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Märchen

Der dänische König

Dänemark liegt hoch oben im Norden, wo Deutschland aufhört. Dort gibt es noch heute einen König, der ist aber nicht mehr zum Regieren da, sondern besucht meistens Kindergärten, weil seine Frau Kinder so mag.

Vor langer Zeit aber war der Dänische König sehr mächtig. Wie früher alle Könige, wollte er immerzu sein Land vergrößern, damit er noch mächtiger würde. Also musste er zusätzlich ein anderes Land erobern. Das war nun nicht ganz leicht. – Im Süden von Dänemark war Deutschland, damals die Königreiche Hannover und Preußen. Mit denen konnte er sich nicht anlegen, denn die hatten viel mehr Soldaten als er. Ebenso die Schweden, deren Land neben Dänemark liegt.

Also blickte er nach Norden. Weit hinter dem Meer lag Grönland. Das ist zwar ein riesig großes Land, aber man wusste damals sehr wenig darüber, und es sollte dort auch sehr kalt sein. Er ließ also drei Schiffe aus der königlichen Flotte beladen. Auf jedes setzte er einen tapferen Ritter und etliche Soldaten, sowie Pferde und allerlei Kriegsgerät.

Dann ging es ab nach Grönland in den furchtbar kalten Norden. Als die Schiffe dort ankamen, sahen sie als erstes unheimlich viel Eis und Schnee. Die Ritter zogen ihre Rüstungen an und gingen an Land, um es zu erobern. Doch kein Mensch war zu sehen und die Ritter froren in ihren eisernen Rüstungen gleich auf dem Eis fest, sodass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Sie strampelten wie wild und schepperten mächtig in ihren eisernen Rüstungen, um vom Eis freizukommen.

Ein paar der anderen Soldaten mussten ein Feuer machen, um sie wieder frei zu bekommen. Dadurch wurden natürlich die Rüstungen an den Füssen ziemlich heiß und die Ritter verbrannten sich die Füße. Sie hopsten wie wild herum, bis sie endlich frei waren und schleunigst auf dem Schiff verschwanden.

Dann hat man versucht, die Pferde an Land zu bringen, weil man ja Grönland erobern sollte. Die Pferde mühten sich schwer ab, aber nach ein paar Metern blieben auch sie im Schnee stecken. Die Soldaten konnten auch nicht im hohen Schnee laufen und froren jämmerlich, sodass schließlich alle mit ihren Pferden wieder auf die Schiffe gingen und Grönland erstmal nicht erobern konnten. Als die Ritter ganz traurig rumsaßen und nachdachten, meldete der Ausguck auf dem Mast des Schiffes: „Feind voraus!!“

Und tatsächlich sahen die Ritter erstaunt, wie ein Schlitten mit ganz kleinen Pferden herangesaust kam. Sie staunten noch mehr, als sie entdeckten, dass es keine Pferde, sondern viele Hunde vor einem Schlitten waren, die da so mühelos über den Schnee näher sausten.

Alle holten ihre Gewehre und Lanzen und fürchteten, dass sie sich verteidigen müssten. Es war aber nur ein Mann auf dem Schlitten, ein Eskimo. Der grüßte sie ganz freundlich und freute sich, so viele Menschen zu sehen, weil in Grönland ja nicht so viele Leute wohnen und man oft ziemlich einsam und alleine ist. Er hieß alle herzlich willkommen und fragte sie, ob sie ihn nicht am Abend besuchen wollten, seine Frau würde für sie eine schöne Suppe aus Seehundfleisch kochen.

Von wem man so freundlich begrüßt wird, gegen den kann man schlecht kämpfen, und so setzten sich drei der Ritter mit auf den Hundeschlitten, aber ohne ihre schweren Rüstungen. Husch – sauste man über die Landschaft bis an eine komische Hütte, die war ganz aus Schnee. Die nennt sich Iglu und ist rund, aber es ist sehr schön warm darin!

Als sie gegessen hatten, bedankten sie sich und der Eskimo fuhr sie wieder mit dem Hundeschlitten zu ihren Schiffen. Dann wurde beschlossen, erst einmal wieder zurück nach Dänemark zu fahren.

Sie haben dann dem König alles berichtet. Der hielt Rat mit seinen Ministern, wie man denn nun Grönland erobern könnte. Sie fragten auch einen weisen alten Mann, der hieß Graf Johannsen. Der Graf flüsterte dem König seinen Vorschlag ins Ohr und der war begeistert!

Er schickte seinen Haushofmeister in die Stadt, der sollte alles an Vanillepulver kaufen, was er bekommen könnte. Dann rüstete er wieder ein Schiff aus, aber die Ritter sollten diesmal dicke Pelzmäntel anziehen und Schlitten mitnehmen. Außerdem war der ganze Laderaum voll Vanillepulver!

In Grönland angekommen, wurden sie wieder von Eskimos begrüßt, man kannte sich inzwischen ja schon. Die Soldaten aus Dänemark holten eine Menge frischen Schnee und machten mit ihrem Vanillepulver daraus köstliches Vanilleeis. Das schenkten sie den Eskimos.

So etwas hatten die ja noch nie gegessen! Sie waren ganz verrückt danach und wollten immer noch mehr haben. Die Ritter hielten aber alles unter Verschluss und wollten erst den Eskimoführer sprechen, den man schleunigst holte. Mit ihm machten die Ritter einen Vertrag, dass ab sofort Grönland zu Dänemark gehören würde und dafür würden die Eskimos so viel Vanilleeis bekommen wie sie essen konnten.

Danach segelten die Ritter mit ihrem Schiff nach Hause und berichteten ihrem König, dass Grönland jetzt zu Dänemark gehören würde, ohne dass es einen Krieg gegeben hätte!

Und so ist es bis heute geblieben, da könnt ihr jeden Dänen fragen.

© Karl Dieter Wilhelm
Mehr von Karl: „Opa Dieter“ haste noch ne Geschichte – Märchenhafte Geschichten zum lesen und vorlesen

Geschichte von der kleinen Annika

Ich erzähle euch die Geschichte von der kleinen Annika…

Annika zieht ihre Kuscheldecke bis unters Kinn, drückt ihren Teddy fest an sich und kneift ihre Augen zusammen. Es hilft alles nichts. Sie flüchtet Nacht für Nacht in das sichere Nest ihrer Eltern.

Ich kann Annika sehr gut verstehen.

Was würdest du als Elternteil sagen, damit sie sich nicht mehr ängstigt? Würdest du versuchen ihr zu erklären, dass es Geister nicht gibt? Annika würde protestieren. Sie existieren sehr wohl! Sie kann sie hören. Ja, sogar spüren.

Annikas Mutter hat eine Idee.

Sie stellt einen kleinen, grün-scheinenden Mond in das Kinderzimmer und erklärt ihrer Tochter folgendes: „Wusstest du, dass Geister Angst vor grünem Licht haben?” Annika schaut ihre Mutter mit großen Augen an. “Geister haben auch Angst?” fragt sie. “Ja, und sie können dir nichts anhaben, wenn der grüne Mond für dich leuchtet.”

Annika nickt und versteht.

Jedes Mal, wenn nun Annika wieder ein Kichern hört oder es draußen blitzt und stürmt, schaut sie zu dem Mond. Sie glaubt an ihn. Stellt sich vor, dass sein grünes Licht sie ganz einhüllt. Vertraut auf die Weisheit und Liebe ihrer Mutter und schließt beruhigt die Augen.

Geister vor denen sich Erwachsene fürchten

Jedoch geht die Geschichte weiter…

Annika wächst heran. Irgendwann braucht sie das grüne Licht nicht mehr. Die Vorstellung von Hexen und Monstern ist nun ulkig.

Jedoch… erscheinen ganz andere Geister in Annikas Leben.

Die Sorge, nicht den Richtigen zu finden. Die Sorge, dass das Geld für die Mieterhöhung nicht reicht. Die Befürchtung, dass sie nie mehr in ihre Lieblingsjeans passen wird…

Kommen dir diese Gespenster bekannt vor?

Auch dreißig Jahre später kann sie abermals wegen Geistern nicht einschlafen. Sie wendet sich wieder an ihre Mutter.

“Weißt du Mama, ich wälze mich manchmal stundenlang im Bett herum. Die Sorgen wollen einfach nicht verschwinden.”

„Meine Kleine, kannst du dich noch an den grünen Mond erinnern, der alle deine Geister verscheuchte?“

„Ja. Was meinst du damit? Ein Plastiklicht wird ja wohl kaum die Lösung für meine Sorgen sein. Diese sind nämlich real!“

Da muss die Mutter erstmal herzlich lachen.

„Sorgen sind wie Gespenster. Wenn du nicht an sie glaubst, können sie dir nicht schaden. Denn Sorgen oder Ängste haben nur eine Macht: Sie halten dich davon ab, dich auf jenes zu konzentrieren, was du möchtest.

Deine Aufmerksamkeit ist wie der Scheinwerfer eines Leuchtturms. Wenn er auf auf dem ruht, was du möchtest, kann er nicht bei deinen Sorgen sein.“

Die Mutter kichert vergnügt und will aufstehen. Für sie ist alles gesagt.

Sorgen kann man nicht bekämpfen

“Aber Mama, wenn ich nicht meine Sorgen löse, dann bleiben sie doch! Ich muss doch über sie nachdenken.”

“Haben wir uns früher mit deinen Geistern beschäftigt? Wurde dein Kleiderschrank abgebaut, die Füße deines Kinderbetts gestutzt oder die Ghostbuster gerufen?

Nein, wir haben deine Geister nicht bekämpft, weil es sie nicht gibt. Nur deine Aufmerksamkeit hat ihnen Leben eingehaucht. Genauso existieren deine Sorgen nur in deinem Kopf. Wenn du sie versuchst zu lösen oder zu bekämpfen, bleiben sie am Leben.”

Annika denkt über die Worte ihrer Mutter nach. Wenn dies ihr ein Fremder gesagt hätte, dann hätte sie ihn als Realitätsflüchtling abgestempelt. Jedoch hat sie ihre Mutter zu oft beobachtet, wie sie bei jeglichen Herausforderungen ihr Lächeln behalten hat. Sie hatte dabei nie das Gefühl, dass sie etwas überdecken würde.

Erst jetzt, nachdem sie selber die Irrwege und Auf- und Abs des Lebens kennt, schätzt sie dies an ihrer Mutter noch mehr.

“O.K.” sagt Annika. “Ich gebe dem ein Versuch. Aber an den Schutz des grünen Mondes glaube ich nicht mehr. Tut mir Leid.”

