Befehl des Räubers befolgte, »wahrhaftig, an meinem Leben liegt nichts; aber wenn ich einen niederschieße, könnten sie meine Dame um so härter behandeln. Ich will die Gräfin um Rat fragen. Gebt uns«, fuhr er mit lauter Stimme fort, »gebt uns eine halbe Stunde Waffenstillstand, um die Gräfin vorzubereiten; sie würde, wenn sie es so plötzlich erfährt, den Tod davon haben.«

»Zugestanden«, antwortete der Räuber und ließ zugleich den Ausgang der Treppe mit sechs Männern besetzen.

Bestürzt und verwirrt folgten die unglücklichen Reisenden dem Jäger in das Zimmer der Gräfin; es lag dieses so nahe, und so laut hatte man verhandelt, daß ihr kein Wort entgangen war. Sie war bleich und zitterte heftig; aber dennoch schien sie fest entschlossen, sich in ihr Schicksal zu ergeben. »Warum soll ich nutzlos das Leben so vieler braver Leute aufs Spiel setzen?« fragte sie. »Warum euch zu einer vergeblichen Verteidigung auffordern, euch, die ihr mich gar nicht kennet? Nein, ich sehe, daß keine andere Rettung ist, als den Elenden zu folgen.«

Man war allgemein von dem Mut und dem Unglück der Dame ergriffen; der Jäger weinte und schwur, daß er diese Schmach nicht überleben könne. Der Student aber schmähte auf sich und seine Größe von sechs Fuß. »Wäre ich nur um einen halben Kopf kleiner«, rief er, »und hätte ich keinen Bart, so wüßte ich wohl, was ich zu tun hätte; ich ließe mir von der Frau Gräfin Kleider geben, und diese Elenden sollten spät genug erfahren, welchen Mißgriff sie getan.«

Auch auf Felix hatte das Unglück dieser Frau großen Eindruck gemacht. Ihr ganzes Wesen kam ihm so rührend und bekannt vor; es war ihm, als sei es seine frühe verstorbene Mutter, die sich in dieser schrecklichen Lage befände. Er fühlte sich so gehoben, so mutig, daß er gerne sein Leben für das ihrige gegeben hätte. Doch als der Student jene Worte sprach, da blitzte auf einmal ein Gedanke in seiner Seele auf; er vergaß alle Angst, alle Rücksichten, und er dachte nur an die Rettung dieser Frau. »Ist es nur dies«, sprach er, indem er schüchtern und errötend hervortrat, »gehört nur ein kleiner Körper, ein bartloses Kinn und ein mutiges Herz dazu, die gnädige Frau zu retten, so bin ich vielleicht auch nicht zu schlecht dazu; ziehet in Gottes Namen meinen Rock an, setzet meinen Hut auf Euer schönes Haar und nehmet mein Bündel auf den Rücken und ziehet als Felix, der Goldarbeiter, Eure Straße!«

Alle waren erstaunt über den Mut des Jünglings, der Jäger aber fiel ihm freudig um den Hals. »Goldjunge«, rief er, »das wolltest du tun? Wolltest dich in meiner gnädigen Frau Kleider stecken lassen und sie retten? Das hat dir Gott eingegeben; aber allein sollst du nicht gehen, ich will mich mit gefangen geben, will bei dir bleiben an deiner Seite als dein bester Freund, und solange ich lebe, sollen sie dir nichts anhaben dürfen.«

»Auch ich ziehe mit dir, so wahr ich lebe!« rief der Student.

Es kostete lange Überredung, um die Gräfin zu diesem Vorschlag zu überreden. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ein fremder Mensch für sie sich aufopfern sollte; sie dachte sich im Falle einer späteren Entdeckung die Rache der Räuber, die ganz auf den Unglücklichen fallen würde, schrecklich. Aber endlich siegten teils die Bitten des jungen Menschen, teils die Überzeugung, im Falle sie gerettet würde, alles aufbieten zu können, um ihren Retter wieder zu befreien. Sie willigte ein. Der Jäger und die übrigen Reisenden begleiteten Felix in das Zimmer des Studenten, wo er sich schnell einige Kleider der Gräfin überwarf. Der Jäger setzte ihm noch zum Überfluß einige falsche Haarlocken der Kammerfrau und einen Damenhut auf, und alle versicherten, daß man ihn nicht erkennen würde. Selbst der Zirkelschmied schwur, daß, wenn er ihm auf der Straße begegnete, er flink den Hut abziehen und nicht ahnen würde, daß er vor seinem mutigen Kameraden sein Kompliment mache.

Die Gräfin hatte sich indessen mit Hilfe ihrer Kammerfrau aus dem Ränzchen des jungen Goldarbeiters mit Kleidern versehen. Der Hut, tief in die Stirne gedrückt, der Reisestock in der Hand, das etwas leichter gewordene Bündel auf dem Rücken machten sie völlig unkenntlich, und die Reisenden würden ,zu jeder anderen Zeit über diese komische Maskerade nicht wenig gelacht haben. Der neue Handwerksbursche dankte Felix mit Tränen und versprach die schleunigste Hilfe.

»Nur noch eine Bitte habe ich«, antwortete Felix, »in diesem Ränzchen, das Sie auf dem Rücken tragen, befindet sich eine kleine Schachtel; verwahren Sie diese sorgfältig! Wenn sie verlorenginge, wäre ich auf immer und ewig unglücklich; ich muß sie meiner Pflegmutter bringen und -«

»Gottfried, der Jäger, weiß mein Schloß«, entgegnete sie, »es soll Euch alles unbeschädigt wieder zurückgestellt werden; denn ich hoffe, Ihr kommet dann selbst, edler junger Mann, um den Dank meines Gatten und den meinigen zu empfangen.«

Ehe noch Felix darauf antworten konnte, ertönten von der Treppe her die rauhen Stimmen der Räuber; sie riefen, die Frist sei verflossen und alles zur Abfahrt der Gräfin bereit. Der Jäger ging zu ihnen hinab und erklärte ihnen, daß er die Dame nicht verlassen werde und lieber mit ihnen gehe, wohin es auch sei, ehe er ohne seine Gebieterin vor seinem Herrn erschiene . Auch der Student erklärte, diese Dame begleiten zu wollen. Sie beratschlagten sich über diesen Fall und gestanden es endlich zu unter der Bedingung, daß der Jäger sogleich seine Waffen abgebe. Zugleich befahlen sie, daß die übrigen Reisenden sich ruhig verhalten sollten, wenn die Gräfin hinweggeführt werde Felix ließ den Schleier nieder, der über seinen Hut gebreitet war, setzte sich in eine Ecke, die Stirne in die Hand gestützt, und in dieser Stellung eines tief Betrübten erwartete er die Räuber. Die Reisenden hatten sich in das andere Zimmer zurückgezogen, doch so, daß sie, was vorging, überschauen konnten; der Jäger saß anscheinend traurig, aber auf alles lauernd in der anderen Ecke des Zimmers, das die Gräfin bewohnt hatte. Nachdem sie einige Minuten so gesessen, ging die Türe auf, und ein schöner, stattlich gekleideter Mann von etwa sechsunddreißig Jahren trat in das Zimmer. Er trug eine Art von militärischer Uniform, einen Orden auf der Brust, einen langen Säbel an der Seite, und in der Hand hielt er einen Hut, von welchem schöne Federn herabwallten. Zwei seiner Leute hatten gleich nach seinem Eintritt die Türe besetzt.

Er ging mit einer tiefen Verbeugung auf Felix zu; er schien vor einer Dame dieses Ranges etwas in Verlegenheit zu sein, er setzte mehrere Male an, bis es ihm gelang, geordnet zu sprechen.

»Gnädige Frau«, sagte er, »es gibt Fälle, in die man sich in Geduld schicken muß. Ein solcher ist der Ihrige. Glauben Sie nicht, daß ich den Respekt vor einer so ausgezeichneten Dame auch nur auf einen Augenblick aus den Augen setzen werde; Sie werden alle Bequemlichkeiten haben, Sie werden über nichts klagen können als vielleicht über den Schrecken, den Sie diesen Abend gehabt.« Hier hielt er inne, als erwartete er eine Antwort; als aber Felix beharrlich schwieg, fuhr er fort: »Sehen Sie in mir keinen gemeinen Dieb, keinen Kehlenabschneider. Ich bin ein unglücklicher Mann, den widrige Verhältnisse zu diesem Leben zwangen. Wir wollen uns auf immer aus dieser Gegend entfernen; aber wir brauchen Reisegeld. Es wäre uns ein leichtes gewesen, Kaufleute oder Postwagen zu überfallen; aber dann hätten wir vielleicht mehrere Leute auf immer ins Unglück gestürzt. Der Herr Graf, Ihr Gemahl, hat vor sechs Wochen eine Erbschaft von fünfmalhunderttausend Talern gemacht. Wir erbitten uns zwanzigtausend Gulden von diesem Überfluß, gewiß eine gerechte und bescheidene Forderung. Sie werden daher die Gnade haben, jetzt sogleich einen offenen Brief an Ihren Gemahl zu schreiben, worin Sie ihm melden, daß wir Sie zurückgehalten, daß er die Zahlung so bald als möglich leisten möge, widrigenfalls – Sie verstehen mich, wir müßten dann etwas härter mit Ihnen selbst verfahren. Die Zahlung wird nicht angenommen, wenn sie nicht unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit von einem einzelnen Manne hierhergebracht wird.«

Diese Szene wurde mit der gespanntesten Aufmerksamkeit von allen Gästen der Waldschenke, am ängstlichsten wohl von der Gräfin beobachtet. Sie glaubte jeden Augenblick, der Jüngling, der sich für sie geopfert, könnte sich verraten. Sie war fest entschlossen, ihn um einen großen Preis loszukaufen; aber ebenso fest stand ihr Gedanke, um keinen Preis der Welt auch nur einen Schritt weit mit den Räubern zu gehen. Sie hatte in der Rocktasche des Goldarbeiters ein Messer gefunden. Sie hielt es geöffnet krampfhaft in der Hand, bereit, sich lieber zu töten als eine solche Schmach zu erdulden. Jedoch nicht minder ängstlich war Felix selbst. Zwar stärkte und tröstete ihn der Gedanke, daß es eine männliche und würdige Tat sei, einer bedrängten, hilflosen Frau auf diese Weise beizustehen; aber er fürchtete, sich durch jede Bewegung, durch seine Stimme zu verraten. Seine Angst steigerte sich, als der Räuber von einem Briefe sprach, den er schreiben sollte.

Wie sollte er schreiben? Welche Titel dem Grafen geben, welche Form dem Briefe, ohne sich zu verraten?

Seine Angst stieg aber aufs höchste, als der Anführer der Räuber Papier und Feder vor ihn hinlegte, ihn bat, den Schleier zurückzuschlagen und zu schreiben.

Felix wußte nicht, wie hübsch ihm die Tracht paßte, in welche er gekleidet war; hätte er es gewußt, er würde sich vor einer Entdeckung nicht im mindesten gefürchtet haben. Denn als er endlich notgedrungen den Schleier zurückschlug, schien der Herr in Uniform, betroffen von der Schönheit der Dame und ihren etwas männlichen, mutigen Zügen, sie nur noch ehrfurchtsvoller zu betrachten. Dem klaren Blick des jungen Goldschmieds entging dies nicht; getrost, daß wenigstens in diesem gefährlichen Augenblick keine Entdeckung zu fürchten sei, ergriff er die Feder und schrieb an seinen vermeintlichen Gemahl nach einer Form, wie er sie einst in einem alten Buche gelesen; er schrieb:

»Mein Herr und Gemahl!

Ich unglückliche Frau bin auf meiner Reise mitten in der Nacht plötzlich angehalten worden, und zwar von Leuten, welchen ich keine gute Absicht zutrauen kann. Sie werden mich solange zurückhalten, bis Sie, Herr Graf, die Summe von 20 000 Gulden für mich niedergelegt haben.

Die Bedingung ist dabei, daß Sie nicht im mindesten über die Sache sich bei der Obrigkeit beschweren noch ihre Hilfe nachsuchen, daß Sie das Geld durch einen einzelnen Mann in die Waldschenke im Spessart schicken; widrigenfalls ist mir mit längerer und harter Gefangenschaft gedroht.

Es fleht Sie um schleunige Hilfe an

Ihre unglückliche Gemahlin.«

Er reichte den merkwürdigen Brief dem Anführer der Räuber, der ihn durchlas und billigte. »Es kommt nun ganz auf Ihre Bestimmung an«, fuhr er fort, »ob Sie Ihre Kammerfrau oder Ihren Jäger zur Begleitung wählen werden. Die eine dieser Personen werde ich mit dem Briefe an Ihren Herrn Gemahl zurückschicken.«

»Der Jäger ‚und dieser Herr hier werden mich begleiten«, antwortete Felix.

»Gut«, entgegnete jener, indem er an die Türe ging und die Kammerfrau herbeirief, »so unterrichten Sie diese Frau, was sie zu tun habe!«

Die Kammerfrau erschien mit Zittern und Beben. Auch Felix erblaßte, wenn er bedachte, wie leicht er sich auch jetzt wieder verraten könnte. Doch ein unbegreiflicher Mut, der ihn in jenen gefährlichen Augenblicken stärkte, gab ihm auch jetzt wieder seine Reden ein. »Ich habe dir nichts weiter aufzutragen«, sprach er, »als daß du den Grafen bittest, mich sobald als möglich aus dieser unglücklichen Lage zu reißen.«

»Und«, fuhr der Räuber fort, »daß Sie dem Herrn Grafen aufs genaueste und ausdrücklichste empfehlen, daß er alles verschweige und nichts gegen uns unternehme, bis seine Gemahlin in seinen Händen ist. Unsere Kundschafter würden uns bald genug davon unterrichten, und ich möchte dann für nichts stehen.«

Die zitternde Kammerfrau versprach alles. Es wurde ihr noch befohlen, einige Kleidungsstücke und Linnenzeug für die Frau Gräfin in ein Bündel zu packen, weil man sich nicht mit vielem Gepäcke beladen könne, und als dies geschehen war, forderte der Anführer der Räuber die Dame mit einer Verbeugung auf, ihm zu folgen. Felix stand auf, der Jäger und der Student folgten ihm, und alle drei stiegen, begleitet von dem Anführer der Räuber, die Treppe hinab.

Vor der Waldschenke standen viele Pferde; eines wurde dem Jäger angewiesen, ein anderes, ein schönes kleines Tier, mit einem Damensattel versehen, stand für die Gräfin bereit, ein drittes gab man dem Studenten. Der Hauptmann hob den jungen Goldschmied in den Sattel, schnallte ihn fest und bestieg dann selbst sein Roß. Er stellte sich zur Rechten der Dame auf, zur Linken hielt einer der Räuber; auf gleiche Weise waren auch der Jäger und der Student umgeben. Nachdem sich auch die übrige Bande zu Pferde gesetzt hatte, gab der Anführer mit einer helltönenden Pfeife das Zeichen zum Aufbruch, und bald war die ganze Schar im Walde verschwunden.

Die Gesellschaft, die im oberen Zimmer versammelt war, erholte sich nach diesem Auftritt allmählich von ihrem Schrecken. Sie wären, wie es nach großem Unglück oder plötzlicher Gefahr zu geschehen pflegt, vielleicht sogar heiter gewesen, hätte sie nicht der Gedanke an ihre drei Gefährten beschäftigt, die man vor ihren Augen hinweggeführt hatte. Sie brachen in Bewunderung des jungen Goldschmieds aus, und die Gräfin vergoß Tränen der Rührung, wenn sie bedachte, daß sie einem Menschen so unendlich viel zu verdanken habe, dem sie nie zuvor Gutes getan, den sie nicht einmal kannte. Ein Trost war es für alle, daß der heldenmütige Jäger und der wackere Student ihn begleitet hatten, konnten sie ihn doch trösten, wenn sich der junge Mann unglücklich fühlte, ja, der Gedanke lag nicht gar zu ferne, daß der verschlagene Waidmann vielleicht Mittel zu ihrer Flucht finden könnte. Sie berieten sich noch miteinander, was zu tun sei. Die Gräfin beschloß, da ja sie kein Schwur gegen den Räuber binde, sogleich zu ihrem Gemahl zurückzureisen und alles aufzubieten, den Aufenthalt der Gefangenen zu entdecken, sie zu befreien; der Fuhrmann versprach, nach Aschaffenburg zu reiten und die Gerichte zur Verfolgung der Räuber anzurufen. Der Zirkelschmied aber wollte seine Reise fortsetzen.

Die Reisenden wurden in der Nacht nicht mehr beunruhigt; Totenstille herrschte in der Waldschenke, die noch vor kurzem der Schauplatz so schrecklicher Szenen gewesen war. Als aber am Morgen die Bediensteten der Gräfin zu der Wirtin hinabgingen, um alles zur Abfahrt fertig zu machen, kehrten sie schnell zurück und berichteten, daß sie die Wirtin und ihr Gesinde in elendem Zustande gefunden hätten; sie lägen gebunden in der Schenke und flehten um Beistand.

Die Reisenden sahen sich bei dieser Nachricht erstaunt an. »Wie?« rief der Zirkelschmied, »so sollten diese Leute dennoch unschuldig sein? So hätten wir ihnen unrecht getan, und sie ständen nicht im Einverständnis mit den Räubern?«

»Ich lasse mich aufhängen statt ihrer«, erwiderte der Fuhrmann, »wenn wir nicht dennoch recht hatten. Dies alles ist nur Betrug, um nicht überwiesen werden zu können. Erinnert ihr euch nicht der verdächtigen Mienen dieser Wirtschaft? Erinnert ihr euch nicht, als ich hinabgehen wollte, wie mich der abgerichtete Hund nicht losließ, wie die Wirtin und der Hausknecht sogleich erschienen und mürrisch fragten, was ich denn noch zu tun hätte? Doch sie sind unser, wenigstens der Frau Gräfin Glück. Hätte es in der Schenke weniger verdächtig ausgesehen, hätte uns die Wirtin nicht so mißtrauisch gemacht, wir wären nicht zusammengestanden, wären nicht wach geblieben. Die Räuber hätten uns überfallen im Schlafe, hätten zum wenigsten unsere Türe bewacht, und diese Verwechslung des braven jungen Burschen wäre nimmer möglich geworden.«

Sie stimmten mit der Meinung des Fuhrmanns alle überein und beschlossen, auch die Wirtin und ihr Gesinde bei der Obrigkeit anzugeben. Doch um sie desto sicherer zu machen, wollten sie sich jetzt nichts merken lassen. Die Bediensteten und der Fuhrmann gingen daher hinab in das Schenkzimmer, lösten die Bande der Diebeshehler auf und bezeugten sich so mitleidig und bedauernd als möglich. Um ihre Gäste noch mehr zu versöhnen, machte die Wirtin nur eine kleine Rechnung für jeden und lud sie ein, recht bald wiederzukommen.

