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Der fliegende Koffer

Es war einmal ein Kaufmann, der war so reich, dass er die ganze Straße und beinahe auch noch eine kleine Gasse mit Silbergeld pflastern konnte. Aber das tat er nicht, er wußte sein Geld anders anzulegen. Gab er einen Schilling aus, bekam er einen Taler wieder; so ein Kaufmann war er – und dann starb er.
Der Sohn bekam nun all dies Geld, und er lebte lustig, ging jede Nacht auf Maskerade, machte Papierdrachen aus Reichstalerscheinen und ließ Goldstücke statt flache Steine über die Wasserfläche hüpfen. Auf diese Weise konnte das Geld wohl zu Ende gehen, und das tat es auch. Zuletzt besaß er nicht mehr als vier Schillinge und hatte keine andern Kleider als ein Paar Pantoffeln und einen alten Schlafrock. Jetzt machten sich seine Freunde nichts mehr aus ihm, da sie ja nicht mehr miteinander auf die Straße gehen konnten. Aber einer von ihnen, der gut war, schickte ihm einen alten Koffer und sagte: „Pack ein!“ Ja, das war freilich sehr schön, aber er hatte nichts einzupacken, und so setzte er sich selbst in den Koffer.
Das war ein sonderbarer Koffer! Sobald man auf das Schloß drückte, konnte der Koffer fliegen. Das tat er, wupp, flog er mit dem Kaufmannssohn durch den Schornstein, hoch hinauf über die Wolken, weiter und weiter fort. Es knackte im Boden, und der Kaufmannssohn hatte große Angst davor, der Koffer könne in Stücke gehen, denn dann hätte er einen ordentlichen Purzelbaum geschlagen! Gott bewahr uns! Und so kam er in das Land der Türken. Den Koffer versteckte er im Wald unter den welken Blättern und ging dann in die Stadt hinein. Das konnte er auch recht gut tun, denn bei den Türken gingen ja alle so wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kind. „Sag mal, du Türkenamme“, sprach er sie an „was ist das für ein großes Schloß hier ganz in der Nähe der Stadt? Die Fenster sitzen so hoch!“
„Da wohnt die Tochter des Königs!“ sagte sie. „Es ist ihr prophezeit worden,dass sie sehr unglücklich über einen Geliebten werden wird, und darum darf niemand zu ihr kommen, außer wenn der König und die Königin dabei sind.“
„Danke!“ sagte der Kaufmannssohn. Und darauf ging er hinaus in den Wald, setzte sich in seinen Koffer, flog hinauf auf das Dach und kroch durch das Fenster zur Prinzessin hinein.
Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so schön, dass der Kaufmannssohn sie küssen musste; sie erwachte und war ganz erschrocken. Aber er sagte, er sei der Türkengott, der durch die Luft zu ihr herabgekommen sei, und das gefiel ihr gut.
Dann saßen sie nebeneinander, und er erzählte Geschichten von ihren Augen: das wären die schönsten dunklen Seen und die Gedanken schwämmen darin gleich Meerjungfrauen. Und er erzählte von ihrer Stirn: die wäre ein Schneeberg mit den prächtigen Sälen und Bildern. Und er erzählte vom Storch, der die süßen, kleinen Kinder bringt.
Ja, das waren ein paar schöne Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin und sie sagte gleich ja.
„Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen“, sagte sie, „da sind der König und die Königin bei mir zum Tee. Sie werden sehr stolz darauf sein, dass ich den Türkengott bekomme. Aber sehen Sie zu, dass Sie ein recht schönes Märchen wissen, denn das haben meine Eltern ganz besonders gern; meine Mutter will es moralisch und vornehm haben, und mein Vater lustig, so dass man lachen kann.“
„Ich bringe kein anderes Brautgeschenk als ein Märchen“, sagte er, und dann schieden sie. Aber die Prinzessin gab ihm einen Säbel, der mit Goldstücken besetzt war, und die konnte er besonders gut gebrauchen.
Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und saß dann draussen im Wald und dichtete an einem Märchen. Es sollte bis zum Sonnabend fertig sein, und das ist gar nicht so leicht.
Dann war er fertig, und dann war es Sonnabend.
Der König, die Königin und der ganze Hof wartete bei der Prinzessin mit dem Teewasser. Er wurde so reizend empfangen.
„Wollen Sie nun ein Märchen erzählen!“ sagte die Königin. „Eines, das tiefsinnig und belehrend ist!“
„Aber über das man doch lachen kann!“ sagte der König.
„Jawohl!“ sagte er und erzählte. Da muss man nun gut zuhören.
„Es war einmal ein Bund Schwefelhölzer, die waren so ausserordentlich stolz, weil sie von hoher Herkunft waren. Ihr Stammbaum, das heißt, die große Fichte, von der jedes ein kleines Stäbchen war, sollte ein großer, alter Baum im Wald gewesen sein. Die Schwefelhölzer lagen nun auf einem Brett zwischen einem Feuerzeug und einem alten Eisentopf, und denen erzählten sie nun von ihrer Jugend. `Ja, als wir auf dem grünen Zweig waren´, sagten sie, `da waren wir wahrlich auf dem grünen Zweig. Jeden Morgen und Abend Diamanttee, das war der Tau. Den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn die Sonne schien und alle kleinen Vögel mußten uns Geschichten erzählen. Wir konnten sehr wohl merken, dass wir auch reich waren, denn die Laubbäume, die waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie konnte sich im Sommer und im Winter grüne Kleider leisten. Aber dann kamen die Holzhauer, das war die große Revolution, und unsere Familie wurde zersplittert; der Stammherr bekam eine Stelle als Großmast auf einem prächtigen Schiff, das die Welt umsegeln konnte, wenn es wollte. Die andern Äste kamen nach andern Orten, und wir haben nun die Aufgabe, der niedrigen Menge das Licht anzuzünden; deshalb sind wir vornehmen Leute hierher in die Küche gekommen.´
`Ja, mit mir verhält es sich nun ganz anders!´sagte der eiserne Topf, neben dem die Schwefelhölzer lagen. `Von Anfang an, seit ich in die Welt hinauskam, bin ich viele Male gescheuert und gekocht worden! Ich sorge für das Solide und bin im Grunde genommen der Erste hier im Haus. Meine einzige Freude ist, so nach Tisch rein und nett an meinem Platz zu liegen und mit den Kameraden eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Aber wenn ich vom Wassereimer absehe, der hin und wieder einmal in den Hof hinunterkommt, so leben wir immer in unseren vier Wänden. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der redet so unruhig über die Regierung und das Volk. Ja, neulich war da ein alter Topf, der vor Schreck darüber herabfiel und sich in Stücke schlug! Er ist freisinnig, müssen Sie wissen!´
`Jetzt schwatzt du zu viel!´sagte das Feuerzeug, und der Stahl schlug gegen den Feuerstein, dass er sprühte. `Wollen wir uns nun nicht einen lustigen Abend machen?´
`Ja, lasst uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!´sagten die Schwefelhölzer.
`Nein, ich schätze es nicht, von mir selbst zu sprechen!´sagte der irdene Topf . `Lasst uns eine Abendunterhaltung veranstalten! Ich werde etwas erzählen, was jeder erlebt hat; in das kann man sich so angenehm hineinversetzen, und es ist so vergnüglich. An der Ostsee bei den dänischen Buchen…´
`Das ist ein schöner Anfang!´sagten alle Teller. `Das wird bestimmt eine Geschichte, die uns gefällt!´
`Ja, dort verbrachte ich meine Jugend bei einer ruhigen Familie! Die Möbel wurden poliert, der Fußboden gewaschen, und alle vierzehn Tage wurden reine Gardinen aufgehängt!´
`Wie interessant Sie erzählen!´sagte der Staubbesen. `Man hört gleich, dass es ein Frauenzimmer ist, das erzählt; es geht so etwas Reinliches durch die ganze Geschichte!“
`Ja, das fühlt man!´sagte der Wassereimer, und dann machte er vor Freude einen kleinen Hopser, so dass es auf den Fußboden platschte.
Und der Topf erzählte weiter, und das Ende war ebenso gut wie der Anfang.
Alle Teller klapperten vor Freude, und der Staubbesen nahm grüne Petersilie aus dem Sandloch und bekränzte den Topf, denn er wusste, dass dies die andern ärgern würde. Bekränze ich heute ihn, so bekränzt er morgen mich.
`Nun will ich tanzen!´sagte die Feuerzange und tanzte. Ja, Gott bewahr uns, wie sie das eine Bein in die Höhe strecken konnte! Der alte Stuhlüberzug drüben in der Ecke platzte, als er es sah.`Werde i c h jetzt bekränzt?` fragte die Feuerzange, und das wurde sie.
Es ist doch nur Pöbel, dachten die Schwefelhölzer.
Nun sollte die Teemaschine singen; aber sie sagte, sie sei erkältet. Sie könne nicht, ausser wenn sie koche, aber das war nur aus Vornehmheit. Sie wollte nicht, ausser wenn sie drinnen bei der Herrschaft auf dem Tisch stand.
Drüben am Fenster saß eine alte Schreibfeder, mit der das Mädchen immer schrieb. Es war nichts Merkwürdiges an ihr, ausser dass sie allzu tief ins Tintenfass getaucht war, aber darauf war sie nun stolz. `Wenn die Teemaschine nicht singen will´, sagte die Feder, ´dann kann sie es bleibenlassen! Draussen hängt in einem Bauer eine Nachtigall, die kann singen. Sie hat zwar nichts gelernt, aber darüber wollen wir heute abend nicht schlecht sprechen!´
`Ich finde es höchst unpassend´, sagte der Teekessel, der Küchensänger und ein Halbbruder der Teemaschine war, `dass so ein fremder Vogel angehört werden soll! Ist das patriotisch? Ich will den Marktkorb darüber urteilen lassen!´
`Ich ärgere mich nur´, sagte der Marktkorb.`Ich ärgere mich so gründlich, wie man es sich bloß denken kann! Ist das eine passende Art, einen Abend zu verbringen? Wäre es nicht richtiger, das Haus in Ordnung zu bringen? Ein jeder sollte dann an seinen Platz kommen, und ich würde das ganze Spiel leiten. Das würde etwas anderes werden.!´
`Ja, lasst uns Krach machen!´sagten sie alle zusammen. Im selben Augenblick ging die Tür auf. Es war das Dienstmädchen, und da standen sie still, niemand sagte einen Mucks. Aber es gab nicht einen Topf, der nicht gewusst hätte, was er tun konnte, und wie vornehm er war. Ja, wenn ich gewollt hätte, dachten sie, dann wäre es wahrlich ein lustiger Abend geworden!
Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer und machte mit ihnen Feuer an. Gott, bewahr uns, wie sie sprühten und in Flammen gerieten!
Nun kann doch jeder sehen, dachten sie, dass wir die Ersten sind! Welchen Glanz wir haben, welches Licht! – Und dann waren sie verbrannt.“
„Das war ein schönes Märchen!“ sagte die Königin. „Ich fühlte mich so ganz in der Küche bei den Schwefelhölzern; ja, nun sollst du unsere Tochter haben!“
„Ja, gewiss“, sagte der König, „am Montag sollst du unsere Tochter haben!“ Denn nun sagten sie du zu ihm, da er ja zur Familie gehören sollte.
Die Hochzeit war somit bestimmt, und am Abend vorher wurde die ganze Stadt festlich erleuchtet. Zwiebäcke und Brezeln flogen unter das Volk. Die Gassenbuben standen auf den Zehen, riefen hurra und pfiffen durch die Finger; es war ausserordentlich prachtvoll.
Ja, ich werde wohl auch etwas zum besten geben müssen, dachte der Kaufmannssohn, und dann kaufte er Raketen, Knallerbsen und all das Feuerwerk, was man sich nur denken kann, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft.
Rutsch, wie das zischte und wie das puffte!
Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, dass ihre Pantoffeln ihnen um die Ohren flogen; so eine Lufterscheinung hatten sie zuvor noch nie gesehen. Nun verstanden sie besser, dass es der Türkengott selbst war, der die Prinzessin haben sollte.
Sobald der Kaufmannssohn mit seinem Koffer wieder in den Wald hinunterkam, dachte er: Ich will doch in die Stadt gehen, um zu hören, wie es sich ausgenommen hat! Und es war ja ganz natürlich, dass er dazu Lust hatte.
Nein, wie doch die Leute erzählten! Ein jeder, den er danach fragte, hatte das Feuerwerk auf seine Weise gesehen; aber schön war es für sie alle gewesen.
„Ich sah den Türkengott selbt“, sagte der eine, „er hatte Augen wie glänzende Sterne und einen Bart wie schäumende Wasser!“
„Er flog in einem Feuermantel daher“, sagte ein anderer, „die schönsten Engelskinder guckten aus den Falten hervor!“
Ja, das waren herrliche Dinge, die er da hörte. Und am folgenden Tag sollte er Hochzeit halten.
Nun ging er in den Wald zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen. Aber wo war er? Der Koffer war verbrannt! Ein Funken des Feuerwerks war zurückgeblieben, der Koffer hatte Feuer gefangen, und nun lag er in Asche. Der Kaufmanssohn konnte nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.
Sie stand den ganzen Tag auf dem Dach und wartete; sie wartet noch. Er aber durchwandert die Welt und erzählt Märchen,
doch sie sind nicht mehr so lustig wie das, welches er von den Schwefelhölzern erzählte.