Daraufhin antwortet die Mutter. “Du hast etwas viel, viel besseres. Es sind deine Wünsche und Träume. Lenke dein Scheinwerferlicht auf die Orte, die du sehen, die Menschen mit denen du lachen und die Erfolge die du feiern möchtest.

Ich verspreche dir, dass auch diese Bilder Tag für Tag lebendiger werden.”

Wir alle stehen täglich unzählige Male vor der Wahl: Entweder lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Sorgen oder auf unsere Träume.

Unser Leben wird sich an dieser Entscheidung orientieren.

(Geschichte von Fabian Ries – http://www.fabianries.de/gute-nacht-geschichte/)

Die kleine Feldmaus leuchtet in der Nacht

Es war ein herrlicher, lauer Sommertag. Die kleine Feldmaus und ihre Freunde spielten den ganzen Tag auf dem Feld beim Weiher. Sie spielten Fangen, Verstecken und rannten um die Wette.

Nach dem Abendbrot trafen sich die Freunde bei Familie Igel. Sie hatten vor, Laternen zu basteln. Aus diversen Vorlagen suchte sich jeder eine aus und dann fing das große Ausschneiden an. Schneidegeräusche erfüllten die Terrasse. Aber einige Minuten später wurde es wieder ruhiger. Jetzt waren Falten und Kleben angesagt. Jeder hatte sich eine andere Laternenform ausgesucht.

Die Laterne vom Igel war quadratisch und sah wie ein länglicher Würfel aus. Der Frosch hatte sich eine sechseckige ausgesucht. Das Schweinchen findet rund gut. Deswegen wurde seine Laterne wie eine Nackenrolle länglich und rund. Die kleine Feldmaus hatte sich eine aus Dreiecken ausgesucht. Sie sah wie ein Diamant aus. Das lag aber auch an den bunten Fenstern, die die Freunde aus farbenfrohem Pergamentpapier bastelten. Zum Schluß setzte jeder ein Teelicht in die Mitte seiner Laterne.

Mit einer Schnur wurde jede Laterne an einem Stöckchen angebracht, so daß man die Laternen vor sich her tragen konnte. Als sie mit Basteln fertig waren, stellten sich alle nebeneinander hin. Mit ihren Laternen in Händen wurden sie von Frau Igel fotografiert. „Unsere Laternen sehen gut aus.“ sagte die Feldmaus. „Ja, finde ich auch. Besser als letztes Jahr.“ erwiderte das Schweinchen. Aber die kleine Feldmaus sah irgendwie unzufrieden aus.

„Was ist los? Du bist nicht zufrieden?“ fragte der kleine Frosch. „Geht so. Laternen haben wir jedes Jahr.“ „Ja klaro. Für den Laternenumzug brauchen wir nun mal Laternen.“ „Aber das ist irgendwie immer gleich.“ „Feldmaus! Wie soll es denn anders sein?“ fragte das Schweinchen. Aber die Feldmaus wußte es noch nicht so richtig. Der Lampionumzug war ja erst in zwei Tagen. Also noch genug Zeit zum Grübeln.

Zwei Tage später trafen sich die Freunde wieder bei Familie Igel, um die Vorbereitungen für den Umzug zu organisieren. Auch die Feldmaus sah nun wieder zufriedener aus. Was führte sie nur im Schilde? Sie machten die Teelichter an und stellten sie in ihre Laternen. Nur die Feldmaus hatte ihr Teelicht herausgenommen. Sie hatte ein elektrisches Licht mitgebracht, das an einer Stange mit Batterie und Schalter hing.

Dann wollten sie einen Testlauf starten. Die Freunde gingen nach draußen und stellten sich im Kreis auf. Die drei Teelicht-Laternen leuchteten schön bunt. Nur die Feldmaus hatte ihre Glühbirne noch nicht eingeschaltet. „Was ist? Mach dein Licht auch an.“ forderte das Schweinchen. Doch als die Feldmaus ihr Licht anschaltete, leuchtete nicht ihre Laterne, sondern die Feldmaus.

„Ohhh!“ staunten die Freunde. Wie machte die Feldmaus das bloß? „Wieso leuchtest du“ fragte der Frosch. „Genau! Und wieso leuchtet deine Laterne nicht?“ hakte der Igel nach. „Die Glühbirne ist keine normale Glühbirne. Sondern es handelt sich um eine Schwarzlicht-Glühbirne. Deswegen leuchtet meine Laterne nicht. Und auf meine Wangen und Arme habe ich schon zuhause mit Leuchtcreme Muster gemalt. Und die Creme leuchtet bei Schwarzlicht.“ Die Freunde waren beeindruckt. Das wollten sie auch haben.

Die Feldmaus hatte die Leuchtcreme mitgebracht. Vier verschiedene Sorten, die in gelb, rot, blau und grün leuchteten. Die Freunde cremten sich im Gesicht und auf den Armen mit den Cremes ein. Sie malten Herzchen, Streifen, Tiere und sogar Buchstaben auf ihre Arme und ins Gesicht. Als sie fertig waren mit Eincremen, gingen sie erneut nach draußen und stellten sich in einem Kreis auf.

Als die Feldmaus ihr Lämpchen anknipste, leuchteten die Freunde ganz kunterbunt im Gesicht und an den Armen. Toll sah das aus. Die Laternen leuchteten aber auch. Denn alle vier hatten auch ihre Teelichter in den Laternen angezündet. Die Feldmaus grinste zufrieden. DAS war anders als jedes Jahr.

Stolz trugen die Freunde an diesem Abend ihre Laternen von Haus zu Haus. Sie sangen laut und bekamen Süßigkeiten. Sie hatten sogar den Eindruck, daß es mehr Süßigkeiten waren als sonst. Vielleicht lag das an ihrer bunten Beleuchtung.

Geschichte von Torsten Kühnert

Die kleine Feldmaus prüft alles ganz genau

Es war ein herrlicher, lauer Sommertag. Die kleine Feldmaus und ihre Freunde spielten den ganzen Tag auf dem Feld beim Weiher. Sie spielten Fangen, Verstecken und rannten um die Wette.

Plötzlich lachten die Freunde. Die Feldmaus hatte gesagt: „Hallo. Ich bin Prüf-Kommissario Stefano Al Dente. Ich prüfe alles. Was soll ich prüfen?“ Aus Spaß hatte der Igel auf den Brombeerbusch gezeigt und gefragt: „Kann man die schon essen?“ Die kleine Feldmaus ging zu dem Busch und faßte die Zweige an. Dann die wenigen Brombeeren. „Hm-hm. Hm-hm.“ murmelte sie und prüfte weiter. Sie maß die Höhe des Busches: „Höher als ich groß bin.“ Und sie zählte die Beeren an einem Zweig: „Elf. Mehr als ich alt bin.“ Und sie nahm eine in den Mund: „Hmmm lecker! Aber nicht so süß wie ich bin.“ „Und? Was sagst Du als Prüf-Experte?“ drängelte das Schweinchen.

„Dieser Brombeerbusch ist super. Wer naschen möchte: na los.“ Und die Freunde steckten sich ein paar Brombeeren in die Mäulchen. Dann fragte das Schweinchen: „Prüf mal meinen Fußball. Sollte ich mir einen neuen wünschen?“ Die kleine Feldmaus nahm den Fußball in die Pfoten. Sie drückte ihn und drehte ihn. Dann balancierte sie ihn auf dem Kopf. „Ooooh!“ staunten die Freunde, aber die Feldmaus ließ sich nicht beirren.

Sie schoß den Ball gegen die Wand und warf ihn senkrecht hoch, um ihn wieder aufzufangen. Dann kam sie zu einem Ergebnis: „Dieser Fußball ist voll in Ordnung.“ „Och manno.“ ärgerte sich das Schweinchen. „Aaaaber“ fuhr die Feldmaus fort, „Der Abrieb auf der Oberfläche ist immens. An dieser Stelle besonders gut zu spüren.“ Sie zeigte die Stelle den Freunden, aber keiner konnte etwas sehen oder fühlen. „Ich empfehle: ein neuer Fußball ist dringend notwendig!“ „Yeah!“ freute sich das Schweinchen und schoß den Fußball den Feldweg entlang.

„Jetzt ich. Jetzt ich.“ rief der Frosch. Die Feldmaus kniff die Augen zusammen und schaute den Frosch an. Dann nahm sie ein Ärmchen des Frosches in die Pfoten und drückte es und zog daran. „Aua! Du weißt schon, daß ich da dran hänge, ja?“ Die Feldmaus zischte: „Bitte absolute Ruhe! Ich konzentriere mich.“ Und sie schaute den Frosch von oben bis unten an. Sie entdeckte ein Muttermal am linken Oberschenkel. „Was hast du denn da?“ „Na, ein Muttermal. Das sieht man doch, oder?“ Die Feldmaus schüttelte den Kopf und murmelte: „Naja, naja. Sowas. Oh je.“

Der Frosch schaute leicht unsicher. Stimmte etwas nicht mit ihm? Dann war die Feldmaus fertig mit Prüfen und zog einen Zettel und einen Stift hervor. Sie schrieb etwas darauf und faltete den Zettel zusammen und gab ihn dem Frosch. Dieser guckte jetzt ganz zerknirscht drein. Irgendetwas war mit ihm wohl nicht in Ordnung. Und wegen der Schweigepflicht hatte die Feldmaus es aufgeschrieben, so daß die anderen nichts erfuhren. O Gott, o Gott.

Er nahm den Zettel und las den Text: „Lieber Frosch, du hast das Alles-in-Ordnung-Syndrom. Bitte NICHT behandeln!“

Der Frosch knuffte die Feldmaus in die Schulter und sagte: „Alles-in-Ordnung-Syndrom? Du spinnst ja!“ Und sie mußten lachen.

Geschichte von Torsten Kühnert

Die kleine Feldmaus lernt Zaubern

Es war ein herrlicher, lauer Sommertag. Die kleine Feldmaus und ihre Freunde spielten den ganzen Tag auf dem Feld beim Weiher. Sie spielten Fangen, Verstecken und rannten um die Wette.

Plötzlich sagte die kleine Feldmaus zu ihren Freunden: „Wißt ihr was, jetzt zaubere ich euch etwas vor!“ Die Freunde schauten sich ganz erstaunt an. „Du kannst zaubern?“ Sie setzten sich auf einen liegenden Baumstamm und schauten der kleinen Feldmaus bei ihren Vorbereitungen zu. Diese rollte sich einen kleinen Baumstumpf zurecht und breitete ein Tuch darüber aus. Auf das Tuch stellte sie umgekehrt einen Zylinder und deckte dessen Öffnung mit einem weiteren Tuch zu.