Der Fuhrmann zahlte seine Zeche, nahm von seinen Leidensgenossen Abschied und fuhr seine Straße. Nach diesem machten sich die beiden Handwerksburschen auf den Weg. So leicht das Bündel des Goldschmieds war, so drückte es doch die zarte Dame nicht wenig. Aber noch viel schwerer wurde ihr ums Herz, als unter der Haustüre die Wirtin ihre verbrecherische Hand hinstreckte, um Abschied zu nehmen. »Ei, was seid Ihr doch ein junges Blut«, rief sie beim Abschied des zarten Jungen, »noch so jung und schon in die Welt hinaus! Ihr seid gewiß ein verdorbenes Kräutlein, das der Meister aus der Werkstatt jagte. Nun, was geht es mich an, schenket mir die Ehre bei der Heimkehr, glückliche Reise!«

Die Gräfin wagte vor Angst und Beben nicht zu antworten, sie fürchtete, sich durch ihre zarte Stimme zu verraten. Der Zirkelschmied merkte es, nahm seinen Gefährten unter den Arm, sagte der Wirtin ade und stimmte ein lustiges Lied an, während er dem Walde zuschnitt.

»Jetzt erst bin ich in Sicherheit!« rief die Gräfin, als sie etwa hundert Schritte entfernt waren. »Noch immer glaubte ich, die Frau werde mich erkennen und durch ihre Knechte festnehmen. Oh, wie will ich euch allen danken! Kommet auch Ihr auf mein Schloß, Ihr müßt doch Euern Reisegenossen bei mir wieder abholen.«

Der Zirkelschmied sagte zu, und während sie noch sprachen, kam der Wagen der Gräfin ihnen nachgefahren; schnell wurde die Türe geöffnet, die Dame schlüpfte hinein, grüßte den jungen Handwerksburschen noch einmal, und der Wagen fuhr weiter.

Um dieselbe Zeit hatten die Räuber und ihre Gefangenen den Lagerplatz der Bande erreicht. Sie waren durch eine ungebahnte Waldstraße im schnellsten Trab weggeritten; mit ihren Gefangenen wechselten sie kein Wort, auch unter sich flüsterten sie nur zuweilen, wenn die Richtung des Weges sich veränderte.

Vor einer tiefen Waldschlucht machte man endlich halt. Die Räuber saßen ab, und ihr Anführer hob den Goldarbeiter vom Pferd, indem er sich für den harten und eiligen Ritt entschuldigte und fragte, ob doch die gnädige Frau nicht gar zu sehr angegriffen sei.

Felix antwortete ihm so zierlich als möglich, daß er sich nach Ruhe sehne, und der Hauptmann bot ihm den Arm, ihn in die Schlucht zu fuhren.

Es ging einen steilen Abhang hinab; der Fußpfad, welcher hinunterführte, war so schmal und abschüssig, daß der Anführer oft seine Dame unterstützen mußte, um sie vor der Gefahr, hinabzustürzen, zu bewahren. Endlich langte man unten an. Felix sah vor sich beim matten Schein des anbrechenden Morgens ein enges, kleines Tal von höchstens hundert Schritten im Umfang, das tief in einem Kessel hoch hinanstrebender Felsen lag. Etwa sechs bis acht kleine Hütten waren in dieser Schlucht aus Brettern und abgehauenen Bäumen aufgebaut. Einige schmutzige Weiber schauten neugierig aus diesen Höhlen hervor, und ein Rudel von zwölf großen Hunden und ihren unzähligen Jungen umsprang heulend und bellend die Ankommenden. Der Hauptmann führte die vermeintliche Gräfin in die beste dieser Hütten und sagte ihr, diese sei ausschließlich zu ihrem Gebrauch bestimmt; auch erlaubte er auf Felix‘ Verlangen, daß der Jäger und der Student zu ihm gelassen wurden.

Die Hütte war mit Rehfellen und Matten ausgelegt, die zugleich zum Fußboden und Sitze dienen mußten. Einige Krüge und Schüsseln, aus Holz geschnitzt, eine alte Jagdflinte und in der hintersten Ecke ein Lager, aus ein paar Brettern gezimmert und mit wollenen Decken bekleidet, welchem man den Namen eines Bettes nicht geben konnte, waren die einzigen Geräte dieses gräflichen Palastes. Jetzt erst, allein gelassen in dieser elenden Hütte, hatten die drei Gefangenen Zeit, über ihre sonderbare Lage nachzudenken. Felix, der zwar seine edelmütige Handlung keinen Augenblick bereute, aber doch für seine Zukunft im Falle einer Entdeckung bange war, wollte sich in lauten Klagen Luft machen; der Jäger aber rückte ihm schnell näher und flüsterte ihm zu: »Sei um Gottes willen stille, lieber Junge; glaubst du denn nicht, daß man uns behorcht?«

»Aus jedem Wort, aus dem Ton deiner Sprache könnten sie Verdacht schöpfen«, setzte der Student hinzu. Dem armen Felix blieb nichts übrig, als stille zu weinen.

»Glaubt mir, Herr Jäger«, sagte er, »ich weine nicht aus Angst vor diesen Räubern oder aus Furcht vor dieser elenden Hütte; nein, es ist ein ganz anderer Kummer, der mich drückt. Wie leicht kann die Gräfin vergessen, was ich ihr schnell noch sagte, und dann hält man mich für einen Dieb, und ich bin elend auf immer!«

»Aber was ist es denn, was dich so ängstigt?« fragte der Jäger, verwundert über das Benehmen des jungen Menschen, der sich bisher so mutig und stark betragen hatte.

»Höret zu, und ihr werdet mir recht geben«, antwortete Felix. »Mein Vater war ein geschickter Goldarbeiter in Nürnberg, und meine Mutter hatte früher bei einer vornehmen Frau gedient als Kammerfrau, und als sie meinen Vater heiratete, wurde sie von der Gräfin, welcher sie gedient hatte, trefflich ausgestattet. Diese blieb meinen Eltern immer gewogen, und als ich auf die Welt kam, wurde sie meine Pate und beschenkte mich reichlich. Aber als meine Eltern bald nacheinander an einer Seuche starben und ich ganz allein und verlassen in der Welt stand und ins Waisenhaus gebracht werden sollte, da vernahm die Frau Pate unser Unglück, nahm sich meiner an und gab mich in ein Erziehungshaus; und als ich alt genug war, schrieb sie mir, ob ich nicht des Vaters Gewerbe lernen wollte. Ich war froh darüber und sagte zu, und so gab sie mich meinem Meister in Würzburg in die Lehre. Ich hatte Geschick zur Arbeit und brachte es bald so weit, daß mir der Lehrbrief ausgestellt wurde und ich auf die Wanderschaft mich rüsten konnte. Dies schrieb ich der Frau Pate, und flugs antwortete sie, daß sie das Geld zur Wanderschaft gebe. Dabei schickte sie prachtvolle Steine mit und verlangte, ich solle sie fassen zu einem schönen Geschmeide, ich solle dann solches als Probe meiner Geschicklichkeit selbst überbringen und das Reisegeld in Empfang nehmen. Meine Frau Pate habe ich in meinem Leben nicht gesehen, und ihr könnet denken, wie ich mich auf sie freute. Tag und Nacht arbeitete ich an dem Schmuck, er wurde so schön und zierlich, daß selbst der Meister darüber erstaunte. Als es fertig war, packte ich alles sorgfältig auf den Boden meines Ränzels, nahm Abschied vom Meister und wanderte meine Straße nach dem Schlosse der Frau Pate. Da kamen«, fuhr er in Tränen ausbrechend fort, »diese schändlichen Menschen und zerstörten all meine Hoffnung. Denn wenn Eure Frau Gräfin den Schmuck verliert oder vergißt, was ich ihr sagte, und das schlechte Ränzchen wegwirft, wie soll ich dann vor meine gnädige Frau Pate treten? Mit was soll ich mich ausweisen? Woher die Steine ersetzen? Und das Reisegeld ist dann auch verloren, und ich erscheine als ein undankbarer Mensch, der anvertrautes Gut so leichtfertig weggegeben. Und am Ende – wird man mir glauben, wenn ich den wunderbaren Vorfall erzähle?«

»Über das letztere seid getrost!« erwiderte der Jäger. »Ich glaube nicht, daß bei der Gräfin Euer Schmuck verlorengehen kann; und wenn auch, so wird sie sicherlich ihn ihrem Retter wieder erstatten und ein Zeugnis über diese Vorfälle ausstellen. Wir verlassen Euch jetzt auf einige Stunden; denn wahrhaftig, wir brauchen Schlaf, und nach den Anstrengungen dieser Nacht werdet Ihr ihn auch nötig haben. Nachher laßt uns im Gespräch unser Unglück auf Augenblicke vergessen oder, besser noch, auf unsere Flucht denken!«

Sie gingen; Felix blieb allein zurück und versuchte, dem Rat des Jägers zu folgen.

Als nach einigen Stunden der Jäger mit dem Studenten zurückkam, fand er seinen jungen Freund gestärkter und munterer als zuvor. Er erzählte dem Goldschmied, daß ihm der Hauptmann alle Sorgfalt für die Dame empfohlen habe, und in wenigen Minuten werde eines der Weiber, die sie unter den Hütten gesehen hatten, der gnädigen Gräfin Kaffee bringen und ihre Dienste zur Aufwartung anbieten. Sie beschlossen, um ungestört zu sein, diese Gefälligkeit nicht anzunehmen, und als das alte, häßliche Zigeunerweib kam, das Frühstück versetzte und mit grinsender Freundlichkeit fragte, ob sie nicht sonst noch zu Diensten sein könnte, winkte ihr Felix zu gehen, und als sie noch zauderte, scheuchte sie der Jäger aus der Hütte. Der Student erzählte dann weiter, was sie sonst noch von dem Lager der Räuber gesehen. »Die Hütte, die Ihr bewohnt, schönste Frau Gräfin«, sprach er, »scheint ursprünglich für den Hauptmann bestimmt. Sie ist nicht so geräumig, aber schöner als die übrigen. Außer dieser sind noch sechs andere da, in welchen die Weiber und Kinder wohnen; denn von den Räubern sind selten mehr als sechs zu Hause. Einer steht nicht weit von dieser Hütte Wache, der andere unten am Weg in der Höhe, und ein dritter hat den Lauerposten oben am Eingang in die Schlucht. Von zwei zu zwei Stunden werden sie von den drei übrigen abgelöst. Jeder hat überdies zwei große Hunde neben sich liegen, und sie alle sind so wachsam, daß man keinen Fuß aus der Hütte setzen kann, ohne daß sie anschlagen. Ich habe keine Hoffnung, daß wir uns durchstehlen können.«

»Machet mich nicht traurig, ich bin nach dem Schlummer mutiger geworden«, entgegnete Felix, »gebet nicht alle Hoffnung auf, und fürchtet Ihr Verrat, so lasset uns lieber jetzt von etwas anderem reden und nicht lange voraus schon kummervoll sein! Herr Student, in der Schenke habt Ihr angefangen, etwas zu erzählen, fahret jetzt fort; denn wir haben Zeit zum Plaudern.«

»Kann ich mich doch kaum erinnern, was es war«, antwortete der junge Mann.

»Ihr erzähltet die Sage von dem kalten Herz und seid stehengeblieben, wie der Wirt und der andere Spieler den Kohlenpeter aus der Türe werfen.«

»Gut, jetzt entsinne ich mich wieder«, entgegnete er, »nun, wenn ihr weiter hören wollet, will ich fortfahren«: Das kalte Herz II

Es mochten etwa schon fünf Tage vergangen sein, während Felix, der Jäger und der Student noch immer unter den Räubern gefangen saßen. Sie wurden zwar von dem Hauptmann und seinen Untergebenen gut behandelt, aber dennoch sehnten sie sich nach Befreiung, denn je mehr die Zeit fortrückte, desto höher stieg auch ihre Angst vor Entdeckung. Am Abend des fünften Tages erklärte der Jäger seinen Leidensgenossen, daß er entschlossen sei, in dieser Nacht loszubrechen, und wenn es ihn auch das Leben kosten sollte. Er munterte seine Gefährten zum gleichen Entschluß auf und zeigte ihnen, wie sie ihre Flucht ins Werk setzen könnten. »Den, der uns zunächst steht, nehme ich auf mich; es ist Notwehr, und Not kennt kein Gebot, er muß sterben.«

»Sterben!« rief Felix entsetzt. »Ihr wollt ihn totschlagen?«

»Das bin ich fest entschlossen, wenn es darauf ankommt, zwei Menschenleben zu retten. Wisset, daß ich die Räuber mit besorglicher Miene habe flüstern hören, im Wald werde nach ihnen gestreift, und die alten Weiber verrieten in ihrem Zorn die böse Absicht der Bande; sie schimpften auf uns und gaben zu verstehen, wenn die Räuber angegriffen würden, so müßten wir ohne Gnade sterben.«

»Gott im Himmel!« schrie der Jüngling entsetzt und verbarg sein Gesicht in die Hände.

»Noch haben sie uns das Messer nicht an die Kehle gesetzt«, fuhr der Jäger fort, »drum laßt uns ihnen zuvorkommen! Wenn es dunkel ist, schleiche ich auf die nächste Wache zu; sie wird anrufen; ich werde ihm zuflüstern, die Gräfin sei plötzlich sehr krank geworden, und indem er sich umsieht, stoße ich ihn nieder. Dann hole ich Euch ab, junger Mann, und der zweite kann uns ebensowenig entgehen; und beim dritten haben wir zu zweit leichtes Spiel.«

Der Jäger sah bei diesen Worten so schrecklich aus, daß Felix sich vor ihm fürchtete. Er wollte ihn bereden, von diesem blutigen Gedanken abzustehen, als die Türe leise aufging und schnell eine Gestalt hereinschlüpfte. Es war der Hauptmann. Behutsam schloß er wieder zu und winkte den beiden Gefangenen, sich ruhig zu verhalten. Er setzte sich neben Felix nieder und sprach:

»Frau Gräfin, Ihr seid in schlimmer Lage. Euer Herr Gemahl hat nicht Wort gehalten, er hat nicht nur das Lösegeld nicht geschickt, sondern er hat auch die Regierungen umher aufgeboten; bewaffnete Mannschaft streift von allen Seiten durch den Wald, um mich und meine Leute auszuheben. Ich habe Eurem Gemahl gedroht, Euch zu töten, wenn er Miene macht, uns anzugreifen; doch es muß ihm entweder an Eurem Leben wenig liegen, oder er traut unseren Schwüren nicht. Euer Leben ist in unserer Hand, ist nach unseren Gesetzen verwirkt. Was wollet Ihr dagegen einwenden?«

Bestürzt sahen die Gefangenen vor sich nieder, sie wußten nicht zu antworten, denn Felix erkannte wohl, daß ihn das Geständnis über seine Verkleidung nur noch mehr in Gefahr setzen könnte.