Übertragen aus: Andersens Märchen, Sigbert Mohn Verlag 1959

Der kleine und der grosse Klaus

In einem Dorfe wohnten zwei Leute, die beide denselben Namen hatten. Beide hießen Klaus, aber der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges. Um sie nun voneinander unterscheiden zu können, nannte man den, der vier Pferde besaß, den großen Klaus, und den, der nur ein einziges hatte, den kleinen Klaus. Nun wollen wir hören, wie es den beiden erging, denn es ist eine wahre Geschichte.

Die ganze Woche hindurch mußte der kleine Klaus für den großen Klaus pflügen und ihm sein einziges Pferd leihen, dann half der große Klaus ihm wieder mit allen seinen vieren, aber nur einmal wöchentlich, und das war des Sonntags. Hussa, wie klatschte der kleine Klaus mit seiner Peitsche über alle fünf Pferde! Sie waren ja nun so gut wie sein an dem einen Tage. Die Sonne schien herrlich, und alle Glocken im Kirchturm läuteten zur Kirche, die Leute waren alle geputzt und gingen mit dem Gesangbuch unter dem Arme, den Prediger zu hören, und sie sahen den kleinen Klaus, der mit fünf Pferden pflügte, und er war so vergnügt, daß er wieder mit der Peitsche klatschte und rief: „Hü, alle meine Pferde!“

„So mußt du nicht sprechen“, sagte der große Klaus, „das eine Pferd ist ja nur dein!“ Aber als wieder jemand vorbeiging, vergaß der kleine Klaus, daß er es nicht sagen sollte, und da rief er: „Hü, alle meine Pferde!“

„Nun ersuche ich dich amtlich, dies zu unterlassen“, sagte der große Klaus; „denn sagst du es noch einmal, so schlage ich dein Pferd vor den Kopf, daß es auf der Stelle tot ist.“ „Ich will es wahrlich nicht mehr sagen!“ sagte der kleine Klaus. Aber als da Leute vorbeikamen und ihm guten Tag zunickten, wurde er sehr erfreut und dachte, es sehe doch recht gut aus, daß er fünf Pferde habe, sein Feld zu pflügen, und da klatschte er mit der Peitsche und rief: „Hü, alle meine Pferde!“ „Ich werde deine Pferde hüten!“ sagte der große Klaus, nahm einen Hammer und schlug des kleinen Klaus einziges Pferd vor den Kopf, daß es umfiel und tot war.

„Ach nun habe ich gar kein Pferd mehr!“ sagte der kleine Klaus und fing an zu weinen. Später zog er dem Pferde die Haut ab und ließ sie gut im Winde trocknen, steckte sie dann in einen Sack, den er auf die Schulter warf, und machte sich nach der Stadt auf den Weg, um seine Pferdehaut zu verkaufen.

Er hatte einen sehr weiten Weg zu gehen, mußte durch einen großen, dunklen Wald, und nun wurde es gewaltig schlechtes Wetter. Er verirrte sich gänzlich, und ehe er wieder auf den rechten Weg kam, war es Abend und allzu weit, um zur Stadt oder wieder nach Hause zu gelangen, bevor es Nacht wurde.

Dicht am Wege lag ein großer Bauernhof; die Fensterladen waren draußen vor den Fenstern geschlossen, aber das Licht konnte doch darüber hinausscheinen. „Da werde ich wohl Erlaubnis erhalten können, die Nacht über zu bleiben“, dachte der kleine Klaus und klopfte an.

Die Bauersfrau machte auf; als sie aber hörte, was er wollte, sagte sie, er solle weitergehen, ihr Mann sei nicht zu Hause, und sie nehme keine Fremden herein. „Nun, so muß ich draußen liegenbleiben“, sagte der kleine Klaus, und die Bauersfrau schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Dicht daneben stand ein großer Heuschober, und zwischen diesem und dem Wohnhaus war ein kleiner Geräteschuppen mit einem flachen Strohdache gebaut. „Da oben kann ich liegen“, sagte der kleine Klaus, als er das Dach erblickte; „das ist ja ein herrliches Bett. Der Storch fliegt wohl nicht herunter und beißt mich in die Beine.“ Denn ein Storch hatte sein Nest auf dem Dache.

Nun kroch der kleine Klaus auf den Schuppen hinauf, streckte sich hin und drehte sich, um recht gut zu liegen. Die hölzernen Laden vor den Fenstern schlossen oben nicht zu, und so konnte er gerade in die Stube hineinblicken.

Da war ein großer Tisch gedeckt, mit Wein und Braten und einem herrlichen Fisch darauf; die Bauersfrau und der Küster saßen bei Tische und sonst niemand anders, sie schenkte ihm ein, und er gabelte in den Fisch, denn das war sein Leibgericht.

„Wer doch etwas davon abbekommen könnte!“ dachte der kleine Klaus und streckte den Kopf gerade gegen das Fenster. Einen herrlichen Kuchen sah er auch im Zimmer stehen! Ja, das war ein Fest!

Nun hörte er jemand von der Landstraße her gegen das Haus reiten; das war der Mann der Bauersfrau, der nach Hause kam. Das war ein ganz guter Mann, aber er hatte die wunderliche Eigenheit, daß er es nie ertragen konnte, einen Küster zu sehen; kam ihm ein Küster vor die Augen, so wurde er ganz rasend. Deshalb war es auch, daß der Küster zu seiner Frau hineingegangen war, um ihr guten Tag zu sagen, weil er wußte, daß der Mann nicht zu Hause sei, und die gute Frau setzte ihm dafür das herrlichste Essen vor. Als sie nun den Mann kommen hörten, erschraken sie sehr, und die Frau bat den Küster, in eine große, leere Kiste hineinzukriechen, denn er wußte ja, daß der arme Mann es nicht ertragen konnte, einen Küster zu sehen.

Die Frau versteckte geschwind all das herrliche Essen und den Wein in ihrem Backofen, denn hätte der Mann das zu sehen bekommen, so hätte er sicher gefragt, was es zu bedeuten habe.

„Ach ja!“ seufzte der kleine Klaus oben auf seinem Schuppen, als er all das Essen verschwinden sah. „Ist jemand dort oben?“ fragte der Bauer und sah nach dem kleinen Klaus hinauf. „Warum liegst du dort? Komm lieber mit in die Stube.“ Nun erzählte der kleine Klaus, wie er sich verirrt habe, und bat, daß er die Nacht über bleiben dürfe. „Ja freilich“, sagte der Bauer, „aber wir müssen zuerst etwas zu leben haben!“

Die Frau empfing beide sehr freundlich, deckte einen langen Tisch und gab ihnen eine große Schüssel voll Grütze. Der Bauer war hungrig und aß mit rechtem Appetit, aber der kleine Klaus konnte nicht unterlassen, an den herrlichen Braten, Fisch und Kuchen, die er im Ofen wußte, zu denken.

Unter den Tisch zu seinen Füßen hatte er den Sack mit der Pferdehaut gelegt, die er in der Stadt hatte verkaufen wollen. Die Grütze wollte ihm nicht schmecken, da trat er auf seinen Sack, und die trockene Haut im Sacke knarrte laut.

„St!“ sagte der kleine Klaus zu seinem Sacke, trat aber zu gleicher Zeit wieder darauf; da knarrte es weit lauter als zuvor.

„Ei, was hast du in deinem Sacke?“ fragte der Bauer darauf.

„Oh, es ist ein Zauberer“, sagte der kleine Klaus; „er sagt, wir sollen doch keine Grütze essen, er habe den ganzen Ofen voll Braten, Fische und Kuchen gehext.“

„Ei der tausend!“ sagte der Bauer und machte schnell den Ofen auf, wo er all die prächtigen, leckeren Speisen erblickte, die nach seiner Meinung der Zauberer im Sack für sie gehext hatte. Die Frau durfte nichts sagen, sondern setzte sogleich die Speisen auf den Tisch, und so aßen beide vom Fische, vom Braten und von dem Kuchen. Nun trat der kleine Klaus wieder auf seinen Sack, daß die Haut knarrte.

„Was sagt er jetzt?“ fragte der Bauer.

„Er sagt“, erwiderte der kleine Klaus, „daß er auch drei Flaschen Wein für uns gehext hat; sie stehen dort in der Ecke beim Ofen!“

Nun mußte die Frau den Wein hervorholen, den sie verborgen hatte, und der Bauer trank und wurde lustig. Einen solchen Zauberer, wie der kleine Klaus im Sacke hatte, hätte er gar zu gern gehabt.

„Kann er auch den Teufel hervorhexen?“ fragte der Bauer. „Ich möchte ihn wohl sehen, denn nun bin ich lustig!“

„Ja“, sagte der kleine Klaus, „mein Zauberer kann alles, was ich verlange. Nicht wahr, du?“ fragte er und trat auf den Sack, daß es knarrte.

„Hörst du? Er sagt ja! Aber der Teufel sieht häßlich aus, wir wollen ihn lieber nicht sehen!“

„Oh, mir ist gar nicht bange; wie mag er wohl aussehen?“

„Ja, er wird sich ganz leibhaftig als ein Küster zeigen!“

„Hu!“ sagte der Bauer, „das ist häßlich! Ihr müßt wissen, ich kann nicht ertragen, einen Küster zu sehen! Aber es macht nichts, ich weiß ja, daß es der Teufel ist, so werde ich mich wohl leichter darein finden! Nun habe ich Mut, aber er darf mir nicht zu nahe kommen.“

„Ich werde meinen Zauberer fragen“, sagte der kleine Klaus, trat auf den Sack und hielt sein Ohr hin.

„Was sagt er?“

„Er sagt, Ihr könnt hingehen und die Kiste aufmachen, die dort in der Ecke steht, so werdet Ihr den Teufel sehen, wie er darin kauert; aber Ihr müßt den Deckel halten, daß er nicht entwischt.“

„Wollt Ihr mir helfen, ihn zu halten?“ bat der Bauer und ging zu der Kiste hin, wo die Frau den Küster verborgen hatte, der darin saß und sich sehr fürchtete. Der Bauer öffnete den Deckel ein wenig und sah unter ihn hinein. „Hu!“ schrie er und sprang zurück. „Ja, nun habe ich ihn gesehen, er sah ganz aus wie unser Küster! Das war schrecklich!“

Darauf mußte getrunken werden, und so tranken sie denn noch lange in die Nacht hinein.