Dann sprach sie ihre Pfötchen in die Höhe haltend: „Abera ca Dabera.“ Und es passierte… nichts. Die Freunde schauten ein klein wenig enttäuscht. Die kleine Feldmaus zog mit einem „Wusch“ das Tuch vom Zylinder und griff mit der linken Hand hinein. Gleichzeitig griff sie mit der rechten Hand nach unten, hinter den Baumstumpf. Dann streckte sie ruckartig beide Hände in die Höhe und hielt ein kleines Kuscheltier in ihrer Rechten. Die Freunde applaudierten zwar, aber etwas zögerlich.

„Ähm…“ sagte der kleine Igel, „Hast du das Kuscheltier aus dem Zylinder geholt? Oder hinter dem Baumstumpf ‚hervorgezaubert‘?“ „Na sage mal!“ echauffierte sich die kleine Feldmaus. „Aus dem Zylinder natürlich!“ behauptete sie. „Das sah aber anders aus.“ bestätigte auch der kleine Frosch. „Ja, genau!“ wand der kleine Igel nocheinmal ein. „Irgendwie scheint deine ‚Zauberei‘ nicht ganz fachmännisch zu sein.“ Die kleine Feldmaus senkte den Kopf. „Ja, ihr habt recht. Eigentlich kann ich gar nicht zaubern.“ „Soll ich es dir beibringen?“ fragte da das kleine rosa Schweinchen.

„Du willst mir Zaubern beibringen?“ wunderte sich die kleine Feldmaus. „Kannst du das denn überhaupt?“ „Klaro!“ kam als Antwort und ein erstauntes Raunen machte unter den Freunden die Runde. „Zeig’s uns!“ forderte der kleine Igel, der das nicht glauben konnte. Und das kleine Schweinchen tauschte mit der kleinen Feldmaus die Position. „Meine Damen und Herren,“ fing es an, „sehen sie jetzt die berühmte und berüchtigte Zaubershow des kleinen rosa Schweinchens!!“ Verhaltenes Klatschen setzte ein. Die Freunde waren sich noch nicht sicher, was sie jetzt erwartete.

„Zuerst“ sprach der Zauberkünstler weiter, „werde ich dieses Kuscheltier“ das Kuscheltier wurde in der Hand geschüttelt, „im Zylinder verschwinden lassen!“ Bis jetzt sah die Show gar nicht so schlecht aus und die kleine Feldmaus trommelte mit ihren Pfötchen eine Art Trommelwirbel auf den Baumstamm. Das kleine rosa Schweinchen steckte das Kuscheltier in den Zylinder und deckte diesen mit dem Tuch zu. „Hokus und Pokus, das Kuscheltier nun verschwinde, aber nicht nur auf den Lokus, sondern in aller Winde!“ Es wedelte mystisch mit seinen Armen über dem Zylinder und zog das Tuch ruckartig beiseite. „Ta-Taaaa!“ rief es und stellte sich in Siegerpose hin.

„Hä?“ stieß der kleine Igel aus. „Das Kuscheltier ist noch im Zylinder.“ „Quatsch, ist es nicht!“ erwiderte das Schweinchen und hob den Zylinder hoch und drehte ihn gaaaanz laaaangsam um. Als das Kuscheltier eigentlich hätte rausfallen müssen, tat es das aber nicht. Die Freunde bekamen ganz große Augen. „Wo ist es?“ wunderte sich der kleine Frosch und hopste nach vorn und untersuchte den Zylinder. Im Zylinder war kein Kuscheltier. Und es lag auch keins hinter dem Baumstumpf und das Schweinchen hatte offensichtlich auch kein Kuscheltier bei sich. „He!“ rief der kleine Igel, „Du kannst tatsächlich zaubern!“ „Sag ich doch!“ beharrte das kleine rosa Schweinchen.

„Dann kannst du es mir wirklich beibringen?“ fragte die kleine Feldmaus. „Klaro!“ Aber zuvor ging die Zaubershow weiter. „Meine Damen und Herren! Seht zu, wie ich das Kuscheltier wieder hervor zaubere!“ Die kleine Feldmaus machte wieder ihren Trommelwirbel auf dem Baumstamm. Der kleine Frosch schaute mit ganz großen Augen zum Schweinchen. Da ist doch ein Haken, dacht er, das Schweinchen KANN NICHT zaubern. „Aboro co Diboro! Singa Pur und Qudra Tur! Kuscheltier jetzt komm hervor, am besten hier und nicht im Moor.“ Und wieder wedelte das kleine Schweinchen über dem Zylinder mit dem Tuch darauf. „TA-TAAAA!“ rief es, riß wieder seine Arme in die Luft und machte die Siegerpose.

Das Klatschen war jetzt etwas lauter, verstummte aber ganz schnell wieder. „Ich sehe es noch nicht.“ meckerte wieder der kleine Frosch. „Soll das jetzt im Zylinder sein, oder was?“ „Meine Damen und Herren, ich werde jetzt diesen Zylinder langsam umdrehen.“ Und das Schweinchen drehte wie vorhin den Zylinder gaaaanz laaaangsam um. Und wieder fiel kein Kuscheltier heraus. „Das Kuscheltier ist NICHT im Zylinder. Wo kann es sein? Ich habe es doch wieder hergezaubert.“ „Los, du Knalltüte, sag schon!“ rief der Frosch, der das alles immer noch für einen großen Betrug hielt. „Mein lieber Frosch, bitte dreh dich einmal um.“ sagte das kleine rosa Schweinchen.

Der Frosch drehte sich um und sah hinter dem Baumstamm, auf dem sie saßen, das Kuscheltier auf seinen Füßchen sitzen. Es schien den kleinen Frosch anzugrinsen. Er nahm erstaunt das Kuscheltier und hielt es hoch, damit alle es sehen konnten. Und wieder rief das Schweinchen: „TA-TAAAAAAA!“ Jetzt klatschten die Freunde aber ganz wild und doll und laut. „Bravo!“ „Super!“ „Toll!“ riefen die drei Zuschauer und der kleine Frosch klopfte dem Schweinchen auf die Schulter. „Du kannst WIRKLICH zaubern!“ Und der kleine Igel freute sich: „Ich kenn einen Zauberer! Ich kenn einen Zauberer!“

In den nächsten Tagen lernte die kleine Feldmaus vom kleinen rosa Schweinchen Zaubern. Es war nicht leicht. Man mußte sehr fingerfertig sein, um die schwierigen Übungen hinzubekommen. Einige Zaubertricks gingen ziemlich einfach. Aber andere waren echt schwer zu erlernen. Nach ein paar Tagen führte sie ihren Freunden ein paar Tricks vor. Die Freunde waren richtig begeistert, wie gut sie Zaubern gelernt hatte. Sie klatschten, jubelten und riefen nach Zugabe. Bei der Zugabe mußte das kleine rosa Schweinchen ein wenig aushelfen. Aber das war die beste Zaubershow, die die Freunde je gesehen und selbst veranstaltet hatten.

Geschichte von Torsten Kühnert

Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven

Der Scheik von Alessandria, Ali Banu, war ein sonderbarer Mann; wenn er morgens durch die Straßen der Stadt ging, angetan mit einem Turban, aus den köstlichsten Kaschmirs gewunden, mit dem Festkleide und dem reichen Gürtel, der fünfzig Kamele wert war, wenn er einherging langsamen, gravitätischen Schrittes, seine Stirne in finstere Falten gelegt, seine Augenbrauen zusammengezogen, die Augen niedergeschlagen und alle fünf Schritte gedankenvoll seinen langen, schwarzen Bart streichend; wenn er so hinging nach der Moschee, um, wie es seine Würde forderte, den Gläubigen Vorlesungen über den Koran zu halten: da blieben die Leute auf der Straße stehen, schauten ihm nach und sprachen zueinander: »Es ist doch ein schöner, stattlicher Mann, und reich, ein reicher Herr«, setzte wohl ein anderer hinzu, »sehr reich; hat er nicht ein Schloß am Hafen von Stambul? Hat er nicht Güter und Felder und viele tausend Stück Vieh und viele Sklaven?«

»Ja«, sprach ein dritter, »und der Tatar, der letzthin von Stambul her, vom Großherrn selbst, den der Prophet segnen möge, an ihn geschickt kam, der sagte mir, daß unser Scheik sehr in Ansehen stehe beim Reis-Effendi, beim Kapidschi-Baschi, bei allen, ja beim Sultan selbst.«

»Ja«, rief ein vierter, »seine Schritte sind gesegnet; er ist ein reicher, vornehmer Herr, aber – aber, ihr wißt, was ich meine!« »Ja, ja!« murmelten dann die anderen dazwischen, »es ist wahr, er hat auch ein Teil zu tragen, möchten nicht mit ihm tauschen; ist ein reicher, vornehmer Herr; aber, aber!«

Ali Banu hatte ein herrliches Haus auf dem schönsten Platz von Alessandria; vor dem Hause war eine weite Terrasse, mit Marmor ummauert, beschattet von Palmbäumen; dort saß er oft abends und rauchte seine Wasserpfeife. In ehrerbietiger Entfernung harrten dann zwölf reichgekleidete Sklaven seines Winkes; der eine trug seinen Betel, der andere hielt seinen Sonnenschirm, ein dritter hatte Gefäße von gediegenem Golde, mit köstlichem Sorbet angefüllt, ein vierter trug einen Wedel von Pfauenfedern, um die Fliegen aus der Nähe des Herrn zu verscheuchen; andere waren Sänger und trugen Lauten und Blasinstrumente, um ihn zu ergötzen mit Musik, wenn er es verlangte, und der gelehrteste von allen trug mehrere Rollen, um ihm vorzulesen.

Aber sie harreten vergeblich auf seinen Wink; er verlangte nicht Musik noch Gesang, er wollte keine Sprüche oder Gedichte weiser Dichter der Vorzeit hören, er wollte keinen Sorbet zu sich nehmen, noch Betel kauen, ja, selbst der mit dem Fächer aus Pfauenfeder hatte vergebliche Arbeit; denn der Herr bemerkte es nicht, wenn ihn eine Fliege summend umschwärmte. Da blieben oft die Vorübergehenden stehen, staunten über die Pracht des Hauses, über die reichgekleideten Sklaven und über die Bequemlichkeit, womit alles versehen war; aber wenn sie dann den Scheik ansahen, wie er so ernst und düster unter den Palmen saß, seine Augen nirgends hinwandte als auf die bläulichen Wölkchen seiner Wasserpfeife, da schüttelten sie die Köpfe und sprachen: »Wahrlich, der reiche Mann ist ein armer Mann. Er, der viel hat, ist ärmer als der, der nichts hat; denn der Prophet hat ihm den Verstand nicht gegeben, es zu genießen.«

So sprachen die Leute, lachten über ihn und gingen weiter.