Es ist mir unmöglich«, fuhr der Hauptmann fort, »eine Dame, die meine vollkommene Achtung hat, also in Gefahr zu sehen. Darum will ich Euch einen Vorschlag zur Rettung machen, es ist der einzige Ausweg, der Euch übrig bleibt: Ich will mit Euch entfliehen.«

»Erstaunt, überrascht blickten ihn beide an; er aber sprach weiter: »Die Mehrzahl meiner Gesellen ist entschlossen, nach Italien zu ziehen und unter einer weitverbreiteten Bande Dienste zu nehmen. Mir für meinen Teil behagt es nicht, unter einem anderen zu dienen, und darum werde ich keine gemeinschaftliche Sache mit ihnen machen. Wenn Ihr mir nun Euer Wort geben wolltet, Frau Gräfin, für mich gutzusprechen, Eure mächtigen Verbindungen zu meinem Schutze anzuwenden, so kann ich Euch noch freimachen, ehe es zu spät ist.«

Felix schwieg verlegen; sein redliches Herz sträubte sich, den Mann, der ihm das Leben retten wollte, geflissentlich einer Gefahr auszusetzen, vor welcher er ihn nachher nicht schützen könnte. Als er noch immer schwieg, fahr der Hauptmann fort: »Man sucht gegenwärtig überall Soldaten; ich will mit dem geringsten Dienst zufrieden sein. Ich weiß, daß Ihr viel vermöget; aber ich will ja nichts weiter als Euer Versprechen, etwas für mich in dieser Sache zu tun.«

»Nun denn«, antwortete Felix mit niedergeschlagenen Augen, »ich verspreche Euch, was ich tun kann, was in meinen Kräften steht, anzuwenden, um Euch nützlich zu sein. Liegt doch, wie es Euch ergehe, ein Trost für mich darin, daß Ihr diesem Räuberleben Euch selbst freiwillig entzogen habt.«

Gerührt küßte der Hauptmann die Hand dieser gütigen Dame, flüsterte ihr noch zu, sich zwei Stunden nach Anbruch der Nacht bereitzuhalten, und verließ dann ebenso vorsichtig, wie er gekommen war, die Hütte. Die Gefangenen atmeten freier, als er hinweggegangen war. »Wahrlich!« rief der Jäger, »dem hat Gott das Herz gelenkt! Wie wunderbar sollen wir errettet werden! Hätte ich mir träumen lassen, daß in der Welt noch etwas dergleichen geschehen könnte und daß mir ein solches Abenteuer begegnen sollte?«

»Wunderbar, allerdings!« erwiderte Felix. »Aber habe ich auch recht getan, diesen Mann zu betrügen? Was kann ihm mein Schutz frommen? Saget selbst, Jäger, heißt es ihn nicht an den Galgen locken, wenn ich ihm nicht gestehe, wer ich bin?« »Ei, wie mögt Ihr solche Skrupel haben, lieber Junge!« entgegnete der Student. »Nachdem Ihr Eure Rolle so meisterhaft gespielt! Nein, darüber dürft Ihr Euch nicht ängstigen, das ist nichts anderes als erlaubte Notwehr. Hat er doch den Frevel begangen, eine angesehene Frau schändlicherweise von der Straße hinwegführen zu wollen, und wäret Ihr nicht gewesen, wer weiß, wie es um das Leben der Gräfin stände? Nein, Ihr habt nicht unrecht getan; übrigens glaube ich, er wird bei den Gerichten sich einen Stein im Brett gewinnen, wenn er, das Haupt dieses Gesindels, sich selbst ausliefert.«

Dieser letztere Gedanke tröstete den jungen Goldschmied. Freudig bewegt und doch wieder voll banger Besorgnis über das Gelingen des Planes durchlebten sie die nächsten Stunden. Es war schon dunkel, als der Hauptmann auf einen Augenblick in die Hütte trat, ein Bündel Kleider niederlegte und sprach: »Frau Gräfin, um unsere Flucht zu erleichtern, müßt Ihr notwendig diese Männerkleidung anlegen. Machet Euch fertig! In einer Stunde treten wir den Marsch an.«

Nach diesen Worten verließ er die Gefangenen, und der Jäger hatte Mühe, nicht laut zu lachen. »Das wäre nun die zweite Verkleidung«> rief er, «und ich wollte schwören, diese steht Euch noch besser als die erste!«

Sie öffneten das Bündel und fanden ein hübsches Jagdkleid mit allem Zubehör, das Felix trefflich paßte. Nachdem er sich gerüstet, wollte der Jäger die Kleider der Gräfin in einen Winkel der Hütte werfen, Felix gab es aber nicht zu; er legte sie zu einem kleinen Bündel zusammen und äußerte, er wolle die Gräfin bitten, sie ihm zu schenken, und sie dann sein ganzes Leben hindurch zum Andenken an diese merkwürdigen Tage aufbewahren.

Endlich kam der Hauptmann. Er war vollständig bewaffnet und brachte dem Jäger die Büchse, die man ihm abgenommen, und ein Pulverhorn. Auch dem Studenten gab er eine Flinte, und Felix reichte er einen Hirschfänger, mit der Bitte, ihn auf den Fall der Not umzuhängen. Es war ein Glück für die drei, daß es sehr dunkel war; denn leicht hätten die leuchtenden Blicke, womit Felix diese Waffe empfing, dem Räuber seinen wahren Stand verraten können. Als sie behutsam aus der Hütte getreten waren, bemerkte der Jäger, daß der gewöhnliche Posten an der Hütte diesmal nicht besetzt sei. So war es möglich, daß sie unbemerkt an den Hütten vorbeischleichen konnten; doch schlug der Hauptmann nicht den gewöhnlichen Pfad ein, der aus der Schlucht in den Wald hinausführte, sondern er näherte sich einem Felsen, der ganz senkrecht und, wie es schien, unzugänglich vor ihnen lag. Als sie dort angekommen waren, machte der Hauptmann auf eine Strickleiter aufmerksam, die an dem Felsen herabgespannt war. Er warf seine Büchse auf den Rücken und stieg zuerst hinan; dann rief er der Gräfin zu, ihm zu folgen, und bot ihr die Hand zur Hilfe, der Jäger stieg zuletzt herauf. Hinter diesem Felsen zeigte sich ein Fußpfad, den sie einschlugen und rasch vorwärts gingen.

»Dieser Fußpfad«, sprach der Hauptmann, »führt nach der Aschaffenburger Straße. Dorthin wollen wir uns begeben; denn ich habe genau erfahren, daß Ihr Gemahl, der Graf, sich gegenwärtig dort aufhält.«

Schweigend zogen sie weiter, der Räuber immer voran, die drei anderen dicht hinter ihm. Nach drei Stunden hielten sie an; der Hauptmann lud Felix ein, sich auf einen Baumstamm zu setzen, um auszuruhen. Er zog Brot, eine Feldflasche mit altem Wein hervor und bot es den Ermüdeten an. »Ich glaube, wir werden, ehe eine Stunde vergeht, auf den Kordon stoßen, den das Militär durch den Wald gezogen hat. In diesem Fall bitte ich Sie, mit dem Anführer der Soldaten zu sprechen und gute Behandlung für mich zu verlangen.«

Felix sagte auch dies zu, obwohl er sich von seiner Verwendung geringen Erfolg versprach. Sie ruhten noch eine halbe Stunde und brachen dann auf. Sie mochten etwa wieder eine Stunde gegangen sein und näherten sich schon der Landstraße; der Tag fing an heraufzukommen, und die Dämmerung verbreitete sich schon im Wald, als ihre Schritte plötzlich durch ein lautes: »Halt! Steht!« gefesselt wurden. Sie hielten, und fünf Soldaten rückten gegen sie vor und bedeuteten ihnen, sie müßten folgen und vor dem kommandierenden Major sich über ihre Reise ausweisen. Als sie noch etwa fünfzig Schritte gegangen waren, sahen sie links und rechts im Gebüsch Gewehre blitzen, eine große Schar schien den Wald besetzt zu haben. Der Major saß mit mehreren Offizieren und anderen Männern unter einer Eiche. Als die Gefangenen vor ihn gebracht wurden und er eben anfangen wollte, sie zu examinieren über das »Woher« und »Wohin«, sprang einer der Männer auf und rief: »Mein Gott, was sehe ich? Das ist ja Gottfried, unser Jäger!«

»Jawohl, Herr Amtmann!« antwortete der Jäger mit freudiger Stimme, »da bin ich, und wunderbar gerettet aus der Hand des schlechten Gesindels.«

Die Offiziere erstaunten, ihn hier zu sehen; der Jäger aber bat den Major und den Amtmann, mit ihm auf die Seite zu treten, und erzählte in kurzen Worten, wie sie errettet worden und wer der dritte sei, welcher ihn und den jungen Goldschmied begleitete.

Erfreut über diese Nachricht, traf der Major sogleich seine Maßregeln, den wichtigen Gefangenen weiter transportieren zu lassen; den jungen Goldschmied aber führte er zu seinen Kameraden, stellte ihn als den heldenmütigen Jüngling vor, der die Gräfin durch seinen Mut und seine Geistesgegenwart gerettet habe, und alle schüttelten Felix freudig die Hand, lobten ihn und konnten nicht satt werden, sich von ihm und dem Jäger ihre Schicksale erzählen zu lassen.

Indessen war es völlig Tag geworden. Der Major beschloß, die Befreiten selbst bis in die Stadt zu begleiten; er ging mit ihnen und dem Amtmann der Gräfin in das nächste Dorf, wo sein Wagen stand, und dort mußte sich Felix zu ihm in den Wagen setzen; der Jäger, der Student, der Amtmann und viele andere Leute ritten vor und hinter ihnen, und so zogen sie im Triumph der Stadt zu. Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht von dem Überfall in der Waldschenke, von der Aufopferung des jungen Goldarbeiters in der Gegend verbreitet, und ebenso reißend ging jetzt die Sage von seiner Befreiung von Mund zu Mund. Es war daher nicht zu verwundern, daß in der Stadt, wohin sie zogen, die Straßen gedrängt voll Menschen standen, die den jungen Helden sehen wollten. Alles drängte sich zu, als der Wagen langsam hereinfuhr. »Das ist er«, riefen sie, »seht ihr ihn dort im Wagen neben dem Offizier! Es lebe der brave Goldschmiedsjunge!« Und ein tausendstimmiges »Hoch!« füllte die Lüfte.

Felix war beschämt, gerührt von der rauschenden Freude der Menge. Aber noch ein rührenderer Anblick stand ihm auf dem Rathause der Stadt bevor. Ein Mann von mittleren Jahren, in reichen Kleidern, empfing ihn an der Treppe und umarmte ihn mit Tränen in den Augen. »Wie kann ich dir vergelten, mein Sohn!« rief er. »Du hast mir viel gegeben, als ich nahe daran war, unendlich viel zu verlieren! Du hast mir die Gattin, meinen Kindern die Mutter gerettet; denn ihr zartes Leben hätte die Schrecken einer solchen Gefangenschaft nicht ertragen.« Es war der Gemahl der Gräfin, der diese Worte sprach. So sehr sich Felix sträuben mochte, einen Lohn für seine Aufopferung zu bestimmen, so unerbittlich schien der Graf darauf bestehen zu wollen. Da fiel dem Jüngling das unglückliche Schicksal des Räuberhauptmanns ein; er erzählte, wie er ihn gerettet, wie diese Rettung eigentlich der Gräfin gegolten habe. Der Graf, gerührt nicht sowohl von der Handlung des Hauptmanns als von dem neuen Beweis einer edlen Uneigennützigkeit, den Felix durch die Wahl seiner Bitte ablegte, versprach, das Seinige zu tun, um den Räuber zu retten .

Noch an demselben Tag aber führte der Graf, begleitet von dem wackeren Jäger, den jungen Goldschmied nach seinem Schlosse, wo die Gräfin, noch immer besorgt um das Schicksal des jungen Mannes, der sich für sie geopfert, sehnsuchtsvoll auf Nachrichten wartete. Wer beschreibt ihre Freude, als ihr Gemahl, den Retter an der Hand, in ihr Zimmer trat? Sie fand kein Ende, ihn zu befragen, ihm zu danken; sie ließ ihre Kinder herbeibringen und zeigte ihnen den hochherzigen Jüngling, dem ihre Mutter so unendlich viel verdanke, und die Kleinen faßten seine Hände, und der zarte Sinn ihres kindlichen Dankes, ihre Versicherungen, daß er ihnen nach Vater und Mutter auf der ganzen Erde das Liebste sei, waren ihm die schönste Entschädigung für manchen Kummer, für die schlaflosen Nächte in der Hütte der Räuber.

Als die ersten Momente des frohen Wiedersehens vorüber waren, winkte die Gräfin einem Diener, welcher bald darauf jene Kleider und das wohlbekannte Ränzchen herbeibrachte, welche Felix der Gräfin in der Waldschenke überlassen hatte. »Hier ist alles«, sprach sie mit gütigem Lächeln, »was Ihr mir in jenen furchtbaren Augenblicken gegeben; es ist der Zauber, womit Ihr mich umhüllt habt, um meine Verfolger mit Blindheit zu schlagen. Es steht Euch wieder zu Diensten; doch will ich Euch den Vorschlag machen, diese Kleider, die ich zum Andenken an Euch aufbewahren möchte, mir zu überlassen und zum Tausch dafür die Summe anzunehmen, welche die Räuber zum Lösegeld für mich bestimmten.«

Felix erschrak über die Größe dieses Geschenkes; sein edler Sinn sträubte sich, einen Lohn für das anzunehmen, was er aus freiem Willen getan. »Gnädige Frau«, sprach er bewegt, »ich kann dies nicht gelten lassen. Die Kleider sollen Euer sein, wie Ihr es befehlet; jedoch die Summe, von der Ihr sprechet, kann ich nicht annehmen. Doch, weil ich weiß, daß Ihr mich durch irgend etwas belohnen wollet, so erhaltet mir Eure Gnade statt anderen Lohnes, und sollte ich in den Fall kommen, Eurer Hilfe zu bedürfen, so könnt Ihr darauf rechnen, daß ich Euch darum bitten werde.« Noch lange drang man in den jungen Mann; aber nichts konnte seinen Sinn ändern. Die Gräfin und ihr Gemahl gaben endlich nach, und schon wollte der Diener die Kleider und das Ränzchen wieder wegtragen, als Felix sich an das Geschmeide erinnerte, das er im Gefühl so vieler freudiger Szenen ganz vergessen hatte.

»Halt!« rief er. »Nur etwas müßt Ihr mir noch aus meinem Ränzchen zu nehmen erlauben, gnädige Frau; das übrige ist dann ganz und völlig Euer.«

»Schaltet nach Belieben«, sprach sie, »obgleich ich gerne alles zu Eurem Gedächtnis behalten hätte, so nehmet nur, was Ihr etwa davon nicht entbehren wollet! Doch, wenn man fragen darf, was liegt Euch denn so sehr am Herzen, daß Ihr es mir nicht überlassen möget?«

Der Jüngling hatte während dieser Worte sein Ränzchen geöffnet und ein Kästchen von rotem Saffian herausgenommen. »Was mein ist, könnet Ihr alles haben«, erwiderte er lächelnd, »doch dies gehört meiner lieben Frau Pate; ich habe es selbst gefertigt und muß es ihr bringen. Es ist ein Schmuck, gnädige Frau«, fuhr er fort, indem er das Kästchen öffnete und ihr hinbot, »ein Schmuck, an welchem ich mich selbst versucht habe.«

Sie nahm das Kästchen; aber nachdem sie kaum einen Blick darauf geworfen, fuhr sie betroffen zurück.

»Wie? Diese Steine!« rief sie. »Und für Eure Pate sind sie bestimmt, sagtet Ihr?«

»Jawohl«, antwortete Felix, »meine Frau Pate hat mir die Steine geschickt; ich habe sie gefaßt und bin auf dem Wege, sie selbst zu überbringen.«

Gerührt sah ihn die Gräfin an; Tränen drangen aus ihren Augen. »So bist du Felix Perner aus Nürnberg?« rief sie.

»Jawohl! Aber woher wißt Ihr so schnell meinen Namen?« fragte der Jüngling und sah sie bestürzt an.

»Oh, wundervolle Fügung des Himmels!« sprach sie gerührt zu ihrem staunenden Gemahl. »Das ist ja Felix, unser Patchen, der Sohn unserer Kammerfrau Sabine! Felix! Ich bin es ja, zu der du kommen wolltest; so hast du deine Pate gerettet, ohne es zu wissen.«

»Wie? Seid denn Ihr die Gräfin Sandau, die so viel an mir und meiner Mutter getan? Und dies ist das Schloß Mayenburg, wohin ich wandern wollte? Wie danke ich dem gütigen Geschick, das mich so wunderbar mit Euch zusammentreffen ließ; so habe ich Euch doch durch die Tat, wenn auch in geringem Maße, meine große Dankbarkeit bezeugen können!«

»Du hast mehr an mir getan«, erwiderte sie, »als ich je an dir hätte tun können; doch so lange ich lebe, will ich dir zu zeigen suchen, wie unendlich viel wir alle dir schuldig sind. Mein Gatte soll dein Vater, meine Kinder deine Geschwister und ich selbst will deine treue Mutter sein, und dieser Schmuck, der dich zu mir führte in der Stunde der höchsten Not, soll meine beste Zierde werden; denn er wird mich immer an dich und deinen Edelmut erinnern.«

So sprach die Gräfin und hielt Wort. Sie unterstützte den glücklichen Felix auf seinen Wanderungen reichlich. Als er zurückkam als ein geschickter Arbeiter in seiner Kunst, kaufte sie ihm in Nürnberg ein Haus, richtete es vollständig ein, und ein nicht geringer Schmuck in seinem besten Zimmer waren schön gemalte Bilder, welche die Szenen in der Waldschenke und Felix‘ Leben unter den Räubern vorstellten.

Dort lebte Felix als ein geschickter Goldarbeiter; der Ruhm seiner Kunst verband sich mit der wunderbaren Sage von seinem Heldenmut und verschaffte ihm Kunden im ganzen Reiche. Viele Fremde, wenn sie durch die schöne Stadt Nürnberg kamen, ließen sich in die Werkstatt des berühmten Meisters Felix führen, um ihn zu sehen, zu bewundern, wohl auch ein schönes Geschmeide bei ihm zu bestellen. Die angenehmsten Besuche waren ihm aber der Jäger, der Zirkelschmied, der Student und der Fuhrmann. So oft der letztere von Würzburg nach Fürth fuhr, sprach er bei Felix ein; der Jäger brachte ihm beinahe alle Jahre Geschenke von der Gräfin, der Zirkelschmied aber ließ sich, nachdem er in allen Ländern umhergewandert war, bei Meister Felix nieder. Eines Tages besuchte sie auch der Student. Er war indessen ein bedeutender Mann im Staat geworden, schämte sich aber nicht, bei Meister Felix und dem Zirkelschmied ein Abendessen zu verzehren. Sie erinnerten sich an alle Szenen der Waldschenke; und der ehemalige Student erzählte, er habe den Räuberhauptmann in Italien wiedergesehen; er habe sich gänzlich gebessert und diene als braver Soldat dem König von Neapel.

Felix freute sich, als er dies hörte. Ohne diesen Mann wäre er zwar vielleicht nicht in jene gefährliche Lage gekommen, aber ohne ihn hätte er sich auch nicht aus Räuberhand befreien können. Und so geschah es, daß der wackere Meister Goldschmied nur friedliche und freundliche Erinnerungen hatte, wenn er zurückdachte an das Wirtshaus im Spessart.