„Den Zauberer mußt du mir verkaufen“, sagte der Bauer; „verlange dafür, was du willst! Ja, ich gebe dir gleich einen ganzen Scheffel Geld!“

„Nein, das kann ich nicht!“ sagte der kleine Klaus. „Bedenke doch, wieviel Nutzen ich von diesem Zauberer haben kann.“

„Ach, ich möchte ihn sehr gern haben“, sagte der Bauer und fuhr fort zu bitten.

„Ja“, sagte der kleine Klaus zuletzt, „da du so gut gewesen bist, mir diese Nacht Obdach zu gewähren, so mag es sein. Du sollst den Zauberer für einen Scheffel Geld haben, aber ich will den Scheffel gehäuft voll haben.“

„Das sollst du bekommen“, sagte der Bauer, „aber die Kiste dort mußt du mit dir nehmen; ich will sie nicht eine Stunde länger im Hause behalten; man kann nicht wissen, vielleicht sitzt er noch darin.“

Der kleine Klaus gab dem Bauer seinen Sack mit der trocknen Haut darin und bekam einen ganzen Scheffel Geld, gehäuft gemessen, dafür. Der Bauer schenkte ihm sogar noch einen großen Karren, um das Geld und die Kiste darauf fortzufahren.

„Lebe wohl!“ sagte der kleine Klaus. Dann fuhr er mit seinem Gelde und der großen Kiste, worin noch der Küster saß, davon.

Auf der andem Seite des Waldes war ein großer, tiefer Fluß; das Wasser floß so reißend darin, daß man kaum gegen den Strom anschwimmen konnte; man hatte eine große, neue Brücke darüber geschlagen; der kleine Klaus hielt mitten auf ihr an und sagte ganz laut, damit der Küster in der Kiste es hören könne: „Was soll ich doch mit der dummen Kiste machen? Sie ist so schwer, als ob Steine drin wären! Ich werde nur müde davon, sie weiterzufahren; ich will sie in den Fluß werfen; schwimmt sie zu mir nach Hause, so ist es gut, wo nicht, so hat es auch nichts zu sagen.“

Darauf faßte er die Kiste mit der einen Hand an und hob sie ein wenig auf, gerade als ob er sie in das Wasser werfen wollte.

„Nein, laß das sein!“ rief der Küster innerhalb der Kiste. „Laß mich erst heraus!“

„Hu!“ sagte der kleine Klaus und tat, als fürchte er sich. „Er sitzt noch darin! Da muß ich ihn geschwind in den Fluß werfen, damit er ertrinkt!“

„O nein, o nein!“ sagte der Küster; „ich will dir einen ganzen Scheffel Geld geben, wenn du mich gehen läßt!“

„Ja, das ist etwas anderes!“ sagte der kleine Klaus und machte die Kiste auf.

Der Küster kroch schnell heraus, stieß die leere Kiste in das Wasser hinaus und ging nach seinem Hause, wo der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld bekam; einen hatte er von dem Bauer erhalten, nun hatte er also seinen ganzen Karren voll Geld.

„Sieh, das Pferd erhielt ich ganz gut bezahlt!“ sagte er zu sich selbst, als er zu Hause in seiner eigenen Stube war und alles Geld auf einen Berg mitten in der Stube ausschüttete. Das wird den großen Klaus ärgern, wenn er erfährt, wie reich ich durch ein einziges Pferd geworden bin; aber ich will es ihm doch nicht geradeheraus sagen.“

Nun sandte er einen Knaben zum großen Klaus hin, um sich ein Scheffelmaß zu leihen.

„Was mag er wohl damit machen wollen?“ dachte der große Klaus und schmierte Teer auf den Boden, damit von dem, was gemessen wurde, etwas daran hängen bleiben könnte. Und so kam es auch; denn als er das Scheffelmaß zurückerhielt, hingen drei Taler daran.

„Was ist das?“ sagte der große Klaus und lief sogleich zu dem kleinen. „Wo hast du all das Geld bekommen?“

„Oh, das ist für meine Pferdehaut! Ich verkaufte sie gestern abend.“

„Das war wahrlich gut bezahlt!“ sagte der große Klaus, lief geschwind nach Hause, nahm eine Axt und schlug alle seine vier Pferde vor den Kopf, zog ihnen die Haut ab und fuhr mit diesen Häuten zur Stadt.

„Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?“ rief er durch die Straßen.

Alle Schuhmacher und Gerber kamen gelaufen und fragten, was er dafür haben wolle.

„Einen Scheffel Geld für jede“, sagte der große Klaus.

„Bist du toll?“ riefen alle. „Glaubst du, wir haben das Geld scheffelweise?“

„Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?“ rief er wieder, aber allen denen, die ihn fragten, was die Häute kosten sollten erwiderte er: „Einen Scheffel Geld.“

„Er will uns foppen“, sagten alle, und da nahmen die Schuhmacher ihre Spannriemen und die Gerber ihre Schurzfelle und fingen an, auf den großen Klaus loszuprügeln.

„Häute! Häute!“ riefen sie ihm nach; „ja, wir wollen dir die Haut gerben!

Hinaus aus der Stadt mit ihm!“ riefen sie, und der große Klaus mußte laufen, was er nur konnte. So war er noch nie durchgeprügelt worden.

„Na“, sagte er, als er nach Hause kam, „dafür soll der kleine Klaus bestraft werden! Ich will ihn totschlagen!“

Zu Hause beim kleinen Klaus war die alte Großmutter gestorben; sie war freilich recht böse und schlimm gegen ihn gewesen, aber er war doch betrübt, nahm die tote Frau und legte sie in sein warmes Bett, um zu sehen, ob sie nicht zum Leben zurückkehren werde. Da sollte sie die ganze Nacht liegen, er selbst wollte im Winkel sitzen und auf einem Stuhle schlafen; das hatte er schon früher getan. Als er da in der Nacht saß, ging die Tür auf, und der große Klaus kam mit einer Axt herein; er wußte wohl, wo des kleinen Klaus Bett stand, ging gerade darauf los und schlug nun die alte Großmutter vor den Kopf, denn er glaubte, daß der kleine Klaus dort in seinem Bett liege.

„Sieh“, sagte er, „nun sollst du mich nicht mehr zum besten haben!“ Und dann ging er wieder nach Hause.

„Das ist doch ein recht böser Mann!“ sagte der kleine Klaus; „da wollte er mich totschlagen! Es war doch gut für die alte Mutter, daß sie schon tot war, sonst hätte er ihr das Leben genommen!“

Nun legte er der alten Großmutter Sonntagskleider an, lieh sich von dem Nachbar ein Pferd, spannte es vor den Wagen und setzte die alte Großmutter auf den hintersten Sitz, so daß sie nicht hinausfallen konnte, wenn er fuhr, und so rollten sie von dannen durch den Wald. Als die Sonne aufging, waren sie vor einem großen Wirtshause, da hielt der kleine Klaus an und ging hinein, um etwas zu genießen.

Der Wirt hatte sehr viel Geld, er war auch ein recht guter, aber hitziger Mann, als wären Pfeffer und Tabak in ihm.

„Guten Morgen!“ sagte er zum kleinen Klaus. „Du bist heute früh ins Zeug gekommen!“

„Ja“, sagte der kleine Klaus, „ich will mit meiner Großmutter zur Stadt; sie sitzt draußen auf dem Wagen, ich kann sie nicht in die Stube hereinbringen. Wollt Ihr der Alten nicht ein Glas Kümmel geben? Aber Ihr müßt recht laut sprechen, denn sie hört nicht gut.“

„Ja, das will ich tun!“ sagte der Wirt und schenkte ein großes Glas Kümmel ein, mit dem er zur toten Großmutter hinausging, die in dem Wagen aufrecht gesetzt war.

„Hier ist ein Glas Kümmel von Ihrem Sohne!“ sagte der Wirt, aber die tote Frau erwiderte kein Wort, sondern saß ganz still und teilnahmslos, als ob sie alles nichts anginge.

„Hört Ihr nicht?“ rief der Wirt, so laut er konnte. „Hier ist ein Glas Kümmel von Ihrem Sohne!“

Noch einmal rief er und dann noch einmal, aber da sie sich durchaus nicht rührte, wurde er ärgerlich und warf ihr das Glas in das Gesicht, so daß ihr der Kümmel gerade über die Nase lief und sie hintenüber fiel, denn sie war nur aufgesetzt und nicht festgebunden.

„Heda!“ rief der kleine Klaus, sprang zur Tür heraus und packte den Wirt an der Brust, „da hast du meine Großmutter erschlagen! Siehst du, da ist ein großes Loch in ihrer Stirn!“

„Oh, das ist ein Unglück!“ rief der Wirt und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen; „das kommt alles von meiner Heftigkeit! Lieber, kleiner Klaus, ich will dir einen Scheffel Geld geben und deine Großmutter begraben lassen, als wäre es meine eigene, aber schweige nur still, sonst wird mir der Kopf abgeschlagen, und das wäre mir unangenehm.“

So bekam der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld, und der Wirt begrub die alte Großmutter so, als ob es seine eigene gewesen wäre.

Als nun der kleine Klaus wieder mit dem vielen Gelde nach Hause kam, schickte er gleich seinen Knaben hinüber zum großen Klaus, um ihn bitten zu lassen, ihm ein Scheffelmaß zu leihen.

„Was ist das?“ sagte der große Klaus. „Habe ich ihn nicht totgeschlagen? Da muß ich selbst nachsehen!“ Und so ging er selbst mit dem Scheffelmaß zum kleinen Klaus.

„Wo hast du doch all das Geld bekommen?“ fragte er und riß die Augen auf, als er alles das erblickte, was noch hinzugekommen war.

„Du hast meine Großmutter, aber nicht mich erschlagen!“ sagte der kleine Klaus. „Die habe ich nun verkauft und einen Scheffel Geld dafür bekommen!“

„Das ist wahrlich gut bezahlt!“ sagte der große Klaus, eilte nach Hause, nahm eine Axt und schlug seine alte Großmutter tot, legte sie auf den Wagen, fuhr mit ihr zur Stadt, wo der Apotheker wohnte, und fragte, ob er einen toten Menschen kaufen wollte.

„Wer ist es, und woher habt Ihr ihn?“ fragte der Apotheker.

„Es ist meine Großmutter!“ sagte der große Klaus. „Ich habe sie totgeschlagen, um einen Scheffel Geld dafür zu bekommen!“

„Gott bewahre uns!“ sagte der Apotheker. „Ihr redet irre! Sagt doch nicht dergleichen, sonst könnt Ihr den Kopf verlieren!“ Und nun sagte er ihm gehörig, was das für eine böse Tat sei, die er begangen habe und was für ein schlechter Mensch er sei und daß er bestraft werden müsse. Da erschrak der große Klaus so sehr, daß er von der Apotheke gerade in den Wagen sprang und auf die Pferde schlug und nach Hause fuhr; aber der Apotheker und alle Leute glaubten, er sei verrückt, und deshalb ließen sie ihn fahren, wohin er wollte.