Eines Abends, als der Scheik wiederum vor der Türe seines Hauses saß, umgeben von allem Glanz der Erde, und traurig und einsam seine Wasserpfeife rauchte, standen nicht ferne davon einige junge Leute, betrachteten ihn und lachten.

»Wahrlich«, sprach der eine, »das ist ein törichter Mann, der Scheik Ali Banu; hätte ich seine Schätze, ich wollte sie anders anwenden. Alle Tage wollte ich leben herrlich und in Freuden; meine Freunde müßten bei mir speisen in den großen Gemächern des Hauses, und Jubel und Lachen müßten diese traurigen Hallen füllen.«

»Ja«, erwiderte ein anderer. »Das wäre nicht so übel; aber viele Freunde zehren ein Gut auf, und wäre es so groß als das des Sultans, den der Prophet segne; aber säße ich abends so unter den Palmen auf dem schönen Platze hier, da müßten mir die Sklaven dort singen und musizieren, meine Tänzer müßten kommen und tanzen und springen und allerlei wunderliche Stücke aufführen. Dazu rauchte ich recht vornehm die Wasserpfeife, ließe mir den köstlichen Sorbet reichen und ergötzte mich an all diesem wie ein König von Bagdad.«

»Der Scheik«, sprach ein dritter dieser jungen Leute, der ein Schreiber war, »der Scheik soll ein gelehrter und weiser Mann sein, und wirklich, seine Vorlesungen über den Koran zeugen von Belesenheit in allen Dichtern und Schriften der Weisheit; aber ist auch sein Leben so eingerichtet, wie es einem vernünftigen Manne geziemt? Dort steht ein Sklave mit einem ganzen Arm voll Rollen; ich gäbe mein Festkleid dafür, nur eine davon lesen zu dürfen; denn es sind gewiß seltene Sachen. Aber er? Er sitzt und raucht und läßt Bücher – Bücher sein. Wäre ich der Scheik Ali Banu, der Kerl müßte mir vorlesen, bis er keinen Atem mehr hätte oder bis die Nacht heraufkäme; und auch dann noch müßte er mir lesen, bis ich entschlummert wäre.« »Ha! Ihr wißt mir recht, wie man sich ein köstliches Leben einrichtet«, lachte der vierte; »essen und trinken, singen und tanzen, Sprüche lesen und Gedichte hören von armseligen Dichtern! Nein, ich würde es ganz anders machen. Er hat die herrlichsten Pferde und Kamele und Geld die Menge. Da würde ich an seiner Stelle reisen, reisen bis an der Welt Ende und selbst zu den Moskowitern, selbst zu den Franken. Kein Weg wäre mir zu weit, um die Herrlichkeiten der Welt zu sehen. So würde ich tun, wäre ich jener Mann dort.«

»Die Jugend ist eine schöne Zeit und das Alter, wo man fröhlich ist«, sprach ein alter Mann von unscheinbarem Aussehen, der neben ihnen stand und ihre Reden gehört hatte, »aber erlaubet mir, daß ich es sage, die Jugend ist auch töricht und schwatzt hier und da in den Tag hinein, ohne zu wissen, was sie tut.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Alter?« fragten verwundert die jungen Leute. »Meinet Ihr uns damit? Was geht es Euch an, daß wir die Lebensart des Scheiks tadeln?«

»Wenn einer etwas besser weiß als der andere, so berichtige er seinen Irrtum, so will es der Prophet«, erwiderte der alte Mann, »der Scheik, es ist wahr, ist gesegnet mit Schätzen und hat alles, wonach das Herz verlangt, aber er hat Ursache, ernst und traurig zu sein. Meinet ihr, er sei immer so gewesen? Nein, ich habe ihn noch vor fünfzehn Jahren gesehen, da war er munter und rüstig wie die Gazelle und lebte fröhlich und genoß sein Leben. Damals hatte er einen Sohn, die Freude seiner Tage, schön und gebildet, und wer ihn sah und sprechen hörte, mußte den Scheik beneiden um diesen Schatz, denn er war erst zehn Jahre alt, und doch war er schon so gelehrt wie ein anderer kaum im achtzehnten.«

»Und der ist ihm gestorben? Der arme Scheik!« rief der junge Schreiber.

»Es wäre tröstlich für ihn, zu wissen, daß er heimgegangen in die Wohnungen des Propheten, wo er besser lebte als hier in Alessandria; aber das, was er erfahren mußte, ist viel schlimmer. Es war damals die Zeit, wo die Franken wie hungrige Wölfe herüberkamen in unser Land und Krieg mit uns führten. Sie hatten Alessandria überwältigt und zogen von da aus weiter und immer weiter und bekriegten die Mamelucken. Der Scheik war ein kluger Mann und wußte sich gut mit ihnen zu vertragen; aber, sei es, weil sie lüstern waren nach seinen Schätzen, sei es, weil er sich seiner gläubigen Brüder annahm, ich weiß es nicht genau; kurz, sie kamen eines Tages in sein Haus und beschuldigten ihn, die Mamelucken heimlich mit Waffen, Pferden und Lebensmitteln unterstützt zu haben. Er mochte seine Unschuld beweisen, wie er wollte, es half nichts, denn die Franken sind ein rohes, hartherziges Volk, wenn es darauf ankommt, Geld zu erpressen. Sie nahmen also seinen jungen Sohn, Kairam geheißen, als Geisel in ihr Lager. Er bot ihnen viel Geld für ihn; aber sie gaben ihn nicht los und wollten ihn zu noch höherem Gebot steigern. Da kam ihnen auf einmal von ihrem Bassa, oder was er war, der Befehl, sich einzuschiffen; niemand in Alessandria wußte ein Wort davon, und – plötzlich waren sie auf der hohen See, und den kleinen Kairam, Ali Banus Sohn, schleppten sie wohl mit sich, denn man hat nie wieder etwas von ihm gehört.«

»O der arme Mann, wie hat ihn doch Allah geschlagen!« riefen einmütig die jungen Leute und schauten mitleidig hin nach dem Scheik, der, umgeben von Herrlichkeit, trauernd und einsam unter den Palmen saß.

»Sein Weib, das er sehr geliebt hat, starb ihm aus Kummer um ihren Sohn; er selbst aber kaufte sich ein Schiff, rüstete es aus und bewog den fränkischen Arzt, der dort unten am Brunnen wohnt, mit ihm nach Frankistan zu reisen, um den verlorenen Sohn aufzusuchen. Sie schifften sich ein und waren lange Zeit auf dem Meere und kamen endlich in das Land jener Giaurs, jener Ungläubigen, die in Alessandria gewesen waren. Aber dort soll es gerade schrecklich zugegangen sein. Sie hatten ihren Sultan umgebracht, und die Paschas und die Reichen und Armen schlugen einander die Köpfe ab, und es war keine Ordnung im Lande. Vergeblich suchten sie in jeder Stadt nach dem kleinen Kairam, niemand wollte von ihm wissen, und der fränkische Doktor riet endlich dem Scheik, sich einzuschiffen, weil sie sonst wohl selbst um ihre Köpfe kommen könnten.

So kamen sie wieder zurück, und seit seiner Ankunft hat der Scheik gelebt wie an diesem Tag, denn er trauert um seinen Sohn, und er hat recht. Muß er nicht, wenn er ißt und trinkt, denken, jetzt muß vielleicht mein armer Kairam hungern und dürsten?

Und wenn er sich bekleidet mit reichen Schals und Festkleidern, wie es sein Amt und seine Würde will, muß er nicht denken, jetzt hat er wohl nichts, womit er seine Blöße deckt? Und wenn er umgeben ist von Sängern und Tänzern und Vorlesern, seinen Sklaven, denkt er da nicht, jetzt muß wohl mein armer Sohn seinem fränkischen Gebieter Sprünge vormachen und musizieren, wie er es haben will? Und was ihm den größten Kummer macht, er glaubt, der kleine Kairam werde, so weit vom Lande seiner Väter und mitten unter Ungläubigen, die seiner spotten, abtrünnig werden vom Glauben seiner Väter und er werde ihn einst nicht umarmen können in den Gärten des Paradieses!

Darum ist er auch so mild gegen seine Sklaven und gibt große Summen an die Armen; denn er denkt, Allah werde es vergelten und das Herz seiner fränkischen Herren rühren, daß sie seinen Sohn mild behandeln. Auch gibt er jedesmal, wenn der Tag kommt, an welchem ihm sein Sohn entrissen wurde, zwölf Sklaven frei.«

»Davon habe ich auch schon gehört«, entgegnete der Schreiber, »aber man trägt sich mit wundervollen Reden; von seinem Sohne wurde dabei nichts erwähnt; wohl aber sagte man, er sei ein sonderbarer Mann und ganz besonders erpicht auf Erzählungen; da soll er jedes Jahr unter seinen Sklaven einen Wettstreit anstellen, und wer am besten erzählt, den gibt er frei.« »Verlasset euch nicht auf das Gerede der Leute«, sagte der alte Mann, »es ist so, wie ich es sage, und ich weiß es genau; möglich ist, daß er sich an diesem schweren Tage aufheitern will und sich Geschichten erzählen läßt; doch gibt er sie frei um seines Sohnes willen. Doch, der Abend wird kühl, und ich muß weitergehen. Salem aleikum, Friede sei mit euch, ihr jungen Herren, und denket in Zukunft besser von dem guten Scheik!«

Die jungen Leute dankten dem Alten für seine Nachrichten, schauten noch einmal nach dem trauernden Vater und gingen die Straße hinab, indem sie zueinander sprachen: »Ich möchte doch nicht der Scheik Ali Banu sein.«

Nicht lange Zeit, nachdem diese jungen Leute mit dem alten Mann über den Scheik Ali Banu gesprochen hatten, traf es sich, daß sie um die Zeit des Morgengebets wieder diese Straße gingen. Da fiel ihnen der alte Mann und seine Erzählung ein, und sie beklagten zusammen den Scheik und blickten nach seinem Hause. Aber wie staunten sie, als sie dort alles aufs herrlichste ausgeschmückt fanden! Von dem Dache, wo geputzte Sklavinnen spazierengingen, wehten Wimpeln und Fahnen, die Halle des Hauses war mit köstlichen Teppichen belegt, Seidenstoff schloß sich an diese an, der über die breiten Stufen der Treppe gelegt war, und selbst auf der Straße war noch schönes, feines Tuch ausgebreitet, wovon sich mancher wünschen mochte zu einem Festkleid oder zu einer Decke für die Füße.