Die künstliche Orgel

Vor langen, langen Jahren lebte einmal ein sehr geschickter junger Orgelbauer, der hatte schon viele Orgeln gebaut, und die letzte war immer wieder besser als die vorhergehende. Zuletzt machte er eine Orgel, die war so künstlich, daß sie von selbst zu spielen anfing, wenn ein Brautpaar in die Kirche trat, an dem Gott sein Wohlgefallen hatte. Als er auch diese Orgel vollendet hatte, besah er sich die Mädchen des Landes, wählte sich die Frömmste und Schönste und ließ seine eigene Hochzeit zurichten.Wie er aber mit der Braut über die Kirchschwelle trat und Freunde und Verwandte in langem Zuge folgten, war sein herz voller Stolzes und Ehrgeizes. Er dachte nicht an seine Braut und nicht an Gott, sondern nur daran, was er für ein geschickter Meister sei, dem niemand es gleichtun könne, und wie alle Leute staunten und ihn bewundern würden, wenn die Orgel von selbst zu spielen begönne. So trat er mit seiner schönen Braut in die Kirche ein – aber die Orgel blieb stumm. Das nahm sich der Orgelbaumeister sehr zu Herzen, denn er meinte in seinem stolzen Sinne, daß die Schuld nur an der Braut liegen könne und daß sie ihm nicht treu sei. Er sprach den ganzen Tag über kein Wort mit ihr, schnürte dann nachts heimlich sein Bündel und verließ sie. Nachdem er viele hundert Meilen weit gewandert war, ließ er sich endlich in einem fremden Land nieder, wo niemand ihn kannte und keiner nach ihm fragte. Dort lebte er still und einsam zehn Jahre lang: da überfiel ihn eine namenlose Angst nach der Heimat und nach der verlassenen Braut. Er mußte immer wieder daran denken, wie sie so fromm und schön gewesen sei und wie er sie so böslich verlassen. Nachdem er vergeblich alles getan, um seine Sehnsucht niederzukämpfen, entschloß er sich, zurückzukehren und sie um Verzeihung zu bitten. Er wanderte Tag und Nacht, daß ihm die Fußsohlen wund wurden, und je mehr er sich der Heimat näherte, desto stärker wurde seine Sehnsucht und desto größer wurde seine Angst, ob sie wohl wieder so gut und freundlich zu ihm sein werde wie in der Zeit, wo sie noch seine Braut war. Endlich sah er die Türme seiner Vaterstadt von fern in der Sonne blitzen. Da fing er an zu laufen, was er laufen konnte, so daß die Leute hinter ihm her den Kopf schüttelten und sagten: „Entweder ist‘s ein Narr, oder er hat gestohlen.“ Wie er aber in das Tor der Stadt eintrat, begegnete ihm ein langer Leichenzug. Hinter dem Sarge her gingen eine Menge Leute, welche weinten. „Wen begrabt ihr hier, ihr guten Leute, daß ihr so weint?“ – „Es ist die schöne Frau des Orgelbaumeisters, die ihr böser Mann verlassen hat. Sie hat uns allen so viel Gutes und Liebes getan, daß wir sie in der Kirche beisetzen wollen.“ Als er dies hörte, entgegnete er kein Wort, sondern ging still gebeugten Hauptes neben dem Sarge her und half ihn tragen. Niemand erkannte ihn; weil sie ihn aber fortwährend schluchzen und weinen hörten, störte ihn keiner, denn sie dachten: Das wird wohl auch einer von den vielen armen Leuten sein, denen die Tote bei Lebzeiten Gutes erwiesen hat. So kam der Zug zur Kirche, und wie die Träger die Kirchschwelle überschritten, fing die Orgel von selbst zu spielen an, so herrlich, wie noch niemand eine Orgel spielen gehört. Sie setzten den Sarg vor dem Altare nieder, und der Orgelbaumeister lehnte sich still an eine Säule daneben und lauschte den Tönen, die immer gewaltiger anschwollen, so gewaltig, daß die Kirche in ihren Grundpfeilern bebte. Die Augen fielen ihm zu, denn er war sehr müde von der weiten Reise; aber sein Herz war freudig, denn er wußte, daß ihm Gott verziehen habe, und als der letzte Ton der Orgel verklang, fiel er tot auf das steinerne Pflaster nieder. Da hoben die Leute die Leiche auf, und wie sie inne wurden, wer es sei, öffneten sie den Sarg und legten ihn zu seiner Braut. Und wie sie den Sarg wieder schlossen, begann die Orgel noch einmal ganz leise zu tönen. Dann wurde sie still und hat seitdem nie wieder von selbst geklungen.

Sepp auf der Freite

„Es ist heute Kirchweih“, sagte die alte Bauerfrau, die seit fünf Jahren gichtbrüchig im Bette lag, indem sie sich mühsam aufrichtete und mit ihren zitternden Händen ein großes Tuch um den Kopf band, welches sie so oft wieder abnahm und umband, bis vorn mitten auf der Stirn eine große Schleife stand, wie vier Windmühlenflügel; „es ist heute Kirchweih, Sepp, und du wirst heute abend wieder allein zu Tanze gehen, wie voriges Jahr und wie vorvoriges und wie immer. Hast du mir nicht bestimmt versprochen, dir in diesem Jahre eine Frau zu nehmen? Aber es wird wohl nichts werden, solange ich lebe, und nachher auch nichts. Wenn das dein Vater hätte erleben müssen! Willst du ein alter Hagestolz werden? Weißt du nicht, was die Mädchen singen?: „Klipper, klapper Hagestolz,
Geh in‘n Wald und such dir Holz,
Dürres Holz im grünen Wald,
Denn es wird im Winter kalt
Jetzt ist‘s noch gelinder.
Ob‘s auch brennt und ob‘s nicht rußt,
Daß du nicht so frieren mußt
Frag die Bettelkinder!“
Da antwortete der Sohn kleinlaut, daß die Mädchen im Dorf ihm alle gleich gut gefielen und daß er nicht wisse, welches er erwählen solle. „So geh ins Dorf“, sagte die Mutter, „und achte genau darauf, was die Mädchen, von denen du glaubst, daß sie für dich passen, machen, und dann komm zurück und sag mir‘s.“ Und der Sepp ging. „Nun“, rief die Mutter, als er wieder zurückkehrte, „wie war‘s? Wo bist du gewesen?“ „Zuerst bei der Ursel; kam eben aus der Kirche; hatte ein schönes Kleid an und neue Ohrringe.“ Da seufzte die Mutter und sagte: „Geht sie oft in die Kirche, wird sie den lieben Gott bald vergessen lernen. Der Müller hört die Mühle auch nicht klappern. Nichts für dich, mein Jung‘. Wohin bist du nachher gegangen?“ „Zur Käth‘, Mutter.“ „Was tat sie?“ „Stand in der Küche und rückte an allen Töpfen und Tellern.“ „Wie sahen die Töpfe aus?“ „Schwarz.“ „Und die Finger?“ „Weiß.“ „Schlicker, Schlecker“, sagte darauf die Mutter: „Schlicker, Schlecker!
Naschig und lecker!
Backt sich Kuchen und süßen Brei,
Vergißt die Kinder und ’s Vieh dabei.
Laß sie laufen, Sepp!“ „Darauf bin ich zur Bärbel gegangen. Saß im Garten und machte drei Kränze. Einen von Veilchen, einen von Rosen, einen von Nelken. Fragte mich, welchen sie heute zur Kirchweih aufsetzen sollte.“ Da schwieg die Mutter eine Weile und sagte dann: „Ein silbernes Herrchen
Und ein goldenes Närrchen,
Gibt ’ne kupferne Eh‘
Und viel eisernes Weh!
Weiter, mein Jung‘!“ „Zu viert bin ich zur Gret‘ gekommen. Stand vor der Haustüre an der Straße und gab den armen Leuten Butterbrote.“ Da schüttelte die Mutter den Kopf und sagte: „Tut sie heut etwas, was alle Leute sehen sollen, tut sie ein anderes Mal wohl etwas, was keiner sehen soll. Steht sie am Tage vor der Haustür, hat sie wohl am Abend auch schon dahinter gestanden. Wenn der Herr mittags aufs Feld kommt, während die Leute essen, springen nur die faulen Knechte auf, um zu mähen; die fleißigen bleiben sitzen. Bleib lieber ledig, Sepp, eh‘ du die nimmst! – Bist du nicht weiter gekommen?“ „Zuletzt bin ich noch zur Anne gegangen.“ „Was tat sie?“ „Gar nichts, Mutter!“ „Sie wird doch irgend etwas getan haben?“ fragte die alte Bauerfrau noch einmal. „Nichts ist sehr wenig, Sepp!“ „Behüt Gott“, antwortete der Sohn, „sie machte gar nichts; könnt Euch drauf verlassen!“ „Dann nimm die Anne, mein Jung‘! Das gibt die besten Weiber, die gar nichts tun, was die Burschen erzählen können!“ Und der Sepp nahm die Anne und wurde überglücklich und sagte später noch oft zu seiner Mutter: „Mutter, Ihr hattet recht mit Euerem Rat: „Die Ursel und Käth‘,
Die Bärbel und Gret‘,
Die wiegen zusamm‘
Nicht halb meine Ann‘!
Jetzt könnt‘ ich Euch schon viel von ihr erzählen – aber ich tu‘s nicht.“

Von Himmel und Hölle

Es war um die Zeit, wo die Erde am allerschönsten ist und es dem Menschen am schwersten fällt zu sterben, denn der Flieder blühte schon, und die Rosen hatte dicke Knospen: da zogen zwei Wanderer die Himmelsstraß entlang, ein Armer und ein Reicher. Die hatten auf Erden dicht beieinander in derselben Straße gewohnt, der Reiche in einem großen, prächtigen Hause und der Arme in einer kleinen Hütte. Weil aber der Tod keinen Unterschied macht, so war es geschehen, daß sie beide zu derselben Stunde starben. Da waren sie nun auf der Himmelsstraße auch wieder zusammengekommen und gingen schweigend nebeneinander her. Doch er Weg wurde steiler und steiler, und dem Reichen begann es bald blutsauer zu werden, denn er war dick und kurzatmig und in seinem Leben noch nie so weit gegangen. Da trug es sich zu, daß der Arme bald einen guten Vorsprung gewann und zuerst an der Himmelspforte ankam. Weil er sich aber nicht getraute zu klopfen, setzte er sich still vor die Pforte nieder und dachte: Du willst auf den reichen Mann warten; vielleicht klopft der an. Nach langer Zeit langteder Reiche auch an, und als er die Pforte verschlossen fand und nicht gleich jemand aufmachte, fing er laut an zu rütteln und mit der Faust dran zu schlagen. Da stürzte Petrus eilends herbei, öffnete die Pforte, sah sich die beiden an und sagte zu dem Reichen: „Das bist du gewiß gewesen, der es nicht erwarten konnte. Ich dächte, du brauchtest dich nicht so breit zu machen. Viel Gescheites haben wir hier oben von dir nicht gehört, solange du auf der Erde gelebt hast!“ Da fiel dem Reichen gewaltig der Mut; doch Petrus kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern reichte dem Armen die Hand, damit er leichter aufstehen könnte, und sagte: „Tretet nur alle beide ein in den Vorsaal; das Weitere wird sich schon finden!“ Und es war auch wirklich noch gar nicht der Himmel, in den sie jetzt eintraten, sondern nur eine große, weite Halle mit vielen verschlossenen Türen und mit Bänken an den Wänden. „Ruht euch ein wenig aus“, nahm Petrus wieder das Wort, „und wartet, bis ich zurückkomme; aber benutzt euere Zeit gut, denn ihr sollt euch mittlerweile überlegen, wie ihr es hier oben haben wollt. Jeder von euch soll es genau so haben, wie er es sich selber wünscht. Also bedenkt’s, und wenn ich wiederkomme, macht keine Umstände, sondern sagt’s, und vergeßt nichts; denn nachher ist’s zu spät.“ – Damit ging er fort. Als er dann nach einiger Zeit zurückkehrte und fragte, ob sie fertig mit Überlegen wären und wie sie es sich in der Ewigkeit wünschten, sprang der reiche Mann von der Bank auf und sagte, er wolle ein großes goldenes Schloß haben so schön wie der Kaiser keins hätte, und jeden Tag das beste Essen. Früh Schokolade und mittags einen Tag um den andern Kalbsbraten mit Apfelmus und Milchreis mit Bratwürsten und nachher rote Grütze. Das wären seine Leibgerichte. Und abends jeden Tag etwas andres. Weiter wolle er dann einen recht schönen Großvaterstuhl und einen grünseidenen Schlafrock; und das Tageblättchen solle Petrus auch nicht vergessen, damit er doch wisse, was passiere. Da sah ihn Petrus mitleidig an, schwieg lange und fragte endlich: „Und weiter wünschest du dir nichts?“ – „O ja!“ fiel rasch der Reiche ein, „Geld, viel Geld, alle Keller voll; so viel, daß man es gar nicht zählen kann!“ „Das sollst du alles haben“, entgegnete Petrus, „komm, folge mir!“ und er öffnete eine der vielen Türen und führte den Reichen in ein prachtvolles goldenes Schloß, darin war alles so, wie jener es sich gewünscht hatte. Nachdem er ihm alles gezeigt, ging er fort und schob vor das Tor des Schlosses einen großen eisernen Riegel. Der Reiche aber zog sich den grünseidenen Schlafrock an, setzte sich in den Großvaterstuhl, aß und trank und ließ sich’s gut gehen, und wenn er satt war, las er das Tageblättchen. Und jeden Tag einmal stieg er hinab in den Keller und besah sein Geld. – Und zwanzig und fünfzig Jahre vergingen und wieder fünfzig, so daß es hundert waren – und das ist doch nur eine Spanne von der Ewigkeit –, da hatte der reiche Mann sein prächtiges goldenes Schloß schon so überdrüssig, daß er es kaum mehr aushalten konnte. „Der Kalbsbraten und die Bratwürste werden auch immer schlechter“, sagte er, „sie sind gar nicht mehr zu genießen!“ Aber es war nicht wahr, sondern er hatte sie nur satt. „Und das Tageblättchen lese ich schon lange nicht mehr“, fuhr er fort; „es ist mir ganz gleichgültig, was da unten auf der Erde sich zuträgt. Ich kenne ja keinen einzigen Menschen mehr. Meine Bekannten sind schon längst alle gestorben. Die Menschen, die jetzt leben müssen, machen so närrische Streiche und schwatzen so sonderbares Zeug, daß es einem schwindlig wird, wenn man’s liest.“ Darauf schwieg er und gähnte, denn es war sehr langweilig, und nach einer Weile sagte er wieder: „Mit meinem vielen Geld weiß ich auch nichts anzufangen. Wozu hab ich’s eigentlich? Man kann sich hier doch nichts kaufen. Wie ein Mensch nur so dumm sein kann und sich Geld im Himmel wünschen!“ Dann stand er auf, öffnete das Fenster und sah hinaus. Aber obschon es im Schlosse überall hell war, so war es doch draußen stockdunkel; stockdunkel, so daß man die Hand vorm Auge nicht sehen konnte, stockdunkel, Tag und Nacht, jahraus, jahrein und so still wie auf dem Kirchhof. Da schloß er das Fenster wieder und setzte sich aufs neue auf seinen Großvaterstuhl; und jeden Tag stand er ein- oder zweimal auf und sah wieder hinaus. Aber es war noch immer so. Und immer früh Schokolade und mittags einen Tag um den andern Kalbsbraten mit Apfelmus und Milch-reis mit Bratwürsten und nachher rote Grütze; immerzu, einen Tag wie den andern. – Als jedoch tausend Jahre vergangen waren, klirrte der große eiserne Riegel am Tor, und Petrus trat ein. „Nun“, fragte er, „wie gefällt es dir?“ Da wurde der reiche Mann bitterböse: „Wie mir’s gefällt? Schlecht gefällt mir’s; ganz schlecht! So schlecht, wie es einem nur in so einem nichtswürdigen Schlosse gefallen kann! Wie kannst du dir nur denken, daß man es hier tausend Jahre aushalten kann! Man hört nichts, man sieht nichts; niemand bekümmert sich um einen. Nichts wie Lügen sind es in eurem vielgepriesenen Himmel und mit eurer ewigen Glückseligkeit. Eine ganz erbärmliche Einrichtung ist es!“ Da blickte ihn Petrus verwundert an und sagte: „Du weißt wohl gar nicht, wo du bist? Du denkst wohl, du bist im Himmel? In der Hölle bist du. Du hast dich ja selbst in die Hölle gewünscht. Das Schloß gehört zur Hölle.“ „Zur Hölle?“ wiederholte der Reiche erschrocken. „Das hierist doch nicht die Hölle? Wo sind denn der Teufel und das Feuer und die Kessel?“ „Du meinst wohl“, entgegnete Petrus, „daß die Sünder jetzt immer noch gebraten werden wie früher? Das ist schon lange nicht mehr so. Aber in der Hölle bist du, verlaß dich darauf, und zwar recht tief drin, so daß du einen schon dauern kannst. Mit der Zeit wirst du’s wohl selbst innewerden.“ Da fiel der reiche Mann entsetzt rückwärts in seinen Großvaterstuhl, hielt sich die Hände vors Gesicht und schluchzte: „In der Hölle, in der Hölle! Ich armer, unglücklicher Mensch, was soll aus mir werden!“ Aber Petrus machte die Tür auf und ging fort, und als er den eisernen Riegel draußen wieder vorschob, hörte er drinnen den Reichen immer noch schluchzen: „In der Hölle, in der Hölle! Ich armer, unglücklicher Mensch, was soll aus mir werden!“ – Und wieder vergingen hundert Jahre und aber hundert, und die Zeit wurde dem reichen Mann so entsetzlich lang, wie niemand es sich auch nur denken kann. Und als das zweite Tausend zu Ende kam, trat Petrus abermals ein. „Ach!“ rief ihm der reiche Mann entgegen, „ich habe mich so sehr nach dir gesehnt! Ich bin sehr traurig! Und so wie jetzt soll es immer bleiben? Die ganze Ewigkeit?“ Und nach einer Weile fuhr er fort: „Heiliger Petrus, wie lang ist wohl die Ewigkeit?“ Da antwortete Petrus: „Wenn noch zehntausend Jahre vergangen sind, fängt sie an.“ Als der Reiche dies hörte, ließ er den Kopf auf die Brust sinken und begann bitterlich zu weinen. Aber Petrus stand hinter seinem Stuhl und zählte heimlich seine Tränen, und als er sah, daß es so viele waren, daß ihm der liebe Gott gewiß verzeihen würde, sprach er: „Komm, ich will dir einmal etwas recht Schönes zeigen! Oben auf dem Boden weiß ich ein Astloch in der Wand, da kann man ein wenig in den Himmel hineinsehen.“ Damit führte er ihn die Bodentreppe hinauf und durch allerhand Gerümpel bis zu einer kleinen Kammer. Als sie in diese eintraten, fiel durch das Astloch ein goldener Strahl hindurch, dem heiligen Petrus gerade auf die Stirn, so daß es aussah, asl wenn Feuerflammen auf ihr brannten. „Das ist vom wirklichen Himmel!“ sagte der reiche Mann zitternd. „Ja“, erwiderte Petrus, „nun sieh einmal durch!“ Aber das Astloch war etwas hoch oben an der Wand und der reiche Mann nicht sehr groß, so daß er kaum hinaufreichte. „Du mußt dich recht lang machen und ganz hoch auf die Zehen stellen“, sagte Petrus. Da strengte sich der Reiche so sehr an, als er nur irgend konnte, und als er endlich durch das Astloch hindurchblickte, sah er wirklich in den Himmel hinein. Da saß der liebe Gott auf seinem goldnen Thron zwischen den Wolken und den Sternen in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit und um ihn her alle Engel und Heiligen. „Ach“, rief er aus, „das ist ja wunderschön und herrlich, wie man es sich auf der Erde gar nicht vorstellen kann. Aber sage, wer ist denn das, der dem lieben Gott zu Füßen sitzt und mir gerade den Rücken zukehrt?“ „Das ist der arme Mann, der auf der Erde neben dir gewohnt hat und mit dem du zusammen heraufgekommen bist. Als ich euch auftrug, es euch auszudenken, wie ihr es in der Ewigkeithaben wolltet, hat er sich bloß ein Fußbänkchen gewünscht, damit er sich dem lieben Gott zu Füßen setzen könne. Und das hat er auch bekommen, genau wie du dein Schloß.“ Als er dies gesagt, ging er still fort, ohne daß es der Reiche merkte. Denn der stand immer noch ganz still auf den Fußspitzen und blickte in den Himmel hinein und konnte sich nicht satt sehen. Zwar es fiel ihm recht schwer, denn das Loch war sehr hoch oben, und er mußte fortwährend auf den Zehen stehen; aber er tat es gern, denn es war zu schön, was er sah. Und nach abermals tausend Jahren kam Petrus zum letztenmal. Da stand der reiche Mann immer noch in der Bodenkammer an der Wand auf den Fußspitzen und schaute unverwandt in den Himmel hinein und war so ins Sehen versunken, daß er gar nicht merkte, als Petrus eintrat. Endlich legte ihm aber Petrus die Hand auf die Schulter, daß er sich umdrehte, und sagte: „Komm mit, du hast nun lange genug gestanden! Deine Sünden sind dir vergeben; ich soll dich in den Himmel holen. – Nicht wahr, du hättest es viel bequemer haben können, wenn du nur gewollt hättest?“