„Das sollst du mir bezahlen!“ sagte der große Klaus, als er draußen auf der Landstraße war, ja, ich will dich bestrafen, kleiner Klaus!“ Sobald er nach Hause kam, nahm er den größten Sack, den er finden konnte, ging hinüber zum kleinen Klaus und sagte: „Nun hast du mich wieder gefoppt; erst schlug ich meine Pferde tot, dann meine alte Großmutter; das ist alles deine Schuld; aber du sollst mich nie mehr foppen!“ Da packte er den kleinen Klaus um den Leib und steckte ihn in seinen Sack, nahm ihn so auf seinen Rücken und rief ihm zu: „Nun gehe ich und ertränke dich!“

Es war ein weiter Weg, den er zu gehen hatte, bevor er zu dem Flusse kam, und der kleine Klaus war nicht leicht zu tragen. Der Weg ging dicht bei der Kirche vorbei; die Orgel ertönte, und die Leute sangen schön darinnen. Da setzte der große Klaus seinen Sack mit dem kleinen Klaus darin dicht bei der Kirchtür nieder und dachte, es könne wohl ganz gut sein, hineinzugehen und einen Psalm zu hören, ehe er weitergehe; der kleine Klaus konnte ja nicht herauskommen, und alle Leute waren in der Kirche. So ging er denn hinein.

„Ach Gott, ach Gott!“ seufzte der kleine Klaus im Sack und drehte und wandte sich, aber es war ihm nicht möglich, das Band aufzulösen. Da kam ein alter, alter Viehtreiber daher, mit schneeweißem Haar und einem großen Stab in der Hand; er trieb eine ganze Herde Kühe und Stiere vor sich her, die liefen an den Sack, in dem der kleine Klaus saß, so daß er umgeworfen wurde.

„Ach Gott!“ seufzte der kleine Klaus, „ich bin noch so jung und soll schon ins Himmelreich!“

„Und ich Armer“, sagte der Viehtreiber, „ich bin schon so alt und kann noch immer nicht dahin kommen!“

„Mache den Sack auf!“ rief der kleine Klaus. „Krieche statt meiner hinein, so kommst du sogleich ins Himmelreich!“

„Ja, das will ich herzlich gern“, sagte der Viehtreiber und band den Sack auf, aus dem der kleine Klaus sogleich heraussprang.

„Willst du nun auf das Vieh achtgeben?“ fragte der alte Mann. Dann kroch er in den Sack hinein, der kleine Klaus band den Sack wieder zu und zog dann mit allen Kühen und Stieren seines Weges.

Bald darauf kam der große Klaus aus der Kirche. Er nahm seinen Sack wieder auf den Rücken, obgleich es ihm schien, als sei der leichter geworden, denn der alte Viehtreiber war nur halb so schwer wie der kleine Klaus. Wie leicht ist er doch zu tragen geworden! Ja, das kommt daher, daß ich einen Psalm gehört habe!“ So ging er nach dem Flusse, der tief und groß war, warf den Sack mit dem alten Viehtreiber ins Wasser und rief hintendrein, denn er glaubte ja, daß es der kleine Klaus sei: „Sieh, nun sollst du mich nicht mehr foppen!“

Darauf ging er nach Hause; aber als er an die Stelle kam, wo die Wege sich kreuzten, begegnete er ganz unerwartet dem kleinen Klaus, der all sein Vieh dahertrieb.

„Was ist das?“ fragte der große Klaus. „Habe ich dich nicht vor kurzer Zeit ertränkt?“

„Ja“, sagte der kleine Klaus, „du warfst mich ja vor einer halben Stunde in den Fluß hinunter!“

„Aber wo hast du all das herrliche Vieh bekommen?“ fragte der große Klaus.

„Das ist Seevieh!“ sagte der kleine Klaus. „Ich will dir die Geschichte erzählen und dir Dank sagen, daß du mich ertränktest, denn nun bin ich reich! Mir war bange, als ich im Sacke steckte, und der Wind pfiff mir um die Ohren, als du mich von der Brücke hinunter in das kalte Wasser warfst. Ich sank sogleich zu Boden, aber ich stieß mich nicht, denn da unten wächst das schönste, weiche Gras. Darauf fiel ich, und sogleich wurde der Sack geöffnet, und das lieblichste Mädchen, in schneeweißen Kleidern und mit einem grünen Kranz um das Haar, nahm mich bei der Hand und sagte: „Bist du da, kleiner Klaus? Da hast du zuerst einiges Vieh; eine Meile weiter auf dem Wege steht noch eine ganze Herde, die ich dir schenken will!“ Nun sah ich, daß der Fluß eine große Landstraße für das Meervolk bildete. Unten auf dem Grunde gingen und fuhren sie gerade von der See her und ganz hinein in das Land, bis wo der Fluß endet. Da waren die schönsten Blumen und das frischeste Gras; die Fische schossen mir an den Ohren vorüber, geradeso wie hier die Vögel in der Luft. Was gab es da für hübsche Leute, und was war da für Vieh, das an den Gräben und Wällen weidete!“

„Aber warum bist du gleich wieder zu uns heraufgekommen?“ fragte der große Klaus. „Das hätte ich bestimmt nicht getan, wenn es so schön dort unten ist.“

„Ja“, sagte der kleine Klaus, „das ist gerade klug von mir gehandelt. Du hörst ja wohl, daß ich dir erzähle: Die Seejungfrau sagte mir, eine Meile weiter auf dem Wege – und mit dem Wege meinte sie ja den Fluß, denn sie kann nirgends Anders hinkommen – stehe noch eine ganze Herde Vieh für mich. Aber ich weiß, was der Fluß für Krümmungen macht, bald hier, bald dort, das ist ein weiter Umweg. Nein, so macht man es kürzer ab, wenn man hier auf das Land kommt und treibt querüber wieder zum Flusse; dabei spare ich eine halbe Meile und komme schneller zu meinem Vieh!“

„Oh, du bist ein glücklicher Mann!“ sagte der große Klaus. „Glaubst du, daß ich auch Seevieh erhielte, wenn ich einmal tief bis auf den Grund des Flusses käme?“

„Ja, das denke ich wohl“, sagte der kleine Klaus, „aber ich kann dich nicht im Sacke zum Flusse tragen, du bist mir zu schwer! Willst du selbst dahingehen und dann in den Sack kriechen, so werde ich dich mit dem größten Vergnügen hineinwerfen.“

„Ich danke dir“, sagte der große Klaus. „Aber erhalte ich kein Seevieh, wenn ich hinunterkomme, so glaube mir, werde ich dich so prügeln, wie du noch nie geprügelt worden bist.“

„Oh nein, mache es nicht so schlimm!“ Und da gingen sie zum Flusse hin. Als das Vieh Wasser erblickte, lief es, so schnell es nur konnte, durstig hinunter zum Trinken.

„Sieh, wie es sich sputet!“ sagte der kleine Klaus. „Es verlangt danach, wieder auf den Grund zu kommen!“

„Ja, hilf mir nur erst“, sagte der große Klaus, „sonst bekommst du Prügel!“ Und so kroch er in den großen Sack, der quer über dem Rücken eines der Stiere gelegen hatte. „Lege einen Stein hinein, ich fürchte, daß ich sonst nicht untersinke“, sagte der große Klaus.

„Es geht schon!“ sagte der kleine Klaus, legte aber doch einen großen Stein in den Sack, knüpfte das Band fest zu, und dann stieß er daran. Plumps! Da lag der große Klaus in dem Flusse und sank sogleich hinunter auf den Grund.

„Ich fürchte, er wird das Vieh nicht finden! Aber er zwang mich ja dazu!“ sagte der kleine Klaus und trieb dann heim mit dem, was er hatte.

Der Prinz im Bärenfell

Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn. Dieser Sohn war sehr gut aussehend, klug und wusste, wie man mit Waffen umgeht. Deshalb schickte sein Vater ihn in den Krieg, den er mit einem anderen Königreich führte.
Der Prinz aber wurde von befeindeten Land entführt und in ein dunkles Verließ geschlossen.
Eines Nachts wurde der Prinz von einer merkwürdigen Stimme geweckt. Es war der Teufel, der ihm einen Pakt anbot um aus seinem Gefängnis zu entkommen. Der Pakt lautete: Der Prinz müsse drei Jahre in einem grässlichen Bärenfell herumwandern und innerhalb dieser drei Jahre ein Mädchen finden, dass sich in ihn verliebt. Der Prinz dachte sich: „Ich bin ein reicher Prinz und es gibt viele Frauen, die mich lieben!“ So willigte er ein. Als Zeichen für den Pakt, gab der Teufel dem Prinzen einen goldenen Ring.
Als der Teufel verschwunden war schlief der Prinz ein und erwachte am nächsten Morgen im Wald. Er war froh frei zu sein und machte sich auf zu seinem Schloss. Doch der König erkannte seinen Sohn nicht, denn der Prinz war von Kopf bis Fuß voller brauner Haare. Also ließ er das Biest aus seinem Königreich verbannen.
Der Prinz verzog sich gedrückt zurück in den Wald, wo er sich in einer kleinen Höhle den ganzen Sommer lang versteckte. Als der Winter kam wurde es sehr kalt in der Höhle und der Prinz wollte Unterschlupf in einem Haus eines gnädigen Stadtbewohners suchen. Erkältet klopfte er an die Türen einiger Häuser, doch als sie den Prinzen sahen stoßen sie panisch die Türen zu. Er setzte sich auf den verschneiten Boden und weinte bitterlich. Da kam ein junges Mädchen vorbei und verkannte sofort, was sich für eine gute Seele und dem hässlichen Äußeren verbarg. Sie nahm ihn mit zu sich nach Hause und pflegte ihn gesund. Nach einiger Zeit sagte der Prinz im Bärenfell zu der jungen Frau:“ Ich danke dir für alles! Aber nun muss ich weiter ziehen. Ich werde aber wieder kommen! Das verspreche ich!“ Er nahm den goldenen Ring des Teufels und zerbrach ihn in zwei Teile, dessen eine Hälfte er dem Mädchen gab.
Als er das Haus gerade verlassen hatte, fiel sein Bärenfell ab und er war frei. Die junge Frau die ihn gepflegt hatte war in ihn verliebt.
Der Prinz rannte nach Hause zu seinem Vater, zog sich sein schönstes Gewand an und fuhr mit seiner Kutsche zurück zu seiner Geliebten. Doch sie erkannte ihn nicht. Da hielt er ihr er ihr die eine Hälfte des Ringes vor und nahm das Mädchen mit auf sein Schloss, wo sie heirateten und bis an ihr Ende glücklich zusammen lebten.

Die Prinzessin auf der Erbse

Hans Christian Andersen: Die Prinzessin auf der Erbse

Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten; aber es sollte eine richtige Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt umher, um eine zu finden, aber überall stimmt etwas nicht. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es richtige Prinzessinnen waren, konnte er nicht recht feststellen. Immer war etwas an ihnen, das nicht so ganz richtig war. So kam er denn wieder heim und war sehr betrübt, denn er wollte so gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends gab es ein fürchterliches Unwetter; es blitzte und donnerte, der Regen strömte herab, es war ganz entsetzlich! Da klopfte es an das Stadttor, und der alte König ging hin, um aufzumachen.
Draußen stand eine Prinzessin. Aber, mein Gott, wie sah sie aus von dem Regen und dem schlimmen Wetter! Das Wasser lief ihr nur so von den Haaren und den Kleidern herunter, und es lief in die Spitzen ihrer Schuhe hinein und an den Absätzen wieder heraus, und dabei sagte sie, dass sie eine wirkliche Prinzessin sei.
Das werden wir schon herausfinden, dachte die alte Königin. Aber sie sagte nichts, ging in das Schlafgemach, nahm das ganze Bettzeug ab und legte eine Erbse auf den Boden des Bettes. Jetzt nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdaunenbetter oben auf die Matratzen.
Dort sollte nun die Prinzessin in der Nacht liegen.
Am Morgen fragte man sie, wie sie geschlafen habe.
„Oh, entsetzlich schlecht!“ sagte die Prinzessin. „Ich habe fast die ganze Nacht kein Auge zugetan! Gott wie´, was wohl im Bett gewesen ist! Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich völlig braun und blau am ganzen Körper bin! Es ist ganz entsetzlich!“ Nun konnten sie sehen, dass es eine richtige Prinzessin war, weil sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdaunenbetten hindurch die Erbse gespürt hatte. So empfindlich konnte niemand sein außer einer wirklichen Prinzessin.
Deshalb nahm sie der Prinz zur Frau, denn jetzt wusste er, dass er eine richtige Prinzessin hatte, und die Erbse kam in die Kunstkammer, wo sie noch heute zu sehen ist, falls sie niemand weggenommen hat.
Sie, das war eine richtige Geschichte!