»Ei, wie hat sich doch der Scheik geändert in den wenigen Tagen!« sprach der junge Schreiber. »Will er ein Fest geben? Will er seine Sänger und Tänzer anstrengen? Seht mir diese Teppiche! Hat sie einer so schön in ganz Alessandria! Und dieses Tuch auf dem gemeinen Boden, wahrlich, es ist schade dafür!«

»Weißt du, was ich denke?« sprach ein anderer. »Er empfängt sicherlich einen hohen Gast; denn das sind Zubereitungen, wie man sie macht, wenn ein Herrscher von großen Ländern oder ein Effendi des Großherrn ein Haus mit seinem Besuch segnet. Wer mag wohl heute hierherkommen?«

»Siehe da, geht dort unten nicht unser Alter von letzthin? Ei, der weiß ja alles und muß auch darüber Aufschluß geben können. Heda! Alter Herr! Wollet Ihr nicht ein wenig zu uns treten?« So riefen sie; der alte Mann aber bemerkte ihre Winke und kam zu ihnen; denn er erkannte sie als die jungen Leute, mit welchen er vor einigen Tagen gesprochen. Sie machten ihn aufmerksam auf die Zurüstungen im Hause des Scheiks und fragten ihn, ob er nicht wisse, welch hoher Gast wohl erwartet werde.

»Ihr glaubt wohl«, erwiderte er, »Ali Banu feiere heute ein großes Freudenfest, oder der Besuch eines großen Mannes beehre sein Haus? Dem ist nicht also; aber heute ist der zwölfte Tag des Monats Ramadan, wie ihr wisset, und an diesem Tag wurde sein Sohn ins Lager geführt.«

»Aber beim Bart des Propheten!« rief einer der jungen Leute. »Das sieht ja alles aus wie Hochzeit und Festlichkeiten, und doch ist es sein berühmter Trauertag, wie reimt Ihr das zusammen? Gesteht, der Scheik ist denn doch etwas zerrüttet im Verstand.«

»Urteilt Ihr noch immer so schnell, mein junger Freund?« fragte der Alte lächelnd. »Auch diesmal war Euer Pfeil wohl spitzig und scharf, die Sehne Eures Bogens straff angezogen, und doch habt Ihr weitab vom Ziele geschossen. Wisset, daß heute der Scheik seinen Sohn erwartet.«

»So ist er gefunden?« riefen die Jünglinge und freuten sich. »Nein, und er wird sich wohl lange nicht finden; aber wisset: Vor acht oder zehn Jahren, als der Scheik auch einmal mit Trauern und Klagen diesen Tag beging, auch Sklaven freigab und viele Arme speiste und tränkte, da traf es sich, daß er auch einem Derwisch, der müde und matt im Schatten jenes Hauses lag, Speise und Trank reichen ließ. Der Derwisch aber war ein heiliger Mann und erfahren in Prophezeiungen und im Sterndeuten. Der trat, als er gestärkt war durch die milde Hand des Scheiks, zu ihm und sprach: ‚Ich kenne die Ursache deines Kummers; ist nicht heute der zwölfte Ramadan, und hast du nicht an diesem Tage deinen Sohn verloren? Aber sei getrost, dieser Tag der Trauer wird dir zum Festtag werden, denn wisse, an diesem Tage wird einst dein Sohn zurückkehren!‘ So sprach der Derwisch. Es wäre Sünde für jeden Muselmann, an der Rede eines solchen Mannes zu zweifeln; der Gram Alis wurde zwar dadurch nicht gemildert, aber doch harrt er an diesem Tage immer auf die Rückkehr seines Sohnes und schmückt sein Haus und seine Halle und die Treppen, als könne jener zu jeder Stunde anlangen.«

»Wunderbar!« erwiderte der Schreiber. »Aber zusehen möchte ich doch, wie alles so herrlich bereitet ist, wie er selbst in dieser Herrlichkeit trauert, und hauptsächlich möchte ich zuhören, wie er sich von seinen Sklaven erzählen läßt.«

»Nichts leichter als dies«, antwortete der Alte. »Der Aufseher der Sklaven jenes Hauses ist mein Freund seit langen Jahren und gönnt mir an diesem Tage immer ein Plätzchen in dem Saal, wo man unter der Menge der Diener und Freunde des Scheiks den einzelnen nicht bemerkt. Ich will mit ihm reden, daß er euch einläßt; ihr seid ja nur zu viert, und da kann es schon gehen; kommet um die neunte Stunde auf diesen Platz, und ich will euch Antwort geben.«

So sprach der Alte; die jungen Leute aber dankten ihm und entfernten sich, voll Begierde zu sehen, wie sich dies alles begeben würde.

Sie kamen zur bestimmten Stunde auf den Platz vor dem Hause des Scheik und trafen da den Alten, der ihnen sagte, daß der Aufseher der Sklaven erlaubt habe, sie einzuführen. Er ging voran, doch nicht durch die reichgeschmückten Treppen und Tore, sondern durch ein Seitenpförtchen, das er sorgfältig wieder verschloß. Dann führte er sie durch mehrere Gänge, bis sie in den großen Saal kamen. Hier war ein großes Gedränge von allen Seiten; da waren reichgekleidete Männer, angesehene Herren der Stadt und Freunde des Scheik, die gekommen waren, ihn in seinem Schmerz zu trösten. Da waren Sklaven aller Art und aller Nationen. Aber alle sahen kummervoll aus; denn sie liebten ihren Herrn und trauerten mit ihm. Am Ende des Saales, auf einem reichen Diwan, saßen die vornehmsten Freunde Alis und wurden von den Sklaven bedient. Neben ihnen auf dem Boden saß der Scheik; denn die Trauer um seinen Sohn erlaubte ihm nicht, auf dem Teppich der Freude zu sitzen. Er hatte sein Haupt in die Hand gestützt und schien wenig auf die Tröstungen zu hören, die ihm seine Freunde zuflüsterten. Ihm gegenüber saßen einige alte und junge Männer in Sklaventracht. Der Alte belehrte seine jungen Freunde, daß dies die Sklaven seien, die Ah Banu an diesem Tage freigebe. Es waren unter ihnen auch einige Franken, und der Alte machte besonders auf einen von ihnen aufmerksam, der von ausgezeichneter Schönheit und noch sehr jung war. Der Scheik hatte ihn erst einige Tage zuvor einem Sklavenhändler von Tunis um eine große Summe abgekauft und gab ihn dennoch jetzt schon frei, weil er glaubte, je mehr Franken er in ihr Vaterland zurückschicke, desto früher werde der Prophet seinen Sohn erlösen.

Nachdem man überall Erfrischungen umhergereicht hatte, gab der Scheik dem Aufseher der Sklaven ein Zeichen. Dieser stand auf, und es ward tiefe Stille im Saal. Er trat vor die Sklaven, welche freigelassen werden sollten, und sprach mit vernehmlichen Stimme: »Ihr Männer, die ihr heute frei sein werdet durch die Gnade meines Herrn Ali Banu, des Scheik von Alessandria, tuet nur, wie es Sitte ist an diesem Tage in seinem Hause, und hebet an zu erzählen!«

Sie flüsterten untereinander. Dann aber nahm ein alter Sklave das Wort und fing an zu erzählen:

Die Geschichte Almansors

O Herr! Die Männer, die vor mir gesprochen haben, erzählten mancherlei wunderbare Geschichten, die sie gehört hatten in fremden Ländern; ich muß mit Beschämung gestehen, daß ich keine einzige Erzählung weiß, die Eurer Aufmerksamkeit würdig wäre. Doch wenn es Euch nicht langweilt, will ich Euch die wunderbaren Schicksale eines meiner Freunde vortragen.

Auf jenem algerischen Kaperschiff, von welchem mich Eure milde Hand befreit hat, war ein junger Mann in meinem Alter, der mir nicht für das Sklavenkleid geboren schien, das er trug. Die übrigen Unglücklichen auf dem Schiffe waren entweder rohe Menschen, mit denen ich nicht leben mochte, oder Leute, deren Sprache ich nicht verstand; darum fand ich mich zu der Zeit, wo wir ein Stündchen frei hatten, gerne zu dem jungen Mann. Er nannte sich Almansor und war seiner Aussprache nach ein Ägypter. Wir unterhielten uns recht angenehm miteinander und kamen eines Tages auch darauf, uns unsere Geschichte zu erzählen, da dann die meines Freundes allerdings bei weitem merkwürdiger war als die meinige.

Almansors Vater war ein vornehmer Mann in einer ägyptischen Stadt, deren Namen er mir nicht nannte. Er lebte die Tage seiner Kindheit vergnügt und froh und umgeben von allem Glanz und aller Bequemlichkeit der Erde. Aber er wurde dabei doch nicht weichlich erzogen, und sein Geist wurde frühzeitig ausgebildet; denn sein Vater war ein weiser Mann, der ihm Lehren der Tugend gab, und überdies hatte er zum Lehrer einen berühmten Gelehrten, der ihn in allem unterrichtete, was ein junger Mensch wissen muß – Almansor war etwa zehn Jahre alt, als die Franken über das Meer her in das Land kamen und Krieg mit seinem Volke führten.

Der Vater des Knaben mußte aber den Franken nicht sehr günstig gewesen sein; denn eines Tages, als er eben zum Morgengebet gehen wollte, kamen sie und verlangten zuerst seine Frau als Geisel seiner treuen Gesinnungen gegen das Frankenvolk, und als er sie nicht geben wollte, schleppten sie seinen Sohn mit Gewalt ins Lager.

Als der junge Sklave also erzählte, verhüllte der Scheik sein Angesicht, und es entstand ein Murren des Unwillens im Saal. »Wie«, riefen die Freunde des Scheik, »wie kann der junge Mann dort so töricht handeln und durch solche Geschichten die Wunden Ali Banus aufreißen, statt sie zu mildern? Wie kann er ihm seinen Schmerz erneuern, statt ihn zu zerstreuen?« Der Sklavenaufseher selbst war voll Zorn über den unverschämten Jüngling und gebot ihm zu schweigen.