Das Klapperstorch-Märchen

Wovon die Beine der Teckel so kurz sind, und daß sie sich dieselben abgelaufen haben, weiß jeder. Wie aber der Storch zu seinen langen Beinen gekommen ist, das ist eine ganz andere Geschichte. Drei Tage nämlich, ehe der Storch ein kleines Kind bringt, klopft er mit seinem roten Schnabel an das Fenster der Leute, welche es bekommen sollen, und ruft: „Schafft eine Wiege,
Ein‘ Schleier für Fliegen,
Ein buntes Röcklein,
Ein weißes Jäcklein,
Mützchen und Windel:
Bring‘ ein klein Kindel!“
Dann wissen die Leute, woran sie sind. Doch zuweilen, wenn er sehr viel zu tun hat, vergißt er es, und dann gibt‘s große Not, weil nichts fertig ist. Bei zwei armen Leuten, welche im Dorf in einer kleinen Hütte wohnten, hatte es der Storch auch vergessen. Als er mit dem Kinde kam, war niemand zu Hause. Mann und Frau waren auf Feldarbeit gegangen und Türe und Fenster verschlossen; auch war nicht einmal eine Treppe vor dem Hause, auf die er es hätte legen können. Da flog er aufs Dach und klapperte so lange, bis das ganze Dorf zusammenlief und eine alte Frau eilends aufs Feld hinaussprang, um die Leute zu holen. „Herr Nachbar, Frau Nachbarin! Herr Nachbar, Frau Nachbarin!“ rief sie schon von weitem, ganz außer Atem, „um Gottes Willen! Der Storch sitzt auf eurem Hause und will euch ein kleines Kind bringen. Niemand ist da, der ihm‘s Fenster aufmachen kann. Wenn ihr nicht bald kommt, läßt er‘s fallen, und ‘s gibt ein Unglück. Oben beim Müller hat er es vor drei Jahren auch fallen lassen, und das arme Wurm ist heute noch bucklig.“ Da liefen die beiden Hals über Kopf nach Haus und nahmen dem Storche das Kind ab. Wie sie es besahen, war es ein wunderhübscher kleiner Junge, und Mann und Frau waren vor Freude außer sich. Doch der Storch hatte sich über das lange Warten so geärgert, daß er sich vornahm, ganz bestimmt den beiden Leuten nie wieder ein Kind zu bringen. Als sie endlich kamen, sah er sie schon ganz schief und ärgerlich an, und während er fortflog, sagte er noch: „Heute wird‘s auch wieder spät werden, ehe ich zu meiner Frau Storchen in den Sumpf komme. Ich habe noch zwölf Kinder auszutragen, und es ist schon spät. Das Leben wird einem doch recht sauer!“ Doch die beiden Leute hatten in ihrer Herzensfreude es gar nicht bemerkt, daß sich der Storch so schwer geärgert. Eigentlich war er ja auch ganz allein daran schuld, daß er so lange hatte warten müssen, weil er es ihnen doch vergessen hatte, es ihnen vorher zu sagen. Wie nun das Kind wuchs und täglich hübscher wurde, sagte eines Tages die Frau: „Wenn wir dem guten Storch, der uns das wunderhübsche Kind gebracht hat, nur irgend etwas schenken könnten, was ihm Spaß macht! Weißt du nichts? Mir will gar nichts einfallen!“ „Das wird schwerhalten“, erwiderte der Mann; „er hat schon alles!“ Am nächsten Morgen jedoch kam er zu seiner Frau und sagte zu ihr: „Was meinst du, wenn ich dem Storch beim Tischler ein paar recht schöne Stelzen machen ließe? Er muß doch immer in den Sumpf, um Frösche zu fangen, und dann wieder in den großen Teich hinterm Dorf, aus dem er die kleinen Knaben herausholt. Da muß er doch sehr oft nasse Füße bekommen! Ich dächte auch, er hätte damals, als er zu uns kam, ganz heiser geklappert.“ „Das ist ein herrlicher Einfall!“ entgegenete die Frau. „Aber der Tischler muß die Stelzen recht schön rot lackieren, damit sie zu seinem Schnabel passen!“ „So?“ sagte der Mann; „meinst du wirklich rot? Ich hatte an Grün gedacht.“ „Aber, bester Schatz!“ fiel die Frau ein, „wo denkst du hin? Ihr Männer wißt doch niemals, was zusammenpaßt und gut steht. Sie müssen unbedingt rot sein!“ Da nun der Mann sehr verständig war und stets auf seine Frau hörte, so bestellte er denn wirklich rote Stelzen, und als sie fertig waren, ging er an den Sumpf und brachte sie dem Storch. Und der Storch war sehr erfreut, probierte sie gleich und sagte: „Eigentlich war ich auf euch recht böse, weil ihr mich damals so lange habt warten lassen. Weil ihr aber so gute Leute seid und mir die schönen roten Stelzen schenkt, so will ich euch auch noch ein kleines Mädchen bringen. Heute über vier Wochen werde ich kommen. Daß ihr mir dann aber auch hübsch zu Hause seid, und expreß es erst noch einmal ansagen werde ich nun nicht. Den Weg kann ich mir sparen! – Hörst du?“ „Nein, nein!“ erwiderte der Mann. „Wir werden sicher zu Hause sein. Du sollst diesmal keinen Ärger davon haben.“ Als die vier Wochen um waren, kam richtig der Storch geflogen und brachte ein kleines Mädchen; das war noch hübscher als der kleine Junge, und war nun gerade das Pärchen voll. Auch blieben beide Kinder hübsch und gesund, und die Eltern auch, so daß es eine rechte Freude war. – Nun wohnte aber im Dorf noch ein reicher Bauer, der besaß ebenfalls nur einen Knaben, und der war noch dazu ziemlich garstig, und der Bauer wünschte sich auch noch ein Mädchen dazu. Als er vernahm, wie es die armen Leute angefangen, dachte er bei sich, es könne ihm gar nicht fehlen. Er ging sofort zum Tischler und bestellte ebenfalls ein paar Stelzen, viel schöner wie die, welche die armen Leute hatten anfertigen lassen. Oben und unten mit goldenen Knöpfen und in der Mitte grün, gelb und blau geringelt. Als sie fertig waren, sahen sie in der Tat ungewöhnlich schön aus. Darauf zog er sich seinen besten Rock an, nahm die Stelzen unter den Arm und ging hinaus an den Sumpf, wo er auch gleich den Storch fand. „Ganz gehorsamer Diener, Euer Gnaden!“ sagte er zu ihm und machte ein tiefes Kompliment. „Meinst du mich?“ fragte der Storch, der auf seinen schönen roten Stelzen behaglich im Wasser stand. „Ich bin so frei!“ erwiderte der Bauer. „Nun, was willst du?“ „Ich möchte gern ein kleines Mädchen haben, und da hat sich meine Frau erlaubt, Euer Gnaden ein kleines Geschenk zu schicken. Ein Paar ganz bescheidene Stelzen.“ „Da mach nur, daß du wieder nach Hause kommst!“ entgegnete der Storch, indem er sich auf einem Bein umdrehte und den Bauer gar nicht wieder ansah. „Ein kleines Mädchen kannst du nicht bekommen; und deine Stelzen brauche ich auch nicht! Ich habe schon zwei sehr schöne rote, und da ich meist nur eine auf einmal benutze, so werden sie wohl sehr lange vorhalten. – Außerdem sind ja deine Stelzen ganz abscheulich häßlich. Pfui! blau, grün und gelb geringelt wie ein Hanswurst! Mit denen dürfte ich ja der Frau Storchen gar nicht unter die Augen kommen.“ Da mußte der Bauer mit seinen schönen Stelzen abziehen, und ein kleines Mädchen hat er sein Lebtag nicht bekommen.

Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen

Es gibt Menschen mit gläsernen Herzen. Wenn man leise daran rührt, klingen sie so fein wie silberne Glocken. Stößt man jedoch derb daran, so gehen sie entzwei. Da war nun auch ein Königspaar, das besaß drei Töchter, und alle drei hatten gläserne Herzen. „Kinder“, sagte die Königin, „nehmt euch mit euren Herzen in acht, sie sind eine zerbrechliche Ware!“ Und sie taten es auch. Eins Tages jedoch lehnte sich die älteste Schwester zum Fenster hinaus über die Brüstung und sah hinab in den Garten, wie die Bienen und Schmetterlinge um die Levkojen flogen. Dabei drückte sie sich ihr Herz: kling! ging es, wie wenn etwas zerspringt, und sie fiel hin und war tot. Wieder nach einiger Zeit trank die zweite Tochter eine Tasse zu heißen Kaffee. Da gab es abermals einen Klang, wie wenn ein Glas springt, nur etwas feiner wie das erstemal, und auch sie fiel um. Da hob sie ihre Mutter auf und besah sie, merkte aber bald zu ihrer Freude, daß sie nicht tot war, sondern daß ihr Herz nur einen Sprung bekommen hatte, jedoch noch hielt. „Was sollen wir nun mit unserer Tochter anfangen?“ ratschlagten der König und die Königin. „Sie hate einen Sprung im Herzen, und wenn er auch nur fein ist, so wird es doch leicht ganz entzweigehen. Wir müssen sie sehr in acht nehmen.“ Aber die Prinzessin sagte: „Laßt mich nur! Manchmal hält das, was einen Sprung bekommen hat, nachher gerade noch recht lange!“ – Indessen war die jüngste Königstochter auch groß geworden und so schön, gut und verständig, daß von allen Seiten Königssöhne herbeiströmten und um sie freiten. Doch der alte König war durch Schaden klug geworden und sagte: „Ich habe nur noch eine ganze Tochter, und auch die hat ein gläsernes Herz. Soll ich sie jemandem geben, so muß es ein König sein, der zugleich Glaser ist und mit so zerbrechlicher Ware umzugehen versteht.“ Allein es war unter den vielen Freiern nicht einer, der sich gleichzeitig auf die Glaserei gelegt hätte, und so mußten sie alle wieder abziehen. – Da war nun unter den Edelknaben im Schloß des Königs einer, der war beinahe fertig. Wenn er noch dreimal der jüngsten Königstochter die Schleppe getragen hatte, so war er Edelmann. Dann gratulierte ihm der König und sagte ihm: „Du bist nun fertig und Edelmann. Ich danke dir. Du kannst gehen.“ Als er nun das erstemal der Prinzessin die Schleppe trug, sah er, daß sie einen ganz königlichen Gang hatte. Als er sie ihr das zweitemal trug, sagte die Prinzessin: „Laß einmal einen Augenblick die Schleppe los, gib mir deine Hand und führe mich die Treppe hinauf, aber fein zierlich, wie es sich für einen Edelknaben, der eine Königstochter führt, schickt.“ Als er dies tat, sah er, daß sie auch eine ganz königliche Hand hatte. Sie aber merkte auch etwas; was es aber war, will ich erst nachher sagen. Endlich, als er ihr das drittemal die Schleppe trug, drehte sich die Königstochter um und sagte zu ihm: „Wie reizend du mir meine Schleppe trägst! So reizend hat sie mir noch keiner getragen.“ Da merkte der Edelknabe, daß sie auch eine ganz königliche Sprache führte. Damit war er nun aber fertig und Edelmann. Der König dankte und gratulierte ihm und sagte, er könne nun gehen. Als er ging, stand die Königstochter an der Gartentüre und sprach zu ihm: „Du hast mir so reizend die Schleppe getragen wie kein anderer. Wenn du doch Glaser und König wärst!“ Darauf antwortete er, er wolle sich alle Mühe geben, es zu werden; sie möge nur auf ihn warten, er käme gewiß wieder. Er ging also zu einem Glaser und fragte ihn, ob er nicht einen Glaserjungen gebrauchen könne. „Jawohl“, erwiderte dieser, „aber du mußt vier Jahre bei mir lernen. Im ersten Jahr lernst du die Semmeln vom Bäcker holen und die Kinder waschen, kämmen und anziehen. Im zweiten lernst du die Ritzen mit Kitt verschmieren, im dritten Glas schneiden und einsetzen, und im vierten wirst du Meister.“ Darauf fragte er den Glaser, ob er nicht von hinten anfangen könne, weil es dann doch schneller ging. Indes der Glaser bedeutete ihm, daß ein ordentlicher Glaser immer von vorn anfangen müsse, sonst würde nichts Gescheites daraus. Damit gab er sich zufrieden. Im ersten Jahre holte er also die Semmeln vom Bäcker, wusch und kämmte die Kinder und zog sie an. Im zweiten verschmierte er die Ritzen mit Kitt, im dritten lernte er Glas schneiden und einsetzen, und im vierten Jahre wurde er Meister. Darauf zog er sich wieder seine Edelmannskleider an, nahm Abschied von seinem Lehrherrn und überlegte sich, wie er es anfinge, um nun auch noch König zu werden. Während er so auf der Straße, ganz in Gedanken versunken, einherging und aufs Pflaster sah, trat ein Mann an ihn heran und fragte, ob er etwas verloren habe, daß er immer so auf die Erde sähe. Da erwiderte er: verloren habe er zwar nichts, aber suchen täte er doch etwas, nämlich ein Königreich; und fragte ihn, ob er nicht wisse, was er zu beginnen habe, um König zu werden. „Wenn du ein Glaser wärst“, sagte der Mann, „wüßte ich schon Rat.“ „Ich bin ja gerade ein Glaser!“ antwortete er, „und eben fertig geworden!“ Als er dies gesagt, erzählte ihm der Mann die Geschichte von den drei Schwestern mit den gläsernen Herzen, und wie der alte König durchaus seine Tochter nur einem Glaser vermählen wolle. „Anfangs“, so sprach er, „war noch die Bedingung, daß der Glaser, der sie bekäme, auch noch ein König oder ein Königssohn sein müsse; weil sich aber keiner finden will, der alles beides ist, Glaser und König zugleich, so hat er etwas nachgegeben, wie es der Klügste immer tun muß, und zwei andere Bedingungen gestellt. Glaser muß er freilich immer noch sein, dabei bleibt es!“ „Welches sind denn die beiden Bedingungen?“ fragte der junge Edelmann. „Er muß der Prinzessin gefallen und Samtpatschen haben. Kommt nun ein Glaser, welcher der Prinzessin gefällt und auch Samtpatschen hat, so will ihm der König seine Tochter geben und ihn später, wenn er tot ist, zum König machen. Es sind nun auch schon eine Menge Glaser auf dem Schloß gewesen, aber der Prinzessin wollte keiner gefallen. Außerdem hatten sie auch alle keine Samtpatschen, sondern grobe Hände, wie das von gewöhnlichen Glasern nicht anders zu erwarten ist.“ Als dies der junge Edelmann vernommen, ging er in das Schloß, entdeckte sich dem König, erinnerte ihn daran, wie er bei ihm Edelknabe gewesen sei, und erzählte ihm, daß er seiner Tochter zuliebe Glaser geworden und sie nun gar gern heiraten und nach seinem Tode König werden wolle. Da ließ der König die Prinzessin rufen und fragte sie, ob der junge Edelmann ihr gefiele, und als sie dies bejahte, weil sie ihn gleich erkannte, sagte er dann weiter, er solle nun auch seine Handschuhe ausziehen und zeigen, ob er auch Samtpatschen habe. Aber die Prinzessin meinte, dies sei unnötig, sie wisse es ganz genau, daß er wirklich Samtpatschen habe. Sie hätte es schon damals gemerkt, als er sie die Treppe hinaufgeführt hätte. So waren denn beide Bedingungen erfüllt, und da die Prinzessin einen Glaser zum Mann bekam und noch dazu einen mit Samtpatschen, so nahm er ihr Herz sehr in acht, und es hielt bis an ihr seliges Ende. Die zweite Schwester aber, welche schon den Sprung hatte, wurde die Tante, und zwar die allerbeste Tante der Welt. Dies versicherten nicht bloß die Kinder, welche der junge Edelmann und die Prinzessin zusammen bekamen, sondern auch alle anderen Leute. Die kleinen Prinzessinnen lehrte sie lesen, beten und Puppenkleider machen; den Prinzen aber besah sie die Zensuren. Wer eine gute Zensur hatte, wurde sehr gelobt und bekam etwas geschenkt; hatte aber einmal einer eine schlechte Zensur, dann gab sie ihm einen Katzenkopf und sprach: „Sage einmal, sauberer Prinz, was du dir eigentlich vorstellst? Was willst du später einmal werden? Heraus mit der Sprache! Nun, wird‘s bald?“ Und wenn er dann schnuckste und sagte: „Kö-Kö-Kö-König!“ lachte sie und fragte: „König! Wohl König Midas? König Midas Hochgeboren mit zwei langen Eselsohren!“ Dann schämte sich der, welcher die schlechte Zensur bekommen hatte, gewaltig. Und auch diese zweite Prinzessin wurde steinalt, obwohl ihr Herz einen Sprung hatte. Wenn sich jemand darüber wunderte, sagte sie regelmäßig: „Was in der Jugend einen Sprung kriegt und geht nicht gleich entzwei, das hält nachher oft gerade noch recht lange.“ – Und das ist auch wahr. Denn meine Mutter hat auch so ein altes Sahnetöpfchen, weiß, mit kleinen bunten Blumensträußchen besät, das hat einen Sprung, solange ich denken kann, und hält immer noch; und seit es meine Mutter hat, sind schon so viele neue Sahnetöpfchen gekauft und immer wieder zerbrochen worden, daß man sie gar nicht zählen kann.