Die Galoschen des Glücks

In einem der Häuser der Oststraße zu Kopenhagen unweit des Königsneumarktes war einmal eine große Gesellschaft. Die Unterhaltung war ziemlich lebhaft. Unter anderem kam auch die Rede auf das Mittelalter. Einige hielten es für ungleich besser als unsere Zeit, ja der Justizrat Knap glaubte, daß die Zeit des dänischen Königs Hans die schönste und glücklichste gewesen sei. Während all diesem Hin- und Herreden hatten sich zwei Mädchengestalten, eine junge und eine alte, im Vorzimmer niedergelassen, wo die Überzieher, Stöcke, Regenschirme und Überschuhe ihr Unterkommen gefunden hatten. Es waren zwei Fee’n; die jüngste war die Glücksgöttin, die andere aber, welche unendlich ernst aussah, war die Trauer. „Ich muß Dir nun erzählen,“ sagte die Junge zur Alten, „daß mir zu meinem heutigen Geburtstage ein Paar Galoschen anvertraut sind, die ich der Menschheit überbringen soll. Die Galoschen haben die Eigenschaft, daß jeder, der sie trägt, augenblicklich sich an die Stelle oder in die Zeit versetzt sieht, wo er am liebsten leben möchte, der Mensch hienieden also endlich einmal glücklich sein wird. Jetzt stelle ich sie hier an die Tür her; einer vergreift sich wohl und wird somit der Glückliche.“ Mittlerweile war es spät geworden. Der Justizrat Knap, ganz in die Zeit des Königs Hans vertieft, wollte nach Hause, und der Zufall lenkte es so, daß er statt seiner Galoschen die des Glücks erhielt und mit ihnen auf die Oststraße hinaustrat; aber durch die Zauberkraft der Galoschen fand er sich in die Zeit des Königs Hans zurückversetzt und deshalb fand er auf der Straße nichts als Schlamm und Morast, da es in jenen Zeiten noch kein Steinpflaster gab. Ein paar Leute in der Tracht der damaligen Zeit gingen an ihm vorüber. – „Wie sahen denn die aus? Die kommen wohl von einem Maskenball!“ Plötzlich ließ sich Trommelschlag und Pfeifenklang vernehmen. Der Justizrat stutzte und sah nun einen seltsamen Zug vorüberziehen. Der Vornehmste im Zuge war ein hoher Geistlicher, welchen man ihm auf seine erstaunte Frage als den Bischof von Seeland bezeichnete. „Herrgott, das muß ein Spuk sein! Der Bischof von Seeland lebte doch vor 300 Jahren!“ stellte der Justizrat fest. In tiefes Grübeln darüber versunken ging er durch die Oststraße und über den Hohenbrückenplatz. Die Brücke jedoch, die über den Schloßbach führte, war nicht zu finden. Er sah nur ein flaches Ufer. Am besten ist – ich nehme mir eine Droschke! dachte er; aber wo mochten die Droschken halten? Keine war zu sehen. Ich muß mich entschließen, bis nach dem Königsneumarkt zurückzugehen; dort werden wohl Wagen stehen. Sonst komme ich nie nach Christianshafen hinaus! Während er wieder in die Straße einbog, betrachtete er sich die Häuser genauer; die meisten waren von Fachwerk und viele hatten nur ein Strohdach. – „Ich trank doch nur ein einziges Glas Punsch; aber ich kann ihn scheinbar nicht vertragen! Ob ich nun zu unserer Frau Wirtin zurückkehre und ihr erzähle, wie elend ich mich befinde? – Es ist doch entsetzlich! Ich kann die Oststraße nicht wiedererkennen! Alte, elende, baufällige Hütten erblicke ich! Ich muß wirklich sehr krank sein! Aber wo in aller Welt ist meiner Wirtin Haus geblieben? Es ist nicht mehr dasselbe! Aber drinnen sind wenigstens noch Leute wach.“ Endlich stieß er auf eine angelehnte Tür, aus der das Licht durch eine Ritze fiel. Es war eine der in alter Zeit üblichen Herbergen. Den besseren Ständen angehörige Leute, Seeleute, Kopenhagener Bürger und auch einige Gelehrte saßen in lebhaftem Gespräche bei ihren Krügen und gaben auf den Eintretenden nur wenig acht. – „Verzeihen Sie!“ sagte der Justizrat zu der Wirtin, die ihm entgegenkam, „es ist mir plötzlich sehr unwohl geworden. Wollen Sie nicht die Güte haben, mir eine Droschke nach Christianshafen hinaus zu besorgen?“ Die Frau maß ihn von Kopf bis zu den Füßen und zuckte nur mit den Achseln. Der Justizrat meinte, daß sie nicht Dänisch verstände, und wiederholte seinen Wunsch deshalb auf deutsch. Dies, sowie seine Kleider bestärkten die Frau nun darin, daß er ein Ausländer wäre. Daß er krank war, merkte sie bald und brachte ihm deshalb einen Krug Wasser, das einen Beigeschmack nach Seewasser hatte. – „Ist das die heutige Abendzeitungl“ fragte er, als er sah, daß die Frau ein großes Stück Papier fortlegte. Sie verstand nicht, was er meinte, reichte ihm aber das Blatt hinüber. Es war ein Holzschnitt, der eine Lufterscheinung, die sich In der Stadt Köln gezeigt hatte, darstellte. „Das ist sehr alt!“ sagte der Justizrat. „Wie sind Sie nur zu diesem seltenen Blatte gekommen? Es ist sehr interessant, obgleich es nur eine Fabel darstellt. Man erklärt nämlich dergleichen Lufterscheinungen heutigentags mit dem Leuchten des Nordlichts; wahrscheinlich entsteht dieses beim Durchdringen der elektrischen Atmosphäre.“ – Da erhob sich einer vom nächsten Tisch, der seine Rede gehört hattet machte dem Justizrat eine tiefe Verbeugung und sagte mit ehrfurchtsvoller Miene: „Ihr seid gewiß ein höchst gelahrter Mann!“ – „Wir wollen Met und Wein trinken!“ rief jetzt einer der Gäste, „und Ihr, gelahrter Herr, müßt mittrinken!“ Der Justizrat war ganz verzweifelt, und als er eine Stunde lang mit ihnen getrunken und viel „Gelahrtes“ geredet hatte, sagte ihm einer, er wäre betrunken. Wenn er aber bat, einer möge ihm eine Droschke verschaffen, so glaubten alle, er spräche Russisch. Doch der Wunsch heimzukehren, regte sich lebhaft in ihm; er ließ sich unter den Tisch fallen, um so entrinnen zu können. Aber man bemerkte sein Vorhaben, ergriff ihn bei den Füßen, und zu seinem Glücke fielen dabei die Galoschen ab und – mit diesem war die ganze Zauberei verschwunden. – „Du mein Schöpfer. habe ich hier auf der Straße gelegen und geträumt?“ fragte sich der Justizrat, als er wieder ganz bei Besinnung war. Er schaute sich um; nun war ihm wieder alles wohlbekannt. Ihm gerade gegenüber saß ein Wächter und schlief; dem waren die Galoschen vor die Füße gefallen. Zwei Minuten später saß er in einer Droschke und pries laut unsere heutige Zeit, die doch weit besser wäre, als das Mittelalter.

Doch nun höret, wie es dem Wächter erging! Als er die Augen aufschlugt schaute er gerade in den herrlichen Nachthimmel hinauf. Eine Sternschnuppe zog in glänzendem Streifen den Himmel entlang. – „Dort ging sie hin!“ sagte er noch schlaftrunken. „Herrlich müßte es sein, sich solche Dinge mal aus der Nähe anzusehen, vorzüglich den Mond. Sollte es wirklich wahr sein, das wir, wenn wir gestorben sind, von einem Himmelskörper zum anderen fliegen? Es ist sicher nicht so; aber es müßte famos sein. Ach, könnte ich nur einen kleinen Satz hinausmachen; dann könnte mein Körper meinetwegen auf der Treppe liegen bleiben!“ Der Wächter machte eine Anstrengung, um aufzustehen. – „Potztausend, da liegen ja ein Paar Galoschen!“ – und schon hatte er die Glückgaloschen über seine Füße gezogen. Was uns Menschen anlangt, so kennen wir ja alle die Geschwindigkeit der Dampfreisen; wir haben sie entweder auf den Eisenbahnen oder auf einem Schiffe über das Meer hin erprobt. Allein dieses Reisen ist wie die Wanderung des Faultiers oder der Gang der Schnecke im Vergleich zu der Geschwindigkeit der Elektrizität; mit der Schnellpost der Elektrizität bedarf die Seele nur weniger Minuten, um von einem Weltkörper zum anderen zu fliegen. So hatte der Wächter, der eben erst gewünscht hatte, einmal den Mond besuchen zu können, mit den Galoschen an den Füßen, in einigen Sekunden die 52 000 Meilen bis zum Monde zurückgelegt, der wie bekannt aus einem leichteren Stoffe als unsere Erde geschaffen und weich, wie frischgefallener Schnee ist. Er befand sich auf einem der unzählig vielen Ringgebirge; darin lag eine Stadt von eigentümlichem Aussehen. Unsere Erde aber schwebte wie eine große feuerrote Kugel über seinem Haupte. Da gab es gar viele Geschöpfe, die Menschenähnliches hatten; aber sie sahen doch ganz anders aus als wir. Sie hatten auch eine Sprache, welche die Seele des Wächters gar wohl verstand. Sie unterhielten sich über unsere Erde und bezweifelten, daß sie bewohnt sei; denn die Luft müßte daselbst viel zu dicht sein, als daß ein vernünftiges Mondgeschöpf darauf leben könnte. Nur den Mond hielten sie für fähig, als Wohnplatz lebendiger Wesen zu dienen; er wäre im All der eigentliche Körper, auf dem die alten Weltbürger wohnten.