Der junge Sklave aber war sehr erstaunt über dies alles und fragte den Scheik, ob denn in seiner Erzählung etwas liege, das sein Mißfallen erregt habe. Der Scheik richtete sich auf und sprach: »Seid doch ruhig, Freunde; wie kann denn dieser Jüngling etwas von meinem betrübten Schicksal wissen, da er nur kaum drei Tage unter diesem Dache ist! Kann es denn bei den Greueln, die diese Franken verübten, nicht ein ähnliches Geschick wie das meine geben? Kann nicht vielleicht selbst jener Almansor – doch erzähle immer weiter, mein junger Freund!« Der junge Sklave verbeugte sich und fuhr fort:

Der junge Almansor wurde also in das fränkische Lager geführt. Es erging ihm dort im ganzen gut; denn einer der Feldherrn ließ ihn in sein Zelt kommen und hatte seine Freude an den Antworten des Knaben, die ihm ein Dragoman übersetzen mußte; er sorgte für ihn, daß ihm an Speise und Kleidung nichts abginge; aber die Sehnsucht nach Vater und Mutter machte dennoch den Knaben höchst unglücklich. Er weinte viele Tage lang, aber seine Tränen rührten diese Männer nicht. Das Lager wurde aufgebrochen, und Almansor glaubte jetzt wieder zurückkehren zu dürfen; aber es war nicht so; das Heer zog hin und her, führte Krieg mit den Mamelucken, und den jungen Almansor schleppten sie immer mit sich. Wenn er dann die Hauptleute und Feldherren anflehte, ihn doch wieder heimkehren zu lassen, so verweigerten sie es und sagten, er müsse ein Unterpfand von seines Vaters Treue sein. So war er viele Tage lang auf dem Marsch.

Auf einmal aber entstand eine Bewegung im Heere, die dem Knaben nicht entging; man sprach von Einpacken, von Zurückziehen, vom Einschiffen, und Almansor war außer sich vor Freude; denn jetzt, wenn die Franken in ihr Land zurückkehrten, jetzt mußte er ja frei werden. Man zog mit Roß und Wagen rückwärts gegen die Küste, und endlich war man so weit, daß man die Schiffe vor Anker liegen sah. Die Soldaten schifften sich ein; aber es wurde Nacht, bis nur ein kleiner Teil eingeschifft war. So gerne Almansor gewacht hätte, weil er jede Stunde glaubte, freigelassen zu werden, so verfiel er doch endlich in einen tiefen Schlaf, und er glaubte, die Franken haben ihm etwas unter das Wasser gemischt, um ihn einzuschläfern. Denn als er aufwachte, schien der helle Tag in eine kleine Kammer, worin er nicht gewesen war, als er einschlief. Er sprang auf von seinem Lager, aber als er auf den Boden kam, fiel er um; denn der Boden schwankte hin und wieder, und es schien sich alles zu bewegen und im Kreis um ihn her zu tanzen. Er raffte sich auf, hielt sich an den Wänden fest, um aus dem Gemach zu kommen, worin er sich befand.

Ein sonderbares Brausen und Zischen war um ihn her; er wußte nicht, ob er träume oder wache; denn er hatte nie Ähnliches gesehen oder gehört. Endlich erreichte er eine kleine Treppe, mit Mühe klimmte er hinauf, und welcher Schrecken befiel ihn! Ringsumher war nichts als Himmel und Meer, er befand sich auf einem Schiffe. Da fing er kläglich an zu weinen. Er wollte zurückgebracht werden, er wollte ins Meer sich stürzen und hinüberschwimmen nach seiner Heimat; aber die Franken hielten ihn fest, und einer der Befehlshaber ließ ihn zu sich kommen, versprach ihm, wenn er gehorsam sei, solle er bald wieder in seine Heimat zurück, und stellte ihm vor, daß es nicht mehr möglich gewesen wäre, ihn vom Land aus nach Hause zu bringen, dort aber hätte er, wenn man ihn zurückgelassen, elendiglich umkommen müssen.

Wer aber nicht Wort hielt, waren die Franken; denn das Schiff segelte viele Tage lang weiter, und als es endlich landete, war man nicht an Ägyptens Küste, sondern in Frankistan! Almansor hatte während der langen Fahrt und schon im Lager einiges von der Sprache der Franken verstehen und sprechen gelernt, was ihm in diesem Lande, wo niemand seine Sprache kannte, sehr gut zustatten kam. Er wurde viele Tage lang durch das Land in das Innere geführt, und überall strömte das Volk zusammen, um ihn zu sehen; denn seine Begleiter sagten aus, er wäre der Sohn des Königs von Ägypten, der ihn zu seiner Ausbildung nach Frankistan schicke.

So sagten aber die Soldaten nur, um das Volk glauben zu machen, sie haben Ägypten besiegt und stehen in tiefem Frieden mit diesem Land. Nachdem die Reise zu Land mehrere Tage gedauert hatte, kamen sie in eine große Stadt, dem Ziel ihrer Reise. Dort wurde er einem Arzt übergeben, der ihn in sein Haus nahm und in allen Sitten und Gebräuchen von Frankistan unterwies.

Er mußte vor allem fränkische Kleider anlegen, die sehr enge und knapp waren und bei weitem nicht so schön wie seine ägyptischen. Dann durfte er nicht mehr seine Verbeugung mit gekreuzten Armen machen, sondern wollte er jemand seine Ehrerbietung bezeugen, so mußte er mit der einen Hand die ungeheure Mütze von schwarzem Filz, die alle Männer trugen und die man auch ihm aufgesetzt hatte, vom Kopfe reißen, mit der anderen Hand mußte er auf die Seite fahren und mit dem rechten Fuß auskratzen. Er durfte auch nicht mehr mit überschlagenen Beinen sitzen, wie es angenehme Sitte ist im Morgenlande, sondern auf hochbeinige Stühle mußte er sich setzen und die Füße herabhängen lassen auf den Boden. Das Essen machte ihm auch nicht geringe Schwierigkeit; denn alles, was er zum Munde bringen wollte, mußte er zuvor auf eine Gabel von Eisen stecken.

Der Doktor aber war ein strenger, böser Mann, der den Knaben plagte: Denn wenn er sich jemals vergaß und zu einem Besuch sagte: »Salem aleikum«, so schlug er ihn mit dem Stock; denn er sollte sagen: »Votre serviteur!« Er durfte auch nicht mehr in seiner Sprache denken und sprechen oder schreiben, höchstens durfte er darin träumen, und er hätte vielleicht seine Sprache gänzlich verlernt, wenn nicht ein Mann in jener Stadt gelebt hätte, der ihm von großem Nutzen war.

Es war dies ein alter, aber sehr gelehrter Mann, der viele morgenländische Sprachen verstand. Arabisch, Persisch, Koptisch, sogar Chinesisch, von jedem etwas; er galt in jenem Land für ein Wunder von Gelehrsamkeit, und man gab ihm viel Geld, daß er diese Sprachen andere Leute lehrte. Dieser Mann ließ nun den jungen Almansor alle Wochen einigemal zu sich kommen, bewirtete ihn mit seltenen Früchten und dergleichen, und dem Jüngling war es dann, als wäre er zu Haus. Denn der alte Herr war gar ein sonderbarer Mann. Er hatte Almansor Kleider machen lassen, wie sie vornehme Leute in Ägypten tragen. Diese Kleider bewahrte er in seinem Hause in einem besonderen Zimmer auf. Kam nun Almansor, so schickte er ihn mit einem Bediensteten in jenes Zimmer und ließ ihn ganz nach seiner Landessitte ankleiden. Von da ging es dann nach »Kleinarabien«; so nannte man einen Saal im Hause des Gelehrten.

Dieser Saal war mit allerlei künstlich aufgezogenen Bäumen, als Palmen, Bambus, jungen Zedern und dergleichen, und mit Blumen ausgeschmückt, die nur im Morgenland wachsen. Persische Teppiche lagen auf dem Fußboden, und an den Wänden waren Polster, nirgends aber ein fränkischer Stuhl oder Tisch. Auf einem dieser Polster saß der alte Professor; er sah aber ganz anders aus als gewöhnlich; um den Kopf hatte er einen feinen türkischen Schal als Turban gewunden, er hatte einen grauen Bart umgeknüpft, der ihm bis zum Gürtel reichte und aussah wie ein natürlicher, ehrwürdiger Bart eines gewichtigen Mannes. Dazu trug er einen Talar, den er aus einem brokatnen Schlafrock hatte machen lassen, weite türkische Beinkleider, gelbe Pantoffeln, und so friedlich er sonst war, an diesen Tagen hatte er einen türkischen Säbel umgeschnallt, und im Gürtel stak ein Dolch, mit falschen Steinen besetzt. Dazu rauchte er aus einer zwei Ellen langen Pfeife und ließ sich von seinen Leuten bedienen, die ebenfalls persisch gekleidet waren und wovon die Hälfte Gesicht und Hände schwarz gefärbt hatte.

Von Anfang wollte dies alles dem jungen Almansor gar wunderlich bedünken; aber bald sah er ein, daß solche Stunden, wenn er in die Gedanken des Alten sich fügte, sehr nützlich für ihn seien. Durfte er beim Doktor kein ägyptisches Wort sprechen, so war hier die fränkische Sprache sehr verboten. Almansor mußte beim Eintreten den Friedensgruß sprechen, den der alte Perser sehr feierlich erwiderte; dann winkte er dem Jüngling, sich neben ihn zu setzen, und begann Persisch, Arabisch, Koptisch und alle Sprachen untereinander zu sprechen und nannte dies eine gelehrte morgenländische Unterhaltung. Neben ihm stand ein Bediensteter oder, was sie an diesem Tage vorstellten, ein Sklave, der ein großes Buch hielt; das Buch war aber ein Wörterbuch, und wenn dem Alten die Worte ausgingen, winkte er dem Sklaven, schlug flugs auf, was er sagen wollte, und fuhr dann zu sprechen fort.

Die Sklaven aber brachten in türkischem Geschirr Sorbet und dergleichen, und wollte Almansor dem Alten ein großes Vergnügen machen, so mußte er sagen, es sei alles bei ihm angeordnet wie im Morgenland. Almansor las sehr schön Persisch, und das war der Hauptvorteil für den Alten. Er hatte viele persische Manuskripte; aus diesen ließ er sich von dem Jüngling vorlesen, las aufmerksam nach und merkte sich auf diese Art die richtige Aussprache.