Die Traumbuche

Hundert Jahre oder mehr ist’s wohl her, daß der Blitz in sie einschlug und sie von oben bis unten auseinanderspellte, und ebensolange schon geht der Pflug über die Stätte; früher aber stand einige hundert Schritte vor dem ersten Hause des Dorfes auf dem grünen Rasenhügel eine alte mächtige Buche; so ein Baum, wie jetzt gar keine mehr wachsen, weil Tiere und Menschen, Pflanzen und Bäume immer kleiner und erbärmlicher werden. Die Bauern sagten, sie stamme noch aus der Heidenzeit und ein heiliger Apostel sei unter ihr von den falschen Heiden erschlagen worden. Da hätten die Wurzeln des Baumes Apostelblut getrunken, und wie es ihm in den Stamm und in die Äste gefahren, sei er davon so groß und kräftig geworden. Wer weiß, ob’s wahr ist? Eine eigene Bewandtnis aber hatte es mit dem Baum; das wußte jeder, klein und groβ im Dorf. Wer unter ihm einschlief und träumte, des Traum ging unabweislich in Erfüllung. Deshalb hieß er schon seit undenklichen Zeiten die Traumbuche, und niemand nannte ihn anders. Eine besondere Bedingung war jedoch dabei: wer sich zum Schlaf legte unter die Traumbuche, durfte nicht daran denken, was er wohl träumen würde. Tat er es doch, so träumte er nichts wie Krimskrams und verworrenes Zeug, aus dem kein vernünftiger Mensch klug werden konnte. Das war nun allerdings eine sehr schwere Bedingung, weil die meisten Menschen viel zu neugierig sind, und so mißlang es denn auch den allermeisten, die es versuchten; und zu der Zeit, wo die folgende Geschichte sich zutrug, war im Dorf wohl kein einziger, weder Mann noch Weib, dem’s auch nur ein einziges Mal gelungen wäre. Aber seine Richtigkeit hatte es mit der Traumbuche, das war sicher. – Eines heißen Sommertages also, da kein Lüftchen sich regte, kam auch einmal ein armer Handwerksbursche die Straße daher gewandert, dem war es in der Fremde viele Jahre hindurch weh und übel gegangen. Als er vor dem Dorfe anlangte, drehte er zum Überfluß noch einmal alle seine Taschen um, doch sie waren sämtlich leer. Was fängst du an? dachte er bei sich. Todmüde bist du; umsonst nimmt dich kein Wirt auf, und das Fechten ist ein beschwerliches Handwerk. Da erblickte er die herrliche Buche mit dem grünen Rasenhügel davor; und da sie nur wenige Schritte abseits vom Wege stand, legte er sich unter sie ins Gras, um etwas auszuruhen. Doch der Baum hatte ein seltsames Rauschen, und wie er seine Zweige leise bewegte, ließ er bald hier, bald da einen feinen glitzernden Sonnenstrahl durchfallen und bald hier, bald da ein Stückchen blauen Himmel durchscheinen: da fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein. Als er eingeschlafen war, warf die Buche einen Zweig mit drei Blättern herab, der fiel ihm gerade auf die Brust. Da träumte er, er säße in einer gar heimlichen Stube am Tisch, und der Tisch wäre sein, und die Stube auch, und ebenso das Haus. Und vor dem Tisch stände eine junge Frau, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und sähe ihn gar freundlich an, und das wäre seine Frau. Und auf seinen Knien säße ein Kind, dem fütterte er seinen Brei, und weil er zu heiß wäre, bliese er immer auf den Löffel. Und da sagte die Frau: „Was du doch für eine gute Kindermuhme bist, Schatz!“ und lachte darüber. In der Stube aber spränge noch ein anderes Kind herum, ein dicker, pausbäckiger Junge, und er hätte an eine große Mohrrübe einen Bindfaden gebunden und zöge sie hinter sich her und riefe immer hü und hott, als wär’s der beste Fuchs. Und alle beide Kinder wären ebenfalls sein. So träumte er; und der Traum mußte ihm wohl sehr gefallen, denn er lachte im Schlaf übers ganze Gesicht. Als er aufwachte, war es schon fast Abend geworden, und vor ihm stand der Schäfer mit seinen Schafen und strickte. Da sprang er erquickt auf, dehnte und reckte sich und sagte: „Lieber Himmel, wem’s so wüchse! Es ist aber doch hübsch, daß man nun wenigstens weiß, wie’s ist.“ Da trat der Schäfer an ihn heran und fragte ihn, woher er käme und wohin er wollte und ob er schon etwas von dem Baume gehört habe. Nachdem er sich überzeugt, daß er so unschuldig war wie ein neugeborenes Kind, rief er aus: „Ihr seid ein Glückspilz! Denn daß Ihr etwas Gutes geträumt habt, war ja doch auf Euerem Gesicht zu lesen; habe ich Euch doch schon lange betrachtet, wie Ihr so dalagt!“ Darauf erzählte er ihm, was es für eine Bewandtnis mit dem Baume habe: „Was Ihr geträumt habt, geht in Erfüllung; das ist so sicher als wie, daß das hier ein Schaf und das dort ein Bock ist. Fragt nur die Leute im Dorf, ob ich nicht recht habe! Nun sagt aber auch einmal, was Ihr geträumt habt!“ „Alterchen“, erwiderte der Handwerksbursche schmunzelnd, „so fragt man die Bauern aus. Meinen schönen Traum behalte ich für mich; das könnt Ihr mir nun schon gar nicht verdenken. Aber daraus werden tut doch nichts!“ Und das sagte er nicht bloß so, sondern es war sein Ernst; denn als er nun auf das Dorf zuging, sprach er vor sich hin: „Papperlapapp, Schäferschnack! Möchte wohl wissen, wo der Baum die Wissenschaft herhaben sollte.“ Als er in das Dorf kam, ragte am dritten Haus vom Giebel eine lange Stange heraus, an der hing eine goldene Krone, und unten vor der Haustüre stand der Kronenwirt. Der war gerade sehr guter Laune, denn er hatte schon zur Nacht gegessen und war rundherum satt, und das war sein beste Stunde. Da zog er höflich den Hut und fragte, ob er ihn nicht um einen Gotteslohn zur Nacht behalten wolle. Der Kronenwirt besah sich den schmucken Burschen in seinen staubigen, abgerissenen Kleidern von oben bis unten. Dann nickte er freundlich und sagte: „Setz dich nur gleich hier in die Laube neben die Tür; es wird wohl noch ein Stück Brot und ein Krug Wein übriggeblieben sein. Unterdessen können sie dir eine Streu machen.“ Darauf ging er hinein und schickte seine Tochter, die brachte Brot und Wein, setzte sich zu ihm und ließ sich erzählen, wie es in der Fremde aussähe. Dann erzählte sie ihm auch wieder alles, was sie wußte, aus dem Dorf: wie der Weizen stände, und daß des Nachbars Frau Zwillinge bekommen hätte, und wann das nächste Mal in der Krone zu Tanz gespielt würde. Auf einmal aber stand sie auf, bog sich zu dem Handwerksburschen über den Tisch hinüber und sagte: „Was hast du denn da für drei Blätter am Latz?“ Da sah der Handwerksbursche hin und fand den Zweig mit den drei Blättern, der während des Schlafes auf ihn herabgefallen war. Er stak ihm gerade im Latz. „Die müssen von der großen Buche dicht vorm Dorfe sein“, erwiderte er, „unter der ich einen kleinen Nick gemacht habe.“ Da horchte das Mädchen neugierig auf und wartete, was er wohl weiter sagen würde. Als er schwieg, begann sie ihn gar vorsichtig auszukundschaften, bis sie sicher war, daß er wirklich unter der Traumbuche geschlafen; und dann ging sie so lange wie die Katze um den heißen Brei, bis sie sich überzeugt zu haben glaubte, daß er nichts von der sonderbaren Kraft und Eigenschaft der Traumbuche wisse; denn er war ein Schalk und tat so, als wüßte er gar nichts. Als sie auch damit fertig war, holte sie noch einen Krug Wein, sprach ihm freundlich zu, daß er noch trinken möge, und erzählte ihm alles Mögliche, was sie geträumt hätte und wie es doch gar schade wäre, daß nie etwas in Erfüllung ginge. Indem kam der Schäfer vom Felde zurück und trieb die Schafe durch die Dorfstraße. Als er an der Krone vorbeikam und das Mädchen mit dem Handwerksburschen in eifrigem Gespräch in der Laube sitzen sah, blieb er einen Augenblick stehen und sagte: „Ja, ja, Euch wird er schon den hübschen Traum erzählen; mir will er nichts sagen!“ Darauf trieb er seine Schafe weiter. Da ward das Mädchen noch neugieriger, und wie er immer noch nichts von seinem Traume sagte, konnte sie es nicht mehr verwinden und fragte ihn ganz offen, was er denn, während er unter der Buche geschlafen, geträumt habe. Da machte der Handwerksbursche, der ein arger Schalk und durch den schönen Traum übermütig fröhlich gestimmte war, ein schlaues Gesicht, zwinkerte mit den Augen und sagte: „Einen herrlichen Traum habe ich gehabt, das muß wahr sein; aber ich getraue mich nicht zu sagen, wie er war.“ Aber sie drang immer weiter in ihn und quälte, er möchte es doch sagen. Da rückte er ganz nahe an sie heran und sagte ernsthaft: „Denkt nur, mir hat geträumt, ich würde noch einmal des Kronenwirts Töchterlein heiraten und später selbst Kronenwirt werden!“ Da wurde das Mädchen erst kreideweiß und dann purpurrot und ging ins Haus. Nach einer Weile kam sie wieder und fragte, ob er das wirklich geträumt habe und es sein Ernst sei. „Gewiß, gewiß“, sagte er, „gerade wie Ihr sah die aus, die mir im Traum erschienen ist!“ Da ging das Mädchen abermals ins Haus und kam nicht wieder. Sie ging in ihre Kammer, und die Gedanken liefen ihr übers Herz wie Wasser übers Wehr: immer neue und immer andere, und immer wieder dieselben, so, daß es gar kein Ende hatte. „Er weiß nichts von dem Baume“, sagte sie. „Er hat’s geträumt. Ich mag wollen oder nicht, es wird schon so kommen. Es ist nichts daran zu ändern.“ Darauf legte sie sich zu Bett, und die ganze Nacht träumte sie von dem Handwerksburschen. Als sie am anderen Morgen aufwachte, kannte sie sein Gesicht ganz auswendg, so oft hatte sie es über Nacht im Traum gesehen – und ein schmucker Bursche war’s, das ist wahr. Der Handwerksbursche aber hatte auf seiner Streu wundervoll geschlafen; Traumbuche, Traum und was er am Abend zu der Wirtstochter gesagt, längst vergessen. Er stand in der Wirtsstube an der Tür und wollte eben dem Kronenwirt die Hand reichen zum Abschied. Da trat sie herein, und wie sie ihn reisefertig dastehen sah, überfiel sie eine sonderbare Angst, als dürfe sie ihn nicht fortlassen. „Vater“, sagte sie, „der Wein ist immer noch nicht gezapft, und der junge Bursch hat nichts zu tun; könnte er einen Tag hierbleiben, so möchte er sich seine Zeche verdienen und ein Stückchen Reisegeld obendrein.“ Und der Kronenwirt hatte nichts dagegen, denn er hatte schon seinen Morgentrunk gemacht und gefrühstückt und war so satt, so daß es seine beste Stunde war. Doch das Zapfen ging sehr langsam, und das Mädchen hatte immer dies oder jenes, weshalb der Handwerksbursche einmal aus dem Keller heraufgeholt werden mußte. Als das Faß endlich leer und die Flaschen gefüllt waren, meinte sie, es wäre doch ganz gut, wenn er erst noch etwas im Feld hülfe; und als er damit auch fertig war, fand sich noch mancherlei im Garten zu tun, woran vorher niemand gedacht hatte. So verging Woche um Woche, und jedwede Nacht träumte sie von ihm. Am Abend aber saß sie mit ihm in der Laube vor dem Haus, und wenn er erzählte, wie es ihm weh und übel unter den fremden Leuten ergangen sei, kam ihr immer eine Schnake ins Auge oder ein Haar, so daß sie sich die Augen mit der Schürze reiben mußte. Und nach einem Jahr war der Handwerksbursche immer noch im Hause; und alles war gescheuert, weißer Sand in allen Zimmern gestreut und darauf kleine grüne Tannenzweige, und das ganze Dorf hielt Feiertag. Denn der junge Handwerksbursch hielt Hochzeit mit dem Kronenwirtskind, und alle Leute freuten sich; und wer sich nciht freute, weil er ein Neidhammel war, der tat wenigstens so. Bald darauf hatte der Kronenwirt auch wieder einmal seine beste Stunde, weil er nämlich rundherum satt war, und saß, die Tabaksdose auf dem Schoß, im Lehnstuhl und schlief. Als er gar nicht wieder erwachte, wollten sie ihn wecken; da war er tot – mausetot. Da war nun der junge Handwerksbursch wirklich Kronenwirt, wie er es im Scherze gesagt, und sonst traf alles ein, wie er es unter der Buche geträumt. Denn sehr bald hatte er auch zwei Kinder, und wahrscheinlich nahm er auch einmal das eine von ihnen auf den Schoß und fütterte es und blies dabei auf den Löffel, und sicher fuhr gleichzeitig der andere Knabe mit der Mohrrübe im Zimmer umher, obwohl der, von dem ich diese Geschichte weiß, mir es nicht gesagthat und ich es selbst vergessen habe, ihn expreß danach zu fragen. Aber es wird schon so gewesen sein, weil das, was man unter der Traumbuche träumte, stets aufs Haar eintraf. Eines Tages nun, es mochten wohl an die vier Jahre seit der Hochzeit verflossen sein, saß der junge Kronenwirt – denn das war er ja jetzt – auch einmal in der Wirtsstube. Da kam sene Frau herein, stellte sich vor ihn hin und sagte: „Denke dir, gestern unter Mittag ist einer von unsern Mähern unter der Traumbuche eingeschlafen und hat nicht daran gedacht. Weißt du, was er geträumt hat? Er hat geträumt, er wäre steinreich. Und wer ist’s? Der alte Kaspar, der so dumm ist, daß er einen dauert, und den wir nur aus Mitleid behalten. Was der wohl mit dem vielen Gelde anfangen wird?“ Da lachte der Mann und sagte: „Wie kannst du nur an das dumme Zeug glauben und bist sonst eine so kluge Frau? Überlege dir doch selbst, ob ein Baum, und wenn er noch so schön und alt ist, die Zukunft wissen kann.“ Da sah die Frau ihren Mann mit großen Augen an, schüttelte den Kopf und sprach ernsthaft: „Mann, versündige dich nicht! Über solche Dinge soll man nicht scherzen.“ „Ich scherze nicht, Frau!“ erwiderte der Mann. Darauf schwieg die Frau wieder eine Weile, als wenn sie ihn nicht recht verstünde, und sagte dann: „Wozu das nur alles ist! Ich dächte, du hättest alle Ursache, dem alten heiligen Baume dankbar zu sein. Ist nicht alles so eingetroffen, wie du es geträumt?“ Als sie dies gesagt, machte der Mann das freundlichste Gesicht der Welt und entgegnete: „Gott weiß es, daß ich dankbar bin, Gott und dir. Ja, ein schöner Traum war’s! Ist mir’s doch, als wenn es erst gestern gewesen wäre, so genau erinnere ich mich noch daran. Und doch ist alles noch tausendmal schöner geworden, als ich es geträumt; und du bist auch noch tausendmal lieber und hübscher als die junge Frau, die mir damals im Traume erschienen war.“ Und die Frau sah ihn wieder mit großen Augen an; darauf fuhr er fort: „Was nun aber den Baum anbelangt und den Traum, Herzensschatz, so denke ich: wer gern tanzt, dem ist leicht gepfiffen; und: wie man in den Wald schreit, so schallt es wieder heraus. War es mir die vielen Jahre weh und übel gegangen, so war’s wohl kein Wunder, wenn ich auch einmal von was Liebem träumte.“ „Daß du aber gerade geträumt hast, du würdest mich heiraten!“ „Das hab‘ ich nie geträumt! Bloß eine junge Frau sah ich mit zwei Kindern, und sie war lange nicht so hübsch wie du und die Kinder auch nicht.“ „Pfui“, erwiderte die Frau. „Willst du mich verleugnen oder den Baum? Hast du mir nicht am ersten Tag, wo wir uns sahen – es war schon Abend und draußen in der Laube –, hast du mir da nicht gleich gesagt, du hättest geträumt, du würdest mich heiraten und Kronenwirt werden?“ Da fiel dem Manne zum ersten Male wieder der Schwerz ein, den er sich damals mit seiner jetzigen Frau erlaubt hatte, und er sagte: „Es kann nichts helfen, liebe Frau! Ich habe wirklich damals nicht von dir geträumt; und wenn ich es gesagt, so war es nur ein Scherz. Du warst so neugierig; da wollte ich dich necken!“ Da brach die Frau in heftiges Weinen aus und ging hinaus. Nach einer Weile ging er ihr nach. Sie stand im Hof am Brunnen und weinte immer noch. Er versuchte sie zu trösten, doch vergeblich. „Du hast mir meine Liebe gestohlen und mich um mein Herz betrogen!“ sagte sie. „Ich wede nie wieder froh werden!“ Da fragte er sie, ob sie ihn denn nicht liebhätte, so lieb wie keinen andern Menschen auf der Welt, und ob sie nicht zufrieden und glücklich miteinander gelebt hätten wie niemand weiter im Dorf. Sie mußte alles zugeben, aber sie blieb traurig wie zuvor, trotz allem Zureden. Da dachte er: Laß sie ausweinen! Über Nacht kommen andere Gedanken; morgen ist sie die alte. Doch er täuschte sich; denn am andern Morgen weinte die Frau zwar nicht mehr, aber sie war ernst und traurig und ging ihrem Mann aus dem Wege. Jeder Versuch, sie zu trösten, scheiterte wie am Abend zuvor. Den größten Teil des Tages saß sie in einer Ecke und grübelte, und wenn ihr Mann hereintrat, schrak sie zusammen. Als dies mehrere Tage gedauert, ohne daß eine Änderung eintrat, befiel auch ihn eine große Traurigkeit; denn er fürchtete, er hätte die Liebe seiner Frau auf immer verloren. Er ging still im Hause umher und sann auf Abhilfe, doch es wollte ihm nichts einfallen. Da ging er eines Mittags zum Dorfe hinaus und schlenderte durchs Feld. Es war ein heißer Julitag; keine Wolke am Himmel. Die reife Saat wogte wie ein goldner See, und die Vögel sangen; doch sein Herz war voller Bekümmernis. Da sah er von fern die alte Traumbuche stehen: wie eine Königin der Bäume ragte sie hoch in den Himmel hinein. Es kam ihm vor, als wenn sie ihm mit ihren grünen Zweigen zuwinkte und wie eine alte Freundin zu sich riefe. Er ging hin und setzte sich unter sie und dachte an die vergangene Zeit. Fünf Jahre waren ziemlich genau verflossen, seit er als ein armer Teufel zum ersten Male unter ihr geruht und so schön geträumt hatte. Ach so wunderschön! Und der Traum hatte fünf Jahre gedauert. – Und nun? Alles vorbei! Alles vorbei? Auf immer? – Da fing die Buche wieder zu rauschen an, wie vor fünf Jahren, und bewegte ihre mächtigen Zweige. Und wie sie dieselben bewegte, ließ sie wie damals bald hier, bald dort einen feinen glitzernden Sonnenstrahl durchfallen und bald hier, bald da ein Stückchen blauen Himmel durchscheinen. Da wurde sein Herz stiller, und er schlief ein; denn er hatte vor Sorge die vorhergehenden Nächte nicht geschlafen. Und nicht lange, so träumte er denselben Traum wie vor fünf Jahren, und die Frau am Tisch und die spielenden Kinder hatten die alten, lieben Gesichter von seiner Frau und von seinen Kindern. Und die Frau sah ihn so freundlich an – ach, so freundlich. Da wachte er auf, und als er sah, daß es nur ein Traum war, ward er noch trauriger. Er brach sich einen grünen Zweig ab von der Buche, ging nach Haus und legte ihn ins Gesangbuch. Als die Frau am nächsten Tage – es war gerade Sonntag – in die Kirche gehen wollte, fiel der Zweig heraus. Da wurde der Mann, der danebenstand, rot, bückte sich und wollte ihn in die Tasche stecken. Doch die Frau sah es und fragte, was es für ein Blatt sein. „Es ist von der Traumbuche; sie meint es besser mit mir wie du!“ erwiderte der Mann. „Denn als ich gestern draußen war und unter ihr saß, schlief ich ein. Da wollte sie mich wohl trösten; denn mir träumte, du wärest wieder gut und hättest alle vergessen. Aber es ist nicht wahr! Es ist nichts mit der alten guten Buche. Ein schöner herrlicher Baum ist sie schon, aber von der Zukunft weiß sie nichts.“ Da starrte ihn die Frau an, und dann ging es wie ein Sonnenschein über ihr Gesicht: „Mann, hast du das wirklich geträumt?“ „Ja!“ entgegnete er fest, und sie merkte, daß es die Wahrheit war; denn er zuckte mit dem Gesicht, weil er nicht weinen wollte. „Und ich war wirklich deine Frau?“ Als er auch dies bejahte, fiel ihm die Frau um den Hals und küßte ihn so oft, daß er sich ihrer gar nicht erwehren konnte. „Gelobt sei Gott“, sagte sie, „nun ist alles wieder gut! Ich habe dich ja so lieb –so lieb, wie du es gar nicht weißt! Und ich habe die Tage solche Angst gehabt, ob ich dich denn auch wirklich liebhaben dürfte, und ob mir nicht Gott eigentlich einen anderen Mann bestimmt hatte. Denn mein Herz gestohlen hast du mir doch, du böser Mann, und ein bißchen Betrug war doch dabei! – Ja, gestohlen hast du mir’s; aber nun weiß ich doch, daß es dir nichts geholfen hat und daß es auch ohnedem so gekommen wäre.“ Darauf schwieg sie eine Weile und fuhr dann fort: „Nicht wahr, du sprichst nie wieder schlecht von der Traumbuche?“ „Nein, niemals; denn ich glaube an sie; vielleicht etwas anders wie du, aber darum doch nicht weniger fest. Verlaß dich darauf! Und den Zweig wollen wir vorn ins Gesangbuch heften, damit er nicht verlorengeht.“