Aber wir dürfen die Oststraße nicht vergessen und wollen nachsehen, wie es dem Körper des Wächters erging. Leblos saß derselbe auf der Treppe. „Wie spät ist es, Wächter?“ fragte ein Vorübergehender. Aber wer nicht antwortete, war der Wächter; deshalb zupfte ihn der Mann ganz sachte an der Nase; und nun war es vorbei mit dem Gleichgewichte. Der Körper lag, so lang er war, da; der Mensch war tot. Man machte Meldung davon, und am Morgen trug man ihn nach dem Krankenhause. Das erste, was man dort tat, war ihm die Galoschen auszuziehen, und flugs kehrte die Seele zurück in die verlassene Menschenhülle. Es kam wieder Leben in den Mann. Er versicherte, es wäre die schrecklichste Nacht seines Lebens gewesen; allein nun sei ja alles glücklich überstanden. Noch den nämlichen Tag durfte er das Krankenhaus verlassen; aber die Galoschen blieben in demselben zurück, allwo sie einem jungen Arzt zu den seltsamsten Abenteuern verhelfen sollten. – Der junge Arzt, der die Galoschen angezogen hatte, war mit ihnen zu seinem Abendvergnügen gegangen. Er wohnte der Vorstellung in einem bekannten Liebhabertheater bei. Durch ein bei diesem Feste vorgetragenes Gedicht angeregt, beschäftigte er sich lebhaft mit dem Gedanken, welche Vorteile es böte, eine Brille zu besitzen, die es gestattete, den Leuten in das Herz hineinzuschauen. – „Ach!“ so seufzte er, „Könnte ich doch sehen, wie es in den Herzen dieser Menschen, die hier vor mir sitzen, aussieht!“ Seht, das genügte für die Galoschen. Sogleich hatte der Mann eine Brille vor den Augen und trat mit seinen Blicken eine höchst ungewöhnliche Reise mitten durch die Herzen der Zuschauer an. Das erste Herz, das er durchwanderte und das einer Dame angehörte, erschien ihm wie ein großer wunderschöner Blumengarten. Aber weiter mußte er in das nächste Herz hinein, das ihm eine dürftige Giebelstube zeigte, in der – trotz Armut Sauberkeit und Zufriedenheit herrschten. Doch nun schlüpfte er ins Herz einer bejahrten Matrone, das einem alten, verfallenen Taubenschlag gleichkam. Ihr Mann stellte oben drauf den Wetterhahn dar; er war nur eine Zierfigur und hatte nichts zu krähen. So durchwanderte er die Herzen aller Anwesenden und mußte oft heftig erschrecken. Als der Mann seine Blicke aus dem letzten Herzen zurückzog, riß er wie betäubt die Brille von seiner Nase! – „Herrgott!“ seufzte er, „man darf nicht in die Herzen seiner Mitmenschen sehen; man könnte schier verzweifeln“. Lange konnte er den Gedanken an dieses Erlebnis nicht loswerden und es kam ihm plötzlich in den Sinn, die Galoschen könnten an dem Zauber Schuld haben; darum lieferte er sie sofort im Fundbüro der Polizei ab.

Hier im Fundbüro geschah es nun, daß einem Schreiber der Irrtum unterlief, seine Galoschen mit denen des Glücks zu vertauschen; warum sollte sich nicht auch einmal ein Polizeischreiber irren können?! Auf dem Heimwege begegnete er einem jungen Dichter, der ihm von einer wunderschönen Sommerreise vorschwärmte. – „Sie haben es doch am besten!“ sagte der Schreiber, „Reisen und Dichten, das muß doch ein herrliches Vergnügen sein!“ Der Dichter und der Schreiber schüttelten sich die Hände, darauf trennten sie sich.“Es ist doch ein eigenes Völkchen, diese Dichter!“ meinte der Schreiber. „Ich möchte wohl solch Dichter sein!“ – Sofort begannen die Zaubergaloschen zu wirken: Ein köstlich lauer Duft aus fremden südlichen Ländern umwehte seine von der dumpfen Polizeistube blassen Wangen. – „Mein Gott! Das ist Frühlingsluft, lachende Sonne! Ich bekomme eine unbändige Lust, zu reisen!“ Er griff in seiner Ekstase nach den Papieren in der Tasche. Doch was er hervor zog, setzte ihn vollends in Erstaunen. „Frau Sigbrith, Trauerspiel in fünf Akten“, las er – „was ist denn das? Habe ich denn dieses Trauerspiel verfaßt? Nein, es muß mir ein Dichter in die Tasche gesteckt haben! Hier ist ja noch ein Brief!“ Ein Schauspieldirektor schrieb – der Brief war durchaus nicht höflich gehalten -, daß das Trauerspiel verworfen sei. „Hm, hm!“ sagte der Schreiber, und sank auf eine Bank nieder. „Ich schlafe und träume wohl!“ Sein Blick fiel auf die zwitschernden Vögel, die munter und lustig von Zweig zu Zweig hüpften. – „Ach,“ seufzte er – der Inhalt des Briefes drückte ihn nieder -, „könnte ich mich doch aus dieser Erdenschwere emporschwingen, wie diese niedliche Lerche dort!“ In demselben Augenblick breiteten sich seine Rockschöße und Armel als Flügel aus, die Kleider wurden zu Federn und die Galoschen zu Krallen. Er bemerkte es sehr wohl und lachte innerlich über seinen komischen Traum. Nun schwang sich der Schreiber als Lerche mit jauchzendem Gezwitscher in die Luft empor.Als er sich wieder auf eine Wiese hinabließ, kamen ihm die Grashalme vor wie hohe Palmenblätter. Das währte nur einen kurzen Augenblick; dann wurde es plötzlich kohlschwarze Nacht um ihn her; ein Knabe hatte seine große Mütze über ihn geworfen. Eine Hand faßte darunter und griff den Schreiber an den Flügeln, so daß er laut piepte: „Unverschämter Bengel! Ich bin Polizeibeamter!“ Allein dem Knaben klang es nur wie: „Piepiep!“ Schnell lief der Knabe mit dem Vogel in das nächste Haus der Gotenstraße. – „Es ist gut, daß ich träume!“ zwitscherte der Schreiber, „sonst würde ich jetzt wirklich grob werden! Erst war ich ein Dichter und jetzt falle ich als Lerche in die Hände eines Lausejungen.“ Doch ehe er sich’s versah, saß er in einem leeren Vogelbauer, das an einem Fenster hing. Neben ihm saßen ein großer grüner Papagei und ein Kanarienvogel, auch in ihren Käfigen. Der Papagei, der Papchen hieß, konnte recht drollig, plaudern. „Nein!“ krächzte er immer zwischen vielem Gerede, „laßt uns doch Menschen sein!“ Das Gezwitscher des Kanarienvogels aber war unverständlich; doch der Schreiber, der jetzt selbst ein Vogel war, verstand jedes Wort. „Du kleiner, grauer einheimischer Vogel!“ trillerte der Kanarienvogel, „Du bist also auch ein Gefangener! In den Wäldern draußen ist es sicher kalt, aber dort wohnt die Freiheit; fliege hinaus! Man hat dein Bauer zu schließen vergessen; das oberste Fenster steht offen. Fliege, fliege!“ Und das tat der Schreiber; husch war er aus dem Bauer. Gerade sprang eine schwarze Katze ins Zimmer herein und machte sofort auf den Schreiber Jagd. Der Kanarienvogel im Bauer flatterte, der Papagei schlug mit den Flügeln und rief endlos: „Laßt uns doch Menschen sein!“ Der Schreiber fühlte einen tödlichen Schreck und flog zum Fenster hinaus, über Häuser und Straßen. Endlich mußte er ein wenig ausruhen. Das gegenüberliegende Haus hatte etwas Heimisches für ihn; ein Fenster stand offen, er flog hinein – es war sein eigenes Zimmer; er setzte sich auf den Tisch. – Da bewegten sich zwei Gestalten im Raum; wir kennen sie beide: Es war die Fee der Trauer und die Botin des Glücks. „Siehst Du“, sagte die Fee der Trauer und zeigte auf den Schreiber, der in sein graues Gefieder geduckt, auf dem Tische saß, „Was für ein Glück, Schwester, brachten Deine Galoschen wohl diesem Menschen?“ – „Du hast recht; es wäre eine traurige Geschichte, wenn dieser Polizeischreiber morgen nicht zeitig auf seinem Büro wäre!“ Damit kamen die beiden, „Trauer“ und „Glück“, überein, den Schreiber zu befreien, und zogen ihm die Galoschen von den Füßen. Der erlöste Schreiber, wieder in menschIicher Gestalt, sprang vom Tisch und wollte sich auf die Galoschen stürzen, um sie zum Fenster hinauszuwerfen. Aber die „Galoschen des Glücks“ waren verschwunden.

Tölpel-hans

Tölpelhans
Hans Christian Andersen

draußen auf dem Lande in einem alten Herrenhof lebte ein Gutsbesitzer, der zwei so kluge Söhne hatte, daß sie um die Tochter des Königs freien wollten und das durften sie, denn dieselbe hatte bekannt machen lassen, daß sie denjenigen zum Gemahl nehmen wollte, der sich am gewandtesten und klügsten mit ihr unterhalten könnte.

Die beiden bereiteten sich nun acht Tage lang vor. Längere Zeit bedurften sie nicht dazu, denn sie hatten Vorkenntnisse und die sind immer nützlich. Der eine wußte das ganze lateinische Lexikon und drei
Jahrgänge der städtischen Zeitung auswendig und zwar rückwärts wie vorwärts. Der andere hatte sich mit sämtlichen Paragraphen aller
Zunftgesetze und mit dem, was jeder Zunftmeister wissen mußte, bekannt gemacht. Auf diese Weise, meinte er, könnte er über Staats- und gelehrte
Sachen mitsprechen. Außerdem verstand er Tragebänder zu sticken, denn er war fein und fingerfertig.

„Ich bekomme die Königstochter!“ sagten sie alle beide, und deshalb gab ihr Vater jedem von ihnen ein schönes Pferd; der, welcher das Lexikon und die Zeitungen auswendig wußte, bekam ein kohlschwarzes, und der, welcher sich zunftmeisterlich gebahren und sticken konnte, erhielt ein milchweißes. Als sie im Hofe zu Pferde steigen wollten, erschien der dritte Bruder, denn es waren ihrer dreie, aber niemand zählte ihn als
Bruder mit, weil er nicht die gleiche erstaunliche Gelehrsamkeit besaß wie die beiden anderen, und alle Welt nannte ihn nur _Tölpelhans_.

„Wo wollt ihr hin, daß ihr euch in den Bratenrock geworfen habt?“ fragte er.

„An den Hof, um mit der Königstochter zu plaudern! Hast du nicht gehört, was im ganzen Lande ausgetrommelt wird?“ und darauf erzählten sie es ihm.

„Potztausend, da muß ich mit dabei sein!“ sagte Tölpelhans, und die
Brüder lachten ihn aus und ritten von dannen.

„Vater, gieb mir ein Pferd!“ rief Tölpelhans. „Ich bekomme solche Lust, mich zu verheiraten. Nimmt sie mich, so nimmt sie mich, und nimmt sie mich nicht, so nehme ich sie doch!“

„Was ist das für ein Geschwätz!“ sagte der Vater. „Dir gebe ich kein
Pferd. Du kannst ja nicht sprechen!“

„Soll ich kein Pferd bekommen,“ sagte Tölpelhans, „so nehme ich den
Ziegenbock, der gehört mir und ist im Stande mich zu tragen!“ Damit setzte er sich rittlings auf den Ziegenbock, stieß ihm die Hacken in die
Seite und sprengte die Landstraße entlang. Hui, wie das ging! „Hier komme ich!“ rief Tölpelhans und darauf sang er, daß es wiederhallte.

Die Brüder ritten aber ganz still voran; sie sprachen kein einziges
Wort, sie mußten alle die guten Einfälle, die sie vorbringen wollten, noch einmal überlegen.

„Halloh! Halloh!“ rief Tölpelhans, „hier komme ich! Seht, was ich auf der Landstraße fand!“ Mit diesen Worten zeigte er ihnen eine tote Krähe, die er gefunden hatte.

„Tölpel!“ fuhren sie ihn an, „was willst du mit derselben?“

„Ich will sie der Königstochter schenken!“

„Ja, thue es!“ sagten sie, lachten und ritten weiter.

Da rief Tölpelhans wieder: „Halloh! Halloh! Hier komme ich! Seht, was ich jetzt gefunden habe!“

Die Brüder wandten sich wieder um, sich den seltenen Schatz anzusehen.
„Tölpel!“ sagten sie, „das ist ja ein alter Holzschuh, von welchem der obere Teil abgegangen ist! Soll die Königstochter den etwa auch haben?“

„Das soll sie!“ sagte Tölpelhans, und die Brüder lachten, ritten weiter und kamen ihm eine große Strecke voraus.

„Halloh! Halloh! Hier bin ich!“ rief Tölpelhans.

„Was hast du wieder gefunden?“ fragten die Brüder.