Das waren die Freudentage des armen Almansor; denn nie entließ ihn der alte Professor unbeschenkt, und oft trug er sogar kostbare Gaben an Geld und Leinenzeug oder anderen notwendigen Dingen davon, die ihm der Doktor nicht geben wollte. So lebte Almansor einige Jahre in der Hauptstadt des Frankenlandes, und nie wurde seine Sehnsucht nach der Heimat geringer. Als er aber etwa fünfzehn Jahre alt war, begab sich ein Vorfall, der auf sein Schicksal großen Einfluß hatte.

Die Franken nämlich wählten ihren ersten Feldherrn, denselben, mit welchem Almansor so oft in Ägypten gesprochen hatte, zu ihrem König und Beherrscher; Almansor wußte zwar und erkannte es an den großen Festlichkeiten, daß etwas dergleichen in dieser großen Stadt geschehe; doch konnte er sich nicht denken, daß der König derselbe sei, den er in Ägypten gesehen; denn jener Feldherr war noch ein sehr junger Mann. Eines Tages aber ging Almansor über eine jener Brücken, die über den breiten Fluß fahren, der die Stadt durchströmt; da gewahrte er in dem einfachen Kleid eines Soldaten einen Mann, der am Brückengeländer lehnte und in die Wellen sah. Die Züge des Mannes fielen ihm auf, und er erinnerte sich, ihn schon gesehen zu haben. Er ging also schnell die Kammern seiner Erinnerung durch, und als er an die Pforte der Kammer von Ägypten kam, da eröffnete sich ihm plötzlich das Verständnis, daß dieser Mann jener Feldherr der Franken sei, mit welchem er oft im Lager gesprochen und der immer gütig für ihn gesorgt hatte. Er wußte seinen rechten Namen nicht genau; er faßte sich daher ein Herz, trat zu ihm, nannte ihn, wie ihn die Soldaten unter sich nannten, und sprach, indem er nach seiner Landessitte die Arme über der Brust kreuzte: »Salem aleikum, Petit-Caporal!«

Der Mann sah sich erstaunt um, blickte den jungen Menschen mit scharfen Augen an, dachte über ihn nach und sagte dann: »Himmel, ist es möglich! Du hier, Almansor? Was macht dein Vater? Wie geht es in Ägypten? Was führt dich zu uns hierher?«

Da konnte sich Almansor nicht länger halten; er fing an, bitterlich zu weinen, und sagte zu dem Mann: »So weißt du also nicht, was die Hunde, deine Landsleute, mit mir gemacht haben, Petit-Caporal? Du weißt nicht, daß ich das Land meiner Väter nicht mehr gesehen habe seit vielen Jahren?«

»Ich will nicht hoffen«, sagte der Mann, und seine Stirne wurde finster, »ich will nicht hoffen, daß man dich mit hinwegschleppte.«

»Ach, freilich«, antwortete Almansor, »an jenem Tage, wo Eure Soldaten sich einschifften, sah ich mein Vaterland zum letztenmal; sie nahmen mich mit sich hinweg, und ein Hauptmann, den mein Elend rührte, zahlt ein Kostgeld für mich bei einem verwünschten Doktor, der mich schlägt und halb Hungers sterben läßt. Aber höre, Petit-Caporal«, fuhr er ganz treuherzig fort, »es ist gut, daß ich dich hier traf, du mußt mir helfen.«

Der Mann, zu welchem er dies sprach, lächelte und fragte, auf welche Weise er denn helfen sollte.

»Siehe«, sagte Almansor, »es wäre unbillig, wollte ich von dir etwas verlangen; du warst von jeher so gütig gegen mich, aber ich weiß, du bist auch ein armer Mensch, und wenn du auch Feldherr warst, gingst du nie so schön gekleidet wie die anderen; auch jetzt mußt du, nach deinem Rock und Hut zu urteilen, nicht in den besten Umständen sein. Aber da haben ja die Franken letzthin einen Sultan gewählt, und ohne Zweifel kennst du Leute, die sich ihm nahen dürfen, etwa seinen Janitscharen-Aga oder den Reis-Effendi oder seinen Rapudan-Pascha; nicht?«

»Nun ja«, antwortete der Mann, »aber wie weiter?«

»Bei diesen könntest du ein gutes Wort für mich einlegen, Petit-Caporal, daß sie den Sultan der Franken bitten, er möchte mich freilassen; dann brauche ich auch etwas Geld zur Reise übers Meer; vor allem aber mußt du mir versprechen, weder dem Doktor noch dem arabischen Professor etwas davon zu sagen.«

»Wer ist denn der arabische Professor?« fragte jener. »Ach, das ist ein sonderbarer Mann; doch von diesem erzähle ich dir ein andermal. Wenn es die beiden hörten, dürfte ich nicht mehr aus Frankistan weg. Aber willst du für mich sprechen bei den Agas? Sage es mir aufrichtig!«

»Komm mit mir«, sagte der Mann, »vielleicht kann ich dir jetzt gleich nützlich sein.«

»Jetzt?« rief der Jüngling mit Schrecken. »Jetzt um keinen Preis, da würde mich der Doktor prügeln; ich muß eilen, daß ich nach Hause komme.«

»Was trägst du denn in diesem Korb?« fragte jener, indem er ihn zurückhielt.

Almansor errötete und wollte es anfangs nicht zeigen; endlich aber sagte er: »Siehe, Petit- Caporal, ich muß hier Dienste tun wie der geringste Sklave meines Vaters. Der Doktor ist ein geiziger Mann und schickt mich alle Tage von unserem Hause eine Stunde weit auf den Gemüse- und Fischmarkt; da muß ich dann unter den schmutzigen Marktweibern einkaufen, weil es dort um einige Kupfermünzen wohlfeiler ist als in unserem Stadtteil. Siehe, wegen dieses schlechten Herings, wegen dieser Handvoll Salat, wegen dieses Stückchens Butter muß ich alle Tage zwei Stunden gehen. Ach, wenn es mein Vater wüßte!«

Der Mann, zu welchem Almansor dies sprach, war gerührt über die Not des Knaben und antwortete: »Komm nur mit mir und sei getrost; der Doktor soll dir nichts anhaben dürfen, wenn er auch heute weder Hering noch Salat verspeist! Sei getrosten Mutes und komm!« Er nahm bei diesen Worten Almansor bei der Hand und führte ihn mit sich, und obgleich diesem das Herz pochte, wenn er an den Doktor dachte, so lag doch so viel Zuversicht in den Worten und Mienen des Mannes, daß er sich entschloß, ihm zu folgen. Er ging also, sein Körbchen am Arm, neben dem Soldaten viele Straßen durch, und wunderbar wollte es ihm bedünken, daß alle Leute die Hüte vor ihnen abnahmen und stehenblieben und ihnen nachschauten. Er äußerte dies auch gegen seinen Begleiter, dieser aber lachte und sagte nichts darüber.

Sie gelangten endlich an ein prachtvolles Schloß, auf welches der Mann zuging. »Wohnst du hier, Petit-Caporal?« fragte Almansor.

»Hier ist meine Wohnung«, entgegnete jener, »und ich will dich zu meiner Frau führen.«

»Ei, da wohnst du schön!« fahr Almansor fort. »Gewiß hat dir der Sultan hier freie Wohnung gegeben?«

»Diese Wohnung habe ich vom Kaiser, du hast recht«, antwortete sein Begleiter und führte ihn in das Schloß. Dort stiegen sie eine breite Treppe hinan, und in einem schönen Saal hieß er ihn seinen Korb absetzen und trat dann mit ihm in ein prachtvolles Gemach, wo eine Frau auf einem Diwan saß. Der Mann sprach mit ihr in einer fremden Sprache, worauf sie beide nicht wenig lachten, und die Frau fragte dann Almansor in fränkischer Sprache vieles über Ägypten. Endlich sagte Petit-Caporal zu dem Jüngling: »Weißt du, was das beste ist? Ich will dich gleich selbst zum Kaiser führen und bei ihm für dich sprechen.«

Almansor erschrak sehr; aber er gedachte an sein Elend und seine Heimat. »Dem Unglücklichen«, sprach er zu den beiden, »dem Unglücklichen verleiht Allah einen hohen Mut in der Stunde der Not; er wird auch mich armen Knaben nicht verlassen. Ich will es tun, ich will zu ihm gehen. Aber sage, Caporal, muß ich vor ihm niederfallen? Muß ich die Stirne mit dem Boden berühren? Was muß ich tun?«

Die beiden lachten von neuem und versicherten, dies alles sei nicht nötig.

»Sieht er schrecklich und majestätisch aus?« fragte er weiter, »hat er einen langen Bart? Macht er feurige Augen? Sage, wie sieht er aus?«

Sein Begleiter lachte von neuem und sprach dann: »Ich will dir ihn lieber gar nicht beschreiben, Almansor, du selbst sollst erraten, welcher es ist. Nur das will ich dir als Kennzeichen angeben: Alle im Saale des Kaisers werden, wenn er da ist, die Hüte ehrerbietig abnehmen; der, welcher den Hut auf dem Kopf behält, der ist der Kaiser.« Bei diesen Worten nahm er ihn bei der Hand und ging mit ihm nach dem Saal des Kaisers. Je näher er kam, desto lauter pochte ihm das Herz, und die Knie fingen ihm an zu zittern, als sie sich der Türe näherten. Ein Bediensteter öffnete die Türe, und da standen in einem Halbkreis wenigstens dreißig Männer, alle prächtig gekleidet und mit Gold und Sternen überdeckt, wie es Sitte ist im Lande der Franken bei den vornehmsten Agas und Bassas der Könige; und Almansor dachte, sein Begleiter, der so unscheinbar gekleidet war, müsse der Geringsten einer sein unter diesen. Sie hatten alle das Haupt entblößt, und Almansor fing nun an, nach dem zu suchen, der den Hut auf dem Kopfe hätte; denn dieser mußte der Kaiser sein. Aber vergebens war sein Suchen. Alle hatten den Hut in der Hand, und der Kaiser mußte also nicht unter ihnen sein; da fiel kein Blick zufällig auf seinen Begleiter, und siehe – dieser hatte den Hut auf dem Kopfe sitzen!

Der Jüngling war erstaunt, betroffen. Er sah seinen Begleiter lange an und sagte dann, indem er selbst seinen Hut abnahm: »Salem aleikum, Petit-Caporal! Soviel ich weiß, bin ich selbst nicht der Sultan der Franken, also kommt es mir nicht zu, mein Haupt zu bedecken; doch du bist der, der den Hut trägt – Petit-Caporal, bist denn du der Kaiser?«.