Heino im Sumpf

„Unser Sohn ist ein großer Jäger“, sagte der alte König. „Er reitet alle Tage mit der Armbrust in den Wald. Aber er bringt nie ein Wild zurück, soviel er auch erlegt; denn er schenkt alles, was er schießt, den armen Leuten. Es ist ein sehr guter Mensch!“ So sagte der alte König zur Königin. Doch die Rehe im Walde dachten etwas ganz anderes. Sie hatten gar keine Furcht vor Heino; denn sie kannten ihn schon lange und wußten, daß er ihnen nichts zuleide tat. Er ritt ja immer nur durch den Wald hindurch bis an das Waldende; und am Waldende stand ein kleines Häuschen, fasz ganz zugedeckt von Bäumen und Gesträuch, und Fenster und Haustüre fast ganz zugewachsen von Efeu und Geißblatt. Vor der Tür aber stand Blauäuglein, und wenn sie den Königssohn kommen sah, leuchteten ihre großen blauen Augen vor Freude wie zwei Sterne und beschienen ihr ganzes Gesicht. – Doch Heino brachte immer und immer kein Wild nach Hause und wollte stets allein reiten; und wenn sein Vater mit ihm ritt, traf er nichts. Da merkte der alte König wohl, daß es etwas Besonderes mit dem Jagen sein müsse. Er ließ einen Diener heimlich Heino nachschleichen, und der erzählte ihm alles. Da fuhr es ihm in die Krone, und er ward sehr zornig; denn Heino war sein einziger Sohn, und er gedachte ihn mit der Tochter eines mächtigen Königs zu vermählen. Er rief daher zwei Jägerknechte, zeigte ihnen einen Klumpen Goldes, so groß wie ein Kopf, und versprach, ihnen denselben zu schenken, wenn sie Blauäuglein umbringen würde. Aber Blauäuglein hatte eine schneeweiße Taube, die saß jeden Tag auf dem höchsten Baume im Walde und sah nach dem Schloß. Wenn Heino zu Pferde stieg, um zu Blauäuglein zu reiten, flog sie schnell voran, schlug mit den Flügeln gegen das Fenster und rief: „Es rascheln die Zweiglein,
Es kommt was geschritten,
Herzliebstes Blauäuglein,
Es kommt was geritten!“ Dann stellte sich Blauäuglein vor die Haustüre und wartete, bis Heino kam. Als nun die weiße Taube die beiden Jägerknechte gegen Abend nach dem Walde schleichen sah, ahnte ihr nichts Gutes. Sie flog eilends zum Schloß an Heinos Fenster, schlug gegen die Scheiben, bis er kam und ihr aufmachte, und sagte ihm alles, was sie gesehen hatte. Da stürzte er atemlos in den Wald, und als er bei dem kleinen Häuschen ankam, hatten schon die Jägerknechte Blauäuglein gebunden und ratschlagten, wie sie es töten sollten. Da schlug er ihnen die beiden Häupter ab, trug sie nach Haus und setzte sie seinem Vater vor die Kammer auf die Schwelle. Der alte König aber konnte die ganze Nacht nicht schlafen, sondern hörte fortwährend ein leises Wimmern und Stöhnen vor seiner Tür. Als der Morgen graute, stand er auf und sah nach, was es wäre. Da standen die beiden Köpfe der Jägerknechte auf der Schwelle, und zwischen beiden lag ein Brief von Heino, in dem stand geschrieben, daß er nichts mehr weder von Vater noch Mutter wissen wolle, und daß er sich jedwede Nacht vor Blauäugleins Haus auf die Schwelle legen würde mit dem nackten Schwert auf dem Schoß. Wer da käme, ihr ein Leid zu tun, dem schlüge er das Haupt ab, wie er es den beiden Jägerknechten getan, und wenn‘s der König selbst wäre. Als der alte König dies gelesen, ward er sehr betreten. Er ging zur Königin und erzählte ihr alles. Diese aber schalt ihn aus, daß er Blauäuglein habe wollen umbringen lassen, und sagte: „Du hast alles verdorben! Wer wid nur immer gleich alles totmachen wollen! Ihr Männer seid doch gar zu schlimm, einer wie der andere! Stets heißt es: biegen oder brechen. Da sind von dir heute sechs Hemden aus der Wäsche gekommen, da fehlen wieder an allen sechsne die Hemdkragenbänder. Wo sind sie hin? Abgerissen hast du sie wieder, weil du sie verknotet hast, anstatt sie mit Geduld aufzuknüpfen. Und Heino ist geradeso wie du. Nun soll ich‘s wieder gutmachen!“ „Schon gut, schon gut“, erwiderte der König, der wohl fühlte, daß die Königin recht hatte, „sei nur ruhig und höre auf zu schelten; davon wird‘s auch nicht besser.“ Und die Königin warf sich die Nacht über unaufhörlich im Bette hin und her und überlegte sich, was sie tun wolle. Soblad es hell ward, ging sie auf den Anger und grub ein Kraut heraus, das war giftig und hatte schwarze Beeren. Darauf ging sie in den Wald und pflanzte es gerade an den Weg. Als sie zurückkam, fragte sie der König, was sie gemacht habe. Da antwortete sie: „Ich habe ihm ein Kraut in den Weg gepflanzt, darauf wächst eine rote Blume; wer sie bricht, muß sein Liebstes vergessen.“ Am nächsten Morgen, als Heino durch den Wald ging, stand das Kraut am Wege und hatte eine schöne rote Blume getrieben, die funkelte in der Sonne und duftete so stark, daß ihm fast die Sinne vergingen. Aber obschon es über Nacht stark getaut hatte, so waren doch das Kraut sowohl als die Blume ganz trocken. Da sagte er: „Was ist das für ein Kraut,
Ein Kraut, worauf‘s nicht taut?“ Da antwortete die Blume: „Ein Kraut, das niemand find‘t,
Als nur ein Königskind!“ Darauf fragte er wieder: „Und wenn ich dich nun bräch‘,
Du Blum‘ an meinem Weg?“ und die Blume erwiderte: „So blüht‘ ich noch viel schöner,
Du stolzer Königssohn!“ Da konnte er sich nicht halten und pflückte die Blume; und als er das getan, hatte er sein Liebstes vergessen und ging zu seinen Eltern ins Schloß. Als ihn seine Mutter kommen sah, hatte er die rote Blume am Wams stecken. Da wußte sie, daß alles gelungen sei, und rief den König. Der ging seinem Sohne entgegen, brachte ihm einen goldenen Helm und eine goldene Rüstung und sprach: „Ich bin alt und schwach; geh in die Welt und sieh zu, wie‘s draußen aussieht. Wenn du nach zwei Jahren zurückkehrst, will ich dir das Königreich geben.“ Darauf wählte sich Heino dreißig Knappen aus, zog mit ihnen von einem Königreich in das andere und besah sich die Herrlichkeit der Welt. – Als aber Heino nicht wiederkam, merkte Blauäuglein wohl, daß er sie verlassen habe. Jeden Morgen schickte sie die weiße Taube aus, die mußte so lange in der Welt herumfliegen, bis sie Heino gefunden. Und jeden Abend kam die weiße Taube wieder und sagte Blauäuglein, wo Heino wäre und wie es ihm ging: „Was macht mein lieber Held,
Mein junges Königsblut?“ und die Taube antwortete: „Er fährt in alle Welt
Und hat gar stolzen Mut!“ „Hat er noch mein vergessen
Und denkt er nimmer mein?“ „Er hat dein noch vergessen,
Beim Trinken und beim Essen,
Bei Regen und Sonnenschein!“ Zwei Jahre waren schon vergangen, da kam die weiße Taube eines Abends auch wieder zurück und hatte einen Blutfleck am Flügel. Da fragte Blauäuglein: „Was macht mein lieber Held,
Mein junges Königsblut?“ Da sah sie den Blutfleck am Flügel und wurde sehr traurig. „Ist er tot?“ fragte sie. „Wollte Gott, wollte Gott,
Daß er wäre tot!“ gurrte die Taube. „Im Irrwischsumpf, da ist er ertrunken,
Im Irrwischsumpf, da ist er versunken.
Wo das Schilfgras wächst,
Da liegt er verhext,
Daß Gott erbarm‘, In der Irrwischkönigin weißem Arm!“ Da hieß Blauäuglein die weiße Taube sich auf ihre Schulter setzen, damit sie ihr den Weg wiese, und machte sich auf, Heino zu suchen. Nachdem sie drei Tage gewandert war, kam sie an den Irrwischsumpf, wo Heino verzaubert lag. Sie setzte sich still an den Weg und wartete, bis es Abend wurde. Als es dunkel ward, bezog sich der Himmel, und die Wolken jagten. Prasselnd schlug der Regen in das Erlen-gebüsch; und nicht lange, so sah sie fern im Sumpf die ersten blauen Flämmchen aufsteigen. Da schürzte sie sich ihre Röcke, stieg beherzt hinab in das Schilfgras und wanderte vorwärts, unverrückt nach den Irrlichtern schauend. Es war ein beschwerlicher Weg; denn sie sank bald bis über die Knöchel ein, der Wind peitschte ihr das Haar um die Schultern, daß sie stehenbleiben mußte, um es in einen großen Knoten im Nacken zusammenzuschürzen, und der Regen lief ihr über die Wangen. Aber der Sumpf wurde immer tiefer, und die blauen Flämmchen, welche in immer größerer Zahl an allen Orten hervorstiegen, schienen sie äffen zu wollen. Denn wenn es eine Zeitlang den Anschein gehabt, als wenn sie stillständen oder gar ihr entgegenkämen, so daß sie schon hoffte, sie bald zu erreichen, so schwebten sie doch bald wieder bis zur Mitte des Sumpfes zurück oder verlöschten plötzlich, um an einer entfernteren Stelle wieder aufzusteigen. Sie sank jetzt schon bis fast an die Knie ein und konnte nicht mehr wie zwei oder drei Schritte hintereinander tun, ohne sich auszuruhen. Da hörte das Unwetter auf, die schmale Mondsichel trat zwischen den Wolken heraus, und vor ihr, inmitten einer großen dunklen Lache, erhob sich das verzauberte Schloß der Irrwisch-königin. Weiße Stufen führten aus dem totstillen Wasser in eine große, offenstehende Halle, welche von vielen Säulen von blauem und grünen Kristall mit goldenen Knäufen getragen wurde, und in buntem Gewirr tanzten in dieser Halle eine unzählbare Menge von Irrlichtern um ein besonders hell flackerndes, hoch aus ihrer Mitte hervorschwebendes Flämmchen herum. Da lösten sich plötzlich aus dem Gewühl eine Anzahl Irrlichter ab und bildeten zwei Kreise, die wirbelnd aus der Halle hervorstürzten. Und während der eine von ihnen dicht vor den Stufen des Schlosses stehenblieb, näherte sich der andere rasch, und bald erkannte Blauäuglein zwölf blasse, aber wunderschöne Jungfrauen, welche auf der Stirn goldene Diademe trugen, an denen sich vorn kleine goldene Schalen erhoben, worin die blauen Flämmchen brannten. In wildem Tanze schwebten sie an Blauäuglein heran und umringten sie; und während aus dem Schlosse eine zauberische Musik erklang, sangen sie: „In den Reihn,
In den Reihn,
Holde Schwester, Blauäuglein, herein!
In dem Schloß,
In dem Schloß,
Da winkt dir ein süßer Genoß! Sieh, wie‘s blinkt!
Wie er winkt,
Wie er grüßt, wie er grüßend dir winkt!
Vergiß, was du liebtest auf Erden,
Der Unseren eine zu werden!“ Aber Blauäuglein sah die Geister mit ihren großen klaren Augen ruhig und unverwandt an und sagte: „Ihr habt keine Macht über mich! Ob ich wieder lebendig aus dem Sumpfe komme, weiß Gott im Himmel allein; wen ich aber auch sterben muß, so werdet ihr mich doch nicht in euere Gewalt bekommen!“ Da flohen die Jungfrauen nach allen Richtungen tief in den Sumpf zurück. Statt ihrer aber schwebte der zweite Kreis Irrlichter heran, der bis dahin vor den Stufen des Schlosses hin und her getanzt hatte. Das waren zwölf wunderschöne, aber totenblasse Knaben, ebenfalls mit blauen Flämmchen über den Stirnen. Sie bildeten einen Kreis um Blauäuglein und tanzten langsam um sie her, indem sie abwechselnd ihre weißen Arme hoch über ihre Häupter erhoben und rückwärts nach dem Schlosse zeigten. Und besonders einer von ihnen näherte sich immer wieder Blauäuglein, als wenn er sie umfassen wollte; und wie sie ihn genauer ansah, so war es Heino. Da zuckte es ihr durchs Herz, als wenn sie ein eiskaltes Schwert durchführe, und sie schrie laut: „Heino, Gott steh dir bei in deiner großen Not!“ Kaum hatte sie dies ausgerufen, so fuhr ein heftiger Windstoß über den Sumpf, und die Lichter der Irrwische verloschen. Die stille Fläche der Lache kräuselte sich, und schwarze Wellen schlugen an den weißen Stufen des Schlosses empor. Dann sank das Schloss lautlos in die Tiefe, und an seiner Stelle stsanden vier Pfähle von faulem Holz, die Überreste einer alten heidnischen Fischerhütte. Vor Blauäuglein aber, im tiefen Sumpf bis an den Gürtel einge-sunken, stand Heino, leibhaftig, wie er gewesen war, aber blaß und traurig. Die Haare hingen ihm wirr auf die Stirn, und Helm und Harnisch waren verrostet. „Bist du es, Blauäuglein?“ fragte er wehmütig. „Ja, Heino, ich bin‘s.“ „Laß mich“, erwiderte er, „ich bin ein verlorener Mann!“ Doch sie gab ihm die Hand und sprach ihm Mut ein; und er versuchte einige Schritte vorwärts zu kommen. Dann blieb er stehen und sagte: „Blauäuglein, ich versinke;
Blauäuglein, ich ertrinke!“ Doch sie hielt ihn nur fester und entgegnete: „Nein, Heino, du versinkst nicht!
Nein, Heino, du ertrinkst nicht!
Halt dich an mir nur fest,
So wirst du doch erlöst!“ So half sie ihm Schritt für Schritt vorwärts und immer wieder blieb er stehen und sprach: „Blauäuglein, ich versinke;
Blauäuglein, ich ertrinke!“ Umd immer wieder tröstete sie ihn und sagte: „Nein, Heino, du versinkst nicht!
Nein, Heino, du ertrinkst nicht!
Halt dich an mir nur fest,
So wirst du doch erlöst!“ Mit unsäglicher Mühe waren sie endlich so weit gekommen, daß sie von fern schon das Ende des Sumpfes und die Straße sahen. Da blieb Heino ganz stehen und rief: „Ich kann nicht weiter, Blauäuglein! Geh du allein zurück und grüß mein Mütterchen. Du kommst wohl heraus, denn du sinkst ja nicht tief ein; aber mir geht‘s fast bis ans Herz.“ Dabei wandte er sich um und blickte nach der Stätte zurück, wo das Schloß versunken war. „Sieh dich nicht um!“ rief Blauäuglein ängstlich. Aber sie hatte kaum Zeit gehabt, dies auszurufen, als auch schon von der Mitte des Sumpfes ein einzelnes blaues Flämmchen auf beide zugeschwebt kam. Es näherte sich rasch, und die Königin der Irrwische stand vor ihnen. Sie hatte einen Kranz von weißen Wasserrosen auf dem Haupte, und ihr Diadem war eine goldene Schlange, welche sich leise durch ihr Haar und um ihre Stirn bewegte. Mit ihren glühenden Augen schaute sie Heino an, als wollte sie ihm bis ins Herz sehen. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und bat flehend: „Komm zurück, Heino!“ Und er stand und sah sie an und schwankte unstet. Da riß Blauäuglein ihm das Schwert von der Seite und schwang es gegen die Irrwischkönigin. Doch die Irrwischkönigin lächelte und sprach: „Törichtes Kind, was willst du mir tun? Ich bin nicht von Fleisch und Blut.“ Und sie faßte Heino und zog ihn mit Gewalt an sich, daß ihre schwarzen Locken über sein Gesicht fielen. Da rief Blauäuglein in ihrer Herzensangst: „Und bist du nicht von Fleisch und Blut, du entsetzliches Weib, so ist es doch dieser hier, den ich aus deinen Händen erretten will!“ Und sie zückte das Schwert noch einmal mit aller Kraft, und wie die Irrwischkönigin noch einen Versuch machte, Heino, dessen rechte Hand sie erfaßt hatte, mit sich fortzureißen, rief sie: „Heino, es tut nicht weh!“ und schlug ihm mit einem Schlage den Arm dicht am Handgelenk ab. Da verlosch auch die Flamme auf dem Haupte der Königin, und sie selber zerrann wie ein Nebelbild; die weiße Taube aber, die bisher auf der Schulter von Blauäuglein gesessen, flog auf die Schulter Heinos. „Nun bist du erlöst, Heino!“ rief Blauäuglein, als sie dies sah. „Komm, es ist nicht mehr weit zur Straße; nimm deine letzten Kräfte zusammen. Sieh, du sinkst gar nicht mehr tief ein.“ Und sie gingen weiter, aber immer noch blieb Heino oft stehen und sprach: „Blauäuglein, mein Arm brennt sehr!“ Doch sie erwiderte: „Heino, mich schmerzt‘s noch mehr!“ Aber das letzte Stück mußte sie ihn fast tragen, und als er den letzten Schritt aus dem Sumpfe getan, sank er todmüde auf die Straße nieder und schlief ein. Da nahm sie ihren Schleier und verband ihm den Arm, so daß er aufhörte zu bluten. – Als sie sah, daß er still und ruhig schlief, zog sie sich den Ring, den er ihr geschenkt, vom Finger, steckte ihm denselben an die Hand und machte sich auf den Heimweg. Sobald sie angekommen war, ging sie zum alten König und sagte zu ihm, indem sie ihn freudig mit ihren großen blauen Augen anblickte: „Ich habe Euren Sohn erlöst; er wird bald zu Euch zurückkehren. Behüt Euch Gott, mich seht Ihr nimmer wieder.“ Da zog sie der alte König an sein Herz und sprach: „Blauäuglein, meine Tochter, du kannst eine Krone tragen so stolz wie ein Königskind! Wenn du ihm verzeihen willst und einen Einarmigen zum Manne nehmen, so sollst du seine Königin sein dein Leben lang.“ Als er dies gesagt, öffnete er die Türe, und herein trat Heino und schloß Blauäuglein in seine Arme. Da war große Freude im ganzen Land, und alle Leute wollte das schöne fromme Mädchen sehen, welches den Königssohn errettet hatte. Als sie jedoch vor dem Altare standen und die Ringe wechseln sollten, vergaß Heino, daß ihm die rechte Hand fehlte, und er dtreckte dem Priester den Stumpf hin. Da geschah ein Wunder; denn als der Priester den Stumpf berührte, wuchs aus ihm eine neue Hand hervor, wie eine weiße Blume aus einem braunen Ast. Aber um das Handgelenk lief ein feiner roter Streif, schmal wie ein Faden, herum. Den behielt er sein ganzes Leben.