„Oh!“ sagte Tölpelhans, „es ist eigentlich kein Gesprächsgegenstand! Wie sie sich aber freuen wird, die Königstochter!“

„Pfui!“ sagten die Brüder, „das ist ja Schlamm, der aus dem
Straßengraben ausgeworfen ist.“

„Das stimmt!“ sagte Tölpelhans, „und er ist von der allerfeinsten Art, daß man ihn gar nicht festhalten kann!“ und darauf füllte er sich die
Tasche damit an.

Aber die Brüder ritten, was das Zeug halten wollte, und überholten ihn eine ganze Stunde. Sie hielten an dem Stadtthore, an welchem die Freier, je nach ihrer Ankunft, numeriert und in Reih und Glied gestellt wurden, je sechs in jedem Gliede und so dicht, daß sie kaum die Arme rühren konnten.

Alle übrigen Bewohner des Landes standen rings um das Schloß bis zu den
Fenstern hinauf, um mit anzusehen, wie die Königstochter die Freier empfing. Merkwürdig! Sobald einer derselben die Schwelle ihres Zimmers
überschritt, verließ ihn sein Rednertalent.

„Taugt nichts!“ sagte die Königstochter. „Weg!“

Jetzt kam derjenige der Brüder, der das Lexikon auswendig wußte, aber bei dem langen Stehen in Reih und Glied hatte er es völlig vergessen.
Dazu knarrte der Fußboden und die Decke war von Spiegelglas, so daß er sich selbst auf dem Kopfe sah, und nun standen sogar an jedem Fenster drei Schreiber und ein Stadtältester, die Alles, was gesprochen wurde, aufschrieben, damit es sofort in die Zeitung komme. Es war entsetzlich, es war furchtbar! Und zum Überfluß war im Ofen eingefeuert, daß er glühte.

„Hier herrscht eine drückende Hitze!“ begann der Freier das Gespräch.

„Das kommt daher, weil mein Vater heute junge Hähne bratet!“ sagte die
Königstochter.

Da stand er; nicht ein Wort wußte er zu erwiedern. – Bäh! –

„Taugt nichts!“ sagte die Königstochter. „Weg!“ und so mußte er seiner
Wege ziehen. Nun kam der zweite Bruder.

„Hier ist eine entsetzliche Hitze!“ sagte er.

„Ja, wir braten heute junge Hähne!“ versetzte die Königstochter.

„Wie belie – – “ fragte er, und alle Schreiber schrieben: „Wie belie –
– ?“

„Taugt nichts!“ sagte die Königstochter. „Weg!“

Nun kam Tölpelhans, er ritt auf seinem Ziegenbocke gerade in das Zimmer hinein. „Das ist denn doch eine glühende Hitze!“ sagte er.

„Das rührt davon her, daß ich junge Hähne brate!“ entgegnete die
Königstochter.

„Das wäre ja herrlich!“ sagte Tölpelhans, „dann kann ich wohl auch eine
Krähe gebraten bekommen?“

„Den Gefallen will ich Ihnen gern erweisen!“ erwiederte die
Königstochter, „aber haben Sie auch etwas, worin sie gebraten werden kann, denn ich habe hier weder Topf noch Pfanne!“

„Hier ist ein vortreffliches Kochgeschirr,“ rief Tölpelhans fröhlich, zog den alten Holzschuh hervor und legte die Krähe hinein.

„Aber wo bekommen wir die Sauce her?“ meinte die Königstochter.

„Die habe ich in der Tasche!“ sagte Tölpelhans und darauf schüttete er etwas Schlamm aus der Tasche.

„Du gefällst mir,“ sagte die Königstochter, „du kannst doch antworten und du kannst reden, und dich will ich zu meinem Gemahle erheben! Aber weißt du wohl, daß jedes Wort, das wir sagen und gesagt haben, aufgeschrieben wird und morgen in die Zeitung kommt? An jedem Fenster siehst du drei Schreiber und einen Stadtältesten stehen.“

„Das sind wohl die Herrschaften da!“ versetzte Tölpelhans. „Dann muß ich dem Stadtältesten schon mein Bestes schenken!“ Zugleich wandte er seine
Taschen um und warf ihm den ganzen Schlamm gerade ins Gesicht.

„Da hast du dir gut zu helfen gewußt!“ sagte die Königstochter. „Das hätte ich nicht zu thun vermocht! Aber ich werde es wohl noch lernen!“

Und so wurde Tölpelhans denn König, bekam eine Frau und eine Krone und saß auf einem Throne, und das alles haben wir der Zeitung des
Stadtältesten entnommen – auf die freilich auch kein rechter Verlaß ist.

Die Schneekönigin

Von dem Spiegel und den Scherben

Seht, nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt, denn es war ein böser Kobold! Er war einer der allerärgsten, er war der Teufel. Eines Tages war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, der die Eigenschaft besaß, dass alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu nichts zusammenschwand, aber das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden widerlich oder standen auf dem Kopf ohne Rumpf. Die Gesichter wurden so verdreht, dass sie nicht zu erkennen waren, und hatte man eine Sommersprosse, so konnte man überzeugt sein, dass sie sich über Nase und Mund ausbreitete. Das sei äußerst belustigend, sagte der Teufel. Fuhr nun ein guter, frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, so dass der Teufel über seine künstliche Erfindung lachen musste. Die, welche die Koboldschule besuchten, – denn er hielt Koboldschule, – erzählten überall, dass ein Wunder geschehen sei; nun könnte man erst sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich aussähen. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land und keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin gesehen worden wäre. Nun wollten sie auch zum Himmel selbst auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, umso mehr grinste er; sie konnten ihn kaum festhalten. Sie flogen höher und höher, Gott und Englein näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, dass er ihren Händen entfiel und zur Erde fiel, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke zersprang. Und nun gerade verursachte er weit größeres Unglück als zuvor, denn einge Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn. Diese flogen nun in die weite Welt, und wo jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe behielt dieselben Kräfte, welche der ganze Spiegel besessen hatte. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz, dann aber war es ganz entsetzlich: das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. Einige Spiegelscherben waren so groß, dass sie zu Fensterscheiben verbraucht wurden; aber durch diese Scheiben taugte es nicht, seine Freunde zu betrachten. Andere Stücke kamen in Brillen, und dann ging es schlecht, wenn die Leute diese Brillen aufsetzten, um recht zu sehen und gerecht zu sein. Der Böse lachte, dass ihm der Bauch wackelte, und das kitzelte ihn so angenehm. Aber draußen flogen noch kleine Glasscherben in der Luft umher. Nun, wir werden’s hören.

Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen

Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, dass dort nicht Platz genug ist, damit alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich ebenso gut, als wenn sie es waren. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern. Da, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dachern entlang lief, war in jedem Hause ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zu dem andern gelangen.

Beider Eltern hatten draußen einen großen hölzernen Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie gebrauchten, und ein kleiner Rosenstock. In jedem Kasten stand einer; die wuchsen herrlich. Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, so dass sie fast von dem einen Fenster zum andern reichten und zwei Blumenwallen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten herab, und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegen bogen; es war fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder

wussten, dass sie nicht hinaufkriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubnis, zueinander hinaus zu steigen und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen. Da spielten sie dann prächtig.

Im Winter hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren, aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch entstand ein schönes Gucklock, so rund, so rund. Dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eins vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay, und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie mit einem Sprung zueinander gelangen, im Winter mussten sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee.

„Das sind die weißen Bienen, die schwärmen“, sagte die alte Großmutter.

„Haben sie auch eine Bienenkönigin?“ fragte der kleine Knabe, denn er wusste, dass unter den wirklichen Bienen eine solche ist.

„Die haben sie“, sagte die Großmutter. „Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen. Sie ist die Größte von allen, und nie bleibt sie still auf der Erde; sie fliegt wieder in die schwarzen Wolken hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren diese so sonderbar und sehen wie Blumen aus.“

„Ja, das haben wir gesehen“, sagten beide Kinder und wussten nun, dass es wahr sei.

„Kann die Schneekönigin hier herein kommen?“ fragte das Mädchen.

„Lass sie nur kommen!“ sagte der Knabe; „dann setze ich sie auf den warmen Ofen, und sie schmilzt.“

Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.

Am Abend, als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte durch das kleine Loch. Einige Schneeflocken fielen draußen, und eine, die größte, blieb auf dem Rand des einen Blumenkastens liegen. die Schneeflocke wuchs mehr und mehr und wurde zuletzt eine ganze Jungfrau, in den feinsten weißen Flor gekleidet, der aus Millionen sternartigen Flocken zusammengesetzt war. Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eis. Doch sie war lebendig; die Augen blitzten wie zwei klare Sterne, aber es war keine Ruhe und keine Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhle herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.

Am nächsten Tage wurde es klarer Frost – und dann kam das Frühjahr. Die Sonne schien, das Grün keimte hervor, die Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.

Wie prachtvoll blühten die Rosen diesen Sommer! Das kleine Mädchen hatten einen Psalm gelernt, in dem auch von Rosen die Rede war, und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen, und sie sang ihn dem kleinen Knaben vor, und er sang mit:

„Die Rosen sie verblühn und verwehen, Wir werden das Christkindlein sehen!“

Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küssten die Rosen, blickten in Gottes hellen Sonnenschein hinein und sprachen zu ihm, als ob das Jesuskind da wäre. Was waren das für herrliche Sommertage! Wie schön war es draußen bei den frischen Rosenhecken, die zu blühen nie aufhören zu wollen schienen!

Kay und Gerda sahen in das Bilderbuch mit Tieren und Vögeln, da war es – die Uhr schlug gerade fünf auf dem großen Kirchturm – als Kay sagte: „Au! es stach mich in das Herz, und mir flog etwas ins Auge!“

Das kleine Mädchen fiel ihm um den Hals. Er blinzelte mit den Augen, – nein, es war nichts zu sehen.

„Ich glaube, es ist weg!“ sagte er; aber weg war es doch nicht. Es war gerade so eins von jenen Glaskörnern, die vom Spiegel gesprungen waren, dem Zauberspiegel, – wir entsinnen uns seiner wohl, – dem hässlichen Glas, das alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und hässlich machte, aber das Böse und Schlechte trat recht hervor, und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Kay hatte auch ein Körnchen gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden. Nun tat es nicht mehr weh, aber das Körnchen war da.

„Weshalb weinst du?“ fragte er. „So siehst du hässlich aus! – Mir fehlt ja nichts! – Pfui!“ rief er auf einmal, „die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese da ist ganz schief! Im Grunde sind es hässliche Rosen! Sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen.“ Und dann stieß er mit dem Fuß gegen den Kasten und riss die beiden Rosen ab.

„Kay‘ was machst du?“ rief das kleine Mädchen; und als er ihren Schrecken gewahrte, riss er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein von der kleinen, lieblichen Gerda fort.

Wenn sie später mit dem Bilderbuch kam, sagte er, dass das für Wickelkinder sei, und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem Aber. Konnte er es möglich machen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach ebenso wie sie; das machte er ganz treffend, und die Leute lachten über ihn. Bald konnte er die Sprache und den Gang aller Menschen in der ganzen Straße nachahmen. Alles, was an ihnen eigentümlich und unschön war, das wusste Kay nachzuahmen. Und die Leute sagten: „Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!“ Aber es war das Glas, welches ihm im Herzen saß; daher kam es auch, dass er selbst die kleine Gerda neckte, die ihm doch von ganzem Herzen gut war.

Seine Spiele wurden nun anders als früher, sie wurden ganz verständig. – An einem Wintertag, als es schneite, kam er mit einem großen Brennglas‘ hielt seinen blauen Rockzipfel heraus und ließ die Schneeflocken darauf fallen.

„Sieh nur in das Glas, Gerda!“ sagte er, und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. „Siehst du, wie künstlich!“ sagte Kay. „Das ist weit interessanter als die wirklichen Blumen! Und es ist kein einziger Fehler daran; sie sind ganz regelmäßig. Wenn sie nur nicht schmelzen würden!“

Bald darauf kam Kay mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken. Er rief Gerda in die Ohren: „Ich habe die Erlaubnis erhalten, auf dem großen Platz zu fahren, wo die andern Knaben spielen!“ und weg war er.

Dort auf dem Platze banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest, und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit. Das ging recht schön. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß jemand in einen rauhen, weißen Pelz gehüllt und mit einer rauhen, weißen Mütze auf dem Kopf. Der Schlitten fuhr zweimal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße. Der, welcher fuhr, drehte sich um und nickte dem Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander kennten. Jedes Mal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten abbinden wollte, nickte der Fahrende wieder, und dann blieb Kay sitzen. Sie fuhren zum Stadttor hinaus. Da begann

der Schnee so dicht niederzufallen, dass der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte; aber er fuhr weiter. Nun ließ er schnell die Schnur fahren, um von dem großen Schlitten loszukommen, doch das half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest, und es ging mit Windeseile vorwärts. Da rief er ganz laut, aber niemand hörte ihn, und der Schnee stob, und der Schlitten flog von dannen. Mitunter gab es einen Sprung; es war, als führe er über Gräben und Hecken. Der Knabe war ganz erschrocken; er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des großen Einmaleins entsinnen.

Die Schneeflocken wurden größer und größer; zuletzt sahen sie aus, wie große, weiße Hühner. Auf einmal sprangen sie zur Seite, der große Schlitten hielt, und die Person, die ihn fuhr, erhob sich. Der Pelz und die Mütze waren ganz und gar von Schnee. Es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß: Es war die Schneekönigin.

„Wir sind gut gefahren!“ sagte sie; „aber du wirst wohl frieren! Krieche unter meinen Pelz!“ Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; es war, als versänke er in einem Schneetreiben.

„Friert dich noch?“ sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. Oh, das war kälter als Eis; das ging ihm hinein bis ins Herz, das ja schon zur Hälfte ein Eisklumpen war. Es war, als sollte er sterben, aber nur einen Augenblick, dann tat es ihm recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte ringsumher.

„Meinen Schlitten! Vergiß nicht meinen Schlitten!“ Daran dachte er zuerst, und der wurde an einem der weißen Hühnchen festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küsste Kay nochmals, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und alle daheim vergessen.

„Nun bekommst du keine Küsse mehr“, sagte sie, „denn sonst küsste ich dich tot!“

Kay sah sie an: Sie war so schön. Ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken. Nun erschien sie ihm nicht von Eis wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen; er fühlte gar keine Furcht. Er erzählte ihr, dass er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; er wisse des Landes Quardratmeilen und die Einwohnerzahl; und sie lächelte immer. Da kam es ihm vor, als wäre es doch nicht genug, was er wisse, und er blickte hinauf in den großen Luftraum. Und sie flog mit ihm hoch hinauf auf die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste; es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder. Unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte, über ihnen flogen die schwarzen, schreienden Krähen, aber hoch oben schien der Mond groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht; am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.

Der Blumengarten bei der Frau, die zaubern konnte

Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er geblieben? Niemand wusste es, niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, dass sie ihn seinen Schlitten an einen andern großen hätten binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadttor gefahren wäre. Niemand wusste, wo er geblieben. Viele Tränen flossen, besonders die kleine Gerda weinte sehr viel und lange; – dann sagte sie, er sei tot, er sei im Fluss ertrunken, der nahe bei der Schule vorbeifloss. Oh, das waren recht lange, finstere Wintertage!

Nun kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein.

„Kay ist tot und fort“, sagte die kleine Gerda. „Das glaube ich nicht“, antwortete der Sonnenschein.

„Er ist tot und fort“, sagte sie zu den Schwalben.

„Das glauben wir nicht“, erwiderten diese, und am Ende glaubte die kleine Gerda es auch nicht.

„Ich will meine neuen, roten Schuhe anziehen“, sagte sie eines Morgens,

„die, welche Kay nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und den nach ihm fragen!“

Und es war noch sehr früh; sie küsste die alte Großmutter, die noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging allein aus dem Stadttor nach dem Fluss.

„Ist es wahr, dass du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine roten Schuhe schenken, wenn du ihn mir wiedergeben willst.“

Und es war ihr, als nickten die Wellen ganz sonderbar. Da nahm sie ihre roten Schuhe, die sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluss hinein. Aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land; es war gerade, als wollte der Fluss das Liebste, was sie hatte, nicht, weil er den kleinen Kay nicht hatte. Aber sie glaubte nun, dass sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe, und so kroch sie in ein Boot, das im Schilf lag. Sie ging bis an das äußerste Ende und warf die Schuhe von da in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, die sie verursachte, glitt es vom Land ab. Sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen, doch ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Eile vom Land, und nun trieb es schneller von dannen.

Da erschrak die kleine Gerda sehr und fing an zu weinen; allein niemand außer den Sperlingen hörte sie, und konnten sie nicht an das Land tragen, aber sie flogen längs dem Ufer und sangen, gleichsam um sie zu trösten: „Hier sind wir, hier sind wir!“

Das Boot trieb mit dem Strom Die kleine Gerda saß ganz still nur mit Strümpfen an den Füßen; ihre kleinen roten Schuhe trieben hinter ihr her, aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte schnellere Fahrt.

Hübsch war es an beiden Ufern: schöne Blumen, Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen, aber nicht ein Mensch war zu erblicken.

„Vielleicht trägt mich der Fluss zu dem kleinen Kay hin“, dachte Gerda, und da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die grünen, schönen Ufer. Dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, in dem ein kleines Haus mit sonderbaren roten und blauen Fenstern war; übrigens hatte es ein Strohdach, und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.

Gerda rief nach ihnen, sie glaubte, dass sie lebendig wären; aber sie antworteten natürlich nicht. Sie kam ihnen ganz nahe, denn der Fluss trieb das Boot gerade auf das Land zu.

Gerda rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückstock stützte. Sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.

„Du armes, kleines Kind“, sagte die alte Frau, „wie bist du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen und weit in die Welt hinausgetrieben?“ Und dann ging die alte Frau in das Wasser hinein, erfasste mit ihrem Krückstock das Boot, zog es ans Land und hob die kleine Gerda heraus.

Und Gerda war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.

„Komm doch und erzähle mir, wer du bist, und wie du hierher kommst!“ sagte sie.

Und Gerda erzählte ihr alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopf und sagte: „Hm! Hm!“ Und als ihr Gerda alles gesagt und sie gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Kay gesehen habe, sagte die Frau, dass er nicht vorbeigekommen sei, aber er komme wohl noch; sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten, die wären schöner als irgendein Bilderbuch; eine jede könne eine Geschichte erzählen. Dann nahm sie Gerda bei der Hand, führte sie in das kleine Haus hinein und schloss die Tür zu.

Die Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren rot, blau und gelb; das Tageslicht schien mit allen Farben sonderbar herein. Auf dem Tisch standen die schönsten Kirschen, und Gerda aß davon, so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie aß, kämmte die alte Frau ihr das Haar mit einem goldenen Kamm, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich gelb rings um das kleine freundliche Antlitz, das so rund war und wie eine Rose aussah.

„Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt“, sagte die Alte. „Nun wirst du sehen, wie gut wir miteinander leben werden!“ Und so wie sie der kleinen Gerda Haar kämmte, vergaß diese mehr und mehr ihren Pflegebruder Kay‘ denn die alte Frau konnte zaubern; aber eine böse Zauberin war sie nicht, sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträuche aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, möchte sie in ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kay erinnern und davonlaufen.

Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und für eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier im prächtigsten Flor; kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freude hoch und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirchbäumen unterging; da bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die waren mit Veilchen gestopft, und sie schlief und träumte da ganz herrlich.

Am nächsten Tag konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen, und so verflossen viele Tage. Gerda kannte jede Blume; aber wie viele deren auch waren, so war es ihr doch, als ob eine fehlte, allein welche, das wusste sie nicht. Da saß sie eines Tages und betrachtete den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hute wegzuwischen‘ als sie die andern in die Erde zauberte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht beisammen hat! „Was, sind hier keine Rosen?“ sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte. Ach, da war keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte; aber ihre Tränen fielen gerade auf die Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Tränen die Erde benetzten, schoss der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war, und Gerda umarmte ihn, küsste die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kay.

„Oh, wie bin ich aufgehalten worden!“ sagte das kleine Madchen. „Ich wollte ja den kleinen Kay suchen! – Wisst ihr nicht, wo er ist?“ fragte sie die Rosen. „Glaubt ihr, er ist tot?“

Tot ist er nicht“, antworteten die Rosen. „Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Toten, aber Kay war nicht da.“

„Ich danke euch!“ sagte die kleine Gerda und ging zu den andern Blumen hin, sah in deren Kelch hinein und fragte: „Wisst ihr nicht, wo der kleine Kay ist?“

Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen; davon hörte Gerda so viele, viele, aber keine wusste etwas von Kay.

Und was sagte die Feuerlilie?

„Hörst du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne; immer, bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. – In ihrem langen, roten Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiterhaufen. Die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor, aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?“

„Das verstehe ich nicht“, sagte die kleine Gerda.

„Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie.

Was sagte die Winde?

„Über dem schmalen Fußweg hängt eine alte Ritterburg. Das dichte Immergrün wächst um die morschen, roten Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und steht den Weg entlang. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als sie; keine Apfeiblüte, wenn der Wind sie dem Baume entführt, schwebt leichter dahin als sie. Wie rauschte das prächtige Seidengewand! ,Kommt er noch nicht?“‚

„Ist es Kay, den du meinst?“ fragte die kleine Gerda.

„Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traum“, erwiderte die Winde.

Was sagte die kleine Schneeblume?

„Zwischen den Bäumen hängt an Seilen das lange Brett; das ist eine Schaukel. Zwei niedlich kleine Mädchen – die Kleider sind weiß wie der Schnee, und lange, dünne Seidenbänder flattern von den Hüten – sitzen darauf und schaukeln sich. Der Bruder, welcher größer ist als sie, steht in der Schaukel. Er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hat er eine kleine Schale, in der an dem eine Tonpfeife; er bläst Seifenblasen. Die Schaukel fliegt, und die Blasen steigen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiel und wiegt sich im Winde. Die Schaukel schwebt; der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen und will mit in die Schaukel; sie fliegt, der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen platzen. – Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!“

„Es ist möglich, dass es hübsch ist, was du erzählst, aber du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay nicht.“

Was sagten die Hyazinthen?

„Es waren drei schöne Schwestern, durchsichtig und fein. Der einen Kleid war rot, der andern Kleid blau, der dritten Kleid weiß; Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im hellen Mondschein. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es so süß, und die Mädchen verschwanden im Wald. Der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanneswürmchen flogen leuchtend ringsumher, wie kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen oder sind sie tot? – Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abend- glocke läutet den Grabgesang!“

„Du machst mich ganz betrübt“, sagte die kleine Gerda. „Du duftest so stark; ich muss an die toten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Kay wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen und sagen:

Nein!“

„Kling, Klang!“ läuteten die Hyazinthenglocken. „Wir läuten nicht für den kleinen Kay, wir kennen ihn nicht; wir singen nur unser Lied, das einzige, das wir wissen.“

Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien.

„Du bist eine kleine, helle Sonne“, sagte Gerda. „Sage mir, weißt du, wo ich meinen Gespielen finden kann?“

Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gerda. Welches Lied konnte wohl die Butterblume singen? Es handelte auch nicht von Kay.

„In einem kleinen Hofe schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage so warm. Die Strahlen glitten an des Nachbarhauses weißen Wänden herab. Dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte

Ogolden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl; die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen, kehrte von einem kurzen