»Du hast’s erraten«, antwortete jener, »und überdies bin ich dein Freund. Schreibe dein Unglück nicht mir, sondern einer unglücklichen Verwirrung der Umstände zu, und sei versichert, daß du mit dem ersten Schiff in dein Vaterland zurücksegelst. Gehe jetzt wieder hinein zu meiner Frau, erzähle ihr vom arabischen Professor und was du weißt. Die Heringe und den Salat will ich dem Doktor schicken; du aber bleibst für deinen Aufenthalt in meinem Palast.«

So sprach der Mann, der Kaiser war; Almansor aber fiel vor ihm nieder, küßte seine Hand und bat ihn um Verzeihung, daß er ihn nicht erkannt habe; er habe es ihm gewiß nicht angesehen, daß er Kaiser sei.

»Du hast recht«, erwiderte jener lachend, »wenn man nur wenige Tage Kaiser ist, kann man es nicht an der Stirne geschrieben haben.« So sprach er und winkte ihm, sich zu entfernen.

Seit diesem Tage lebte Almansor glücklich und in Freuden.

Den arabischen Professor, von welchem er dem Kaiser erzählte, durfte er noch einigemal besuchen den Doktor aber sah er nicht mehr. Nach einigen Wochen ließ ihn der Kaiser zu sich rufen und kündigte ihm an, daß ein Schiff vor Anker liege, mit dem er ihn nach Ägypten senden wolle. Almansor war außer sich vor Freude; wenige Tage reichten hin, um ihn auszurüsten, und mit einem Herzen voll Dankes und mit Schätzen und Geschenken reich beladen, reiste er vom Kaiser ab ans Meer und schiffte sich ein.

Aber Allah wollte ihn noch länger prüfen, wollte seinen Mut im Unglück noch länger stählen und ließ ihn die Küste seiner Heimat noch nicht sehen. Ein anderes fränkisches Volk, die Engländer, führten damals Krieg mit dem Kaiser auf der See. Sie nahmen ihm alle Schiffe weg, die sie besiegen konnten, und so kam es, daß am sechsten Tage der Reise das Schiff, auf welchem sich Almansor befand, von englischen Schiffen umgeben und beschossen wurde; es mußte sich ergeben, und die ganze Mannschaft wurde auf ein kleineres Schiff gebracht, das mit den anderen weitersegelte. Doch auf der See ist es nicht weniger unsicher als in der Wüste, wo unversehens die Räuber auf die Karawanen fallen und totschlagen und plündern. Ein Kaper von Tunis überfiel das kleine Schiff, das der Sturm von den größeren Schiffen getrennt hatte, und – es wurde genommen und alle Mannschaft nach Algier geführt und verkauft.

Almansor kam zwar nicht in so harte Sklaverei als die Christen, weil er ein rechtgläubiger Muselmann war, aber dennoch war jetzt alle Hoffnung verschwunden, die Heimat und den Vater wiederzusehen. Dort lebte er bei einem reichen Manne fünf Jahre und mußte die Blumen begießen und den Garten bauen. Da starb der reiche Mann ohne nahe Erben, seine Besitzungen wurden zerrissen, seine Sklaven geteilt, und Almansor fiel in die Hände eines Sklavenmaklers. Dieser rüstete um diese Zeit ein Schiff aus, um seine Sklaven anderwärts teurer zu verkaufen. Der Zufall wollte, daß ich selbst ein Sklave dieses Händlers war und auf dasselbe Schiff kam, wo auch Almansor sich befand. Dort lernten wir uns kennen, und dort erzählte er mir seine wunderbaren Schicksale. Doch – als wir landeten, war ich Zeuge der wunderbarsten Fügung Allahs; es war die Küste seines Vaterlandes, an welche wir aus dem Boot stiegen, es war der Markt seiner Vaterstadt, wo wir öffentlich ausgeboten wurden, und, o Herr, daß ich es kurz sage, es war sein eigener, sein teurer Vater, der ihn kaufte!

Der Scheik Ali Banu war in tiefes Nachdenken versunken über diese Erzählung; sie hatte ihn unwillkürlich mit sich fortgerissen, seine Brust hob sich, sein Auge glühte, und er war oft nahe daran, seinen jungen Sklaven zu unterbrechen; aber das Ende der Erzählung schien ihn nicht zu befriedigen.

»Er könnte jetzt einundzwanzig Jahre haben, sagst du?« so fing er an zu fragen.

»Herr, er ist in meinem Alter, ein- bis zweiundzwanzig Jahre.«

»Und welche Stadt nannte er seine Geburtsstadt? Das hast du uns noch nicht gesagt.«

»Wenn ich nicht irre«, antwortete jener, »so war es Alessandria!«

»Alessandria!« rief der Scheik. »Es ist mein Sohn; wo ist er geblieben? Sagtest du nicht, daß er Kairam hieß? Hat er dunkle Augen und braunes Haar?«

»Er hat es, und in traulichen Stunden nannte er sich Kairam und nicht Almansor.«

»Aber, Allah! Allah! Sage mir doch, sein Vater hätte ihn vor deinen Augen gekauft, sagst du? Sagte er, es sei sein Vater? Also ist er doch nicht mein Sohn!«

Der Sklave antwortete: »Er sprach zu mir: „Allah sei gepriesen nach so langem Unglück: Das ist der Marktplatz meiner Vaterstadt.“ Nach einer Weile aber kam ein vornehmer Mann um die Ecke; da rief er: „Oh, was für ein teures Geschenk des Himmels sind die Augen! Ich sehe noch einmal meinen ehrwürdigen Vater!“ Der Mann aber trat zu uns, betrachtet diesen und jenen und kauft endlich den, dem dies alles begegnet ist. Da rief er Allah an, sprach ein heißes Dankgebet und flüsterte mir zu: „Jetzt gehe ich wieder ein in die Hallen meines Glückes, es ist mein eigener Vater, der mich gekauft hat.“«

»Es ist also doch nicht mein Sohn, mein Kairam!« sagte der Scheik, von Schmerz bewegt.

Da konnte sich der Jüngling nicht mehr zurückhalten; Tränen der Freude entstürzten seinen Augen, er warf sich nieder vor dem Scheik und rief: »Und dennoch ist es Euer Sohn, Kairam: Almansor; denn Ihr seid es, der ihn gekauft hat.« »Allah, Allah! Ein Wunder, ein großes Wunder!« riefen die Anwesenden und drängten sich herbei; der Scheik aber stand sprachlos und staunte den Jüngling an, der sein schönes Antlitz zu ihm aufhob. »Mein Freund Mustapha!« sprach er zu dem alten Derwisch, »vor meinen Augen hängt ein Schleier von Tränen, daß ich nicht sehen kann, ob die Züge seiner Mutter, die mein Kairam trug, auf seinem Gesicht eingegraben sind. Trete du her und schaue ihn an!«

Der Alte trat herzu, sah ihn lange an, legte seine Hand auf die Stirne des jungen Mannes und sprach: »Kairam! Wie hieß der Spruch, den ich dir am Tage. des Unglücks mitgab ins Lager der Franken?«

»Mein teurer Lehrer!« antwortete der Jüngling, indem er die Hand des Alten an seine Lippen zog, »er hieß: So einer Allah liebt und ein gutes Gewissen hat, ist er auch in der Wüste des Elends nicht allein; denn er hat zwei Gefährten, die ihm tröstend zur Seite gehen.«

Da hob der Alte seine Augen dankend auf zum Himmel, zog den Jüngling herauf an seine Brust und gab ihn dem Scheik und sprach: »Nimm ihn hin! So gewiß du zehn Jahre um ihn trauertest, so gewiß ist es dein Sohn Kairam.«

Der Scheik war außer sich vor Freude und Entzücken; er betrachtete immer von neuem wieder die Züge des Wiedergefundenen, und unleugbar fand er das Bild seines Sohnes wieder, wie er ihn verloren hatte. Und alle Anwesenden teilten seine Freude; denn sie liebten den Scheik, und jedem unter ihnen war es, als wäre ihm heute ein Sohn geschenkt worden.

Jetzt füllte wieder Gesang und Jubel diese Halle wie in den Tagen des Glückes und der Freude. Noch einmal mußte der Jüngling, und noch ausführlicher, seine Geschichte erzählen, und alle priesen den arabischen Professor und den Kaiser und jeden, der sich Kairams angenommen hatte. Man war beisammen bis in die Nacht, und als man aufbrach, beschenkte der Scheik jeden seiner Freunde reichlich, auf daß er immer dieses Freudentages gedenke.

Die vier jungen Männer aber stellte er seinem Sohne vor und lud sie ein, ihn immer zu besuchen, und es war ausgemachte Sache, daß er mit dem Schreiber lesen, mit dem Maler kleine Reisen machen sollte, daß der Kaufmann Gesang und Tanz mit ihm teile und der andere alle Vergnügungen für sie bereiten solle. Auch sie wurden reich beschenkt und traten freudig aus dem Hause des Scheik.

»Wem haben wir dies alles zu verdanken«, sprachen sie untereinander, »wem anders als dem Alten? Wer hätte dies damals gedacht, als wir vor diesem Hause standen und über den Scheik loszogen?«

»Und wie leicht hätte es uns einfallen können, die Lehren des alten Mannes zu überhören«, sagte ein anderer, »oder ihn gar zu verspotten? Denn er sah doch recht zerrissen und ärmlich aus, und wer könne denken, daß dies der weise Mustapha sei?« »Und wunderbar! War es nicht hier, wo wir unsere Wünsche laut werden ließen?« sprach der Schreiber. »Da wollte der eine reisen, der andere singen und tanzen, der dritte gute Gesellschaft haben und ich – Geschichten lesen und hören, und sind nicht alle unsere Wünsche in Erfüllung gegangen? Darf ich nicht alle Bücher des Scheik lesen und kaufen, was ich will?« »Und darf ich nicht seine Tafel zurichten und seine schönsten Vergnügen anordnen und selbst dabeisein?« sagte der andere.

»Und ich, so oft mich mein Herz gelüstet, Gesang und Saitenspiel zu hören oder einen Tanz zu sehen, darf ich nicht hingehen und mir seine Sklaven ausbitten?«

»Und ich«, rief der Maler, »vor diesem Tage war ich arm und konnte keinen Fuß aus dieser Stadt setzen, und jetzt kann ich reisen, wohin ich will.«

»Ja«, sprachen sie alle, »es war doch gut, daß wir dem Alten folgten, wer weiß, was aus uns geworden wäre!«

So sprachen sie und gingen freudig und glücklich nach Hause.