Der alte Koffer

Ein alter Herr, der viel reiste, besaß einen Koffer. Schön war der Koffer nicht, sondern grundhäßlich; denn er war mit struppigem Seehundsfell überzogen und hatte eiserne Bäner und Ecken. In dem Fell aber waren schon oft die Motten gewesen, und das eiserne Beschläge war stark verrostet, hatte auch mit der Zeit manchen Buckel und manche Schmarre bekommen. „Der kann was vertragen“, sagten die Kofferträger, wenn sie ihn aus dem Wagen hoben. Bums! warfen sie ihn hin, daß es krachte. Das war nun gerade nicht dazu angetan, die ohnedies schon üble Laune des alten Koffers zu mildern. Mit seinen eisernen Ecken stieß und knuffte er jeden, der ihm in den Weg kam. „Ihr braucht mir ja nicht zu nahe kommen“, brummte er, wenn die andern Koffer, mit denen er zusammen reiste, sich darüber beklagten. „Ihr wollt euch doch bloß ansehn, wie struppig ich bin.“ Aber der Herr, dem der Koffer gehörte, war ein Sonderling. Wenn er zu Haus war, mußte der Koffer stets in seiner Stube unter dem vergoldeten Spiegel stehen, obgleich es recht komisch aussah: der alte, häßliche Koffer in der sonst ganz hübschen, gemütlichen Stube. Und wenn er reiste und irgendwo einkehrte, war es stets das erste, daß er sich den Koffer bringen und neben sein Bett stellen ließ. „Es wird wohl Geld im Koffer sein!“ meinten die Leute, „weil er ihn gar nicht aus den Augen läßt.“ Doch in diesem Punkte waren sie völlig auf dem Holzwege. Etwas darin war schon; aber Geld? Nein, Geld am allerwenigsten! War nun der alte Herr ganz allein in der Stube, so drückte er auf eine geheime Feder. Schwupp! sprang der Koffer auf, und was war darin? Ein vollständig verschlossener, prachtvoller Kasten mit rotem Samt beschlagen und mit goldenen Tressen und Schnüren besetzt. Sobald jemand anderes in die Stube eintrat, schnapp! schlug der Deckel zu. Doch das Dienstmädchen des alten Herrn war sehr schlau. Einmal ließ sie die Schuhe vor der Türe stehen und schlich ganz leise in Strümpfen bis an den Koffer hin, der gerade offenstand. Sie war schon ganz dicht daneben, und als sie es so rot und golden im Koffer blinken sah, vergaß sie sich und rief: „Herrgott, der alte Koffer ist ja wohl inwendig ganz hübsch!“ Da merkte der Koffer, daß jemand Fremdes da sei. Schnapp! schlug er mit Gewalt zu und hätte ihr beinahe den Finger abgeklemmt; denn sie wollte eben hineingreifen, um sich zu überzeugen, ob es wirklich Samt und weich wäre. „Pfui!“ sagte sie erschrocken, „was ist das für ein alter, garstiger Koffer; mit dem darf man sich gar nicht einlassen!“ Wenn sie später jemand nach dem Koffer fragte, mit dem der Herr so geheim tue, und ob nicht irgend etwas Besonderes daran sei, erwiderte sie, es sei gar nichts an dem alten Koffer und darin noch weniger. Jeder Mensch habe seine Eigenheiten, besonders was alte, unverheiratete Leute seien. Ihr Herr habe nun einmal sein Herz an den alten struppigen Koffer gehängt; weiter sei es nichts. Aber es war doch etwas Besonderes in dem Koffer. Denn zuweilen riegelte der alte Herr vorsichtig sämtliche Zimmertüren zu, drückte auf die geheime Feder, so daß der Deckel aufsprang, horchte dann noch einmal, ob alles draußen still wäre, und wenn er niemanden hörte, hob er denroten Samtkasten aus dem Koffer heraus und setzte ihn vor sich auf den Tisch. Darauf drückte er auf eine zweite verborgene Feder am Kasten, und der rote Samtdeckel sprang auch auf. Und was war darin? Unglaublich, aber wahr! Eine ganz niedliche kleine Märchenprinzessin mit zwei langen Zöpfen hinten herunter und roten Hackenschuhen. Sie sprang auch sofort mit gleichen Beinen aus dem Kasten heraus, setzte sich darauf und ließ die Beine baumeln – und das machte sie so reizend – und fing dann an, die allerhübschesten Märchen zu erzählen. Und der alte Herr saß im Lehnstuhl und hörte ihr aufmerksam zu. – Eines Tages, als sie eben mit Erzählen fertig war, sagte sie: „Ich habe dir nun schon so viele hübsche Märchen erzählt; ich glaube, du vergißt sie immer wieder. Kannst du sie nicht aufschreiben?“ „O ja“, antwortete der alte Herr, „aufschreiben könnte ich sie schon, wenigstens so einigermaßen und freilich bei weitem nicht so hübsch, als du sie erzählst; aber es darf niemand wissen, woher ich sie weiß, und besonders nicht, daß du in dem alten Koffer steckst. Denn ich muß dich ganz allein haben. Sonst kommen gleich alle Leute und wollen dich besehen und tapsen dich mit ihren ungeschickten Fingern an. Der Samt am Kasten würde auch bald schlecht werden.“ „Nein, um Gottes willen!“ entgegnete die kleine Märchenprinzessin. „Aber wundern würden sich die Leute doch, wenn sie wüßten, wer in dem alten Koffer steckt.“ Und dann lachte sie. „Still!“ sagte auf einmal der alte Herr, „es klopft jemand an der Türe. Kriech rasch wieder in den Kasten.“ Sodann trug er eilig den Kasten in den Koffer. Schnapp! schlug der Deckel mit Seehundsfell zu, und als das Dienstmädchen – denn sie war es – hereinkam und den Tee brachte, stand der alte Koffer wieder ganz mürrisch und struppig unter dem Spiegel. Als sie an ihm vorbeiging, gab sie ihm heimlich, und ohne daß der alte Herr es merkte, einen Fußtritt und murmelte: „Alter garstiger Koffer, gestern hast du mir beinahe den Finger abgeklemmt.“

Die himmlische Musik

Als noch das goldene Zeitalter war, wo die Engel mit den Bauernkindern auf den Sandhaufen spielten, standen die Tore des Himmels weit offen, und der goldene Himmelsglanz fiel aus ihnen wie ein Regen auf die Erde herab. Die Menschen sahen von der Erde in den offenen Himmel hinein; sie sahen oben die Seligen zwischen den Sternen spazierengehen, und die Menschen grüßten hinauf, und die Seligen grüßten herunter. Das Schönste aber war die wundervolle Musik, die damals aus dem Himmel sich hören ließ. Der liebe Gott hatte dazu die Noten selber aufgeschrieben, und tausend Engel führten sie mit Geigen, Pauken und Trompeten auf. Wenn sie zu ertönen begann, wurde es ganz still auf der Erde. Der Wind hörte auf zu rauschen, und die Wasser im Meer und in den Flüssen standen still. Die Menschen aber nickten sich zu und drückten sich heimlich die Hände. Es wurde ihnen beim Lauschen so wunderbar zumut, wie man das jetzt einem armen Menschenherzen gar nicht beschreiben kann. – So war es damals ; aber es dauerte nicht lange. Denn eines Tages ließ der liebe Gott zur Strafe die Himmelstore zumachen und sagte zu den Engeln: „Hört auf mit eurer Musik; denn ich bin traurig!“ Da wurden die Engel auch betrübt und setzten sich jeder mit seinem Notenblatt auf eine Wolke und zerschnitzelten die Notenblätter mit ihren kleinen goldenen Scheren in lauter einzelne Stückchen; die ließen sie auf die Erde hinunterfliegen. Hier nahm sie der Wind, wehte sie wie Schneeflocken über Berg und Tal und zerstreute sie in alle Welt. Und die Menschenkinder haschten sich jeder ein Schnitzel, der eine ein großes und der andere ein kleines, und hoben sie sich sorgfältig auf und hielten die Schnitzel sehr wert; denn es war ja etwas von der himmlischen Musik, die so wundervoll geklungen hatte. Aber mit der Zeit begannen sie sich zu streiten und zu entzweien, weil jeder glaubte, er hätte das Beste erwischt; und zuletzt behauptete jeder, das, was er hätte, wäre die eigentliche himmlische Musik, und das, was die anderen besäßen, wäre eitel Trug und Schein. Wer recht klug sein wollte – und deren waren viele –, machte noch hinten und vorn einen großen Schnörkel daran und bildete sich etwas ganz Besonderes darauf ein. Der eine pfiff a und der andere sang b; der eine spielte in Moll und der andere in Dur; keiner konnte den andern verstehen. Kurz, es war ein Lärm wie in einer Judenschule. – So steht es noch heute. – Wenn aber der Jüngste Tag kommen wird, wo die Sterne auf die Erde fallen und die Sonne ins Meer und die Menschen sich an der Himmelspforte drängen wie die Kinder zu Weihnachten, wenn aufgemacht wird – da wird der liebe Gott durch die Engel alle die Papierschnitzel von seinem himmlischen Notenbuche wieder einsammeln lassen, die großen ebensowohl wie die kleinen, und selbst die ganz kleinen, auf denen nur eine einzige Note steht. Die Engel werden die Stückchen wieder zusammensetzen, und dann werden die Tore aufspringen, und die himmlische Musik wird aufs neue erschallen, ebenso schön wie früher. Da werden die Menschenkinder verwundert und beschämt dastehen und lauschen und einer zum andern sagen: „Das hattest du! Das hatte ich! Nun aber klingt es erst wunderbar herrlich und ganz anders, nun alles wieder beisammen und am richtigen Orte ist!“ – Ja, ja! So wird’s. Ihr könnt euch darauf verlassen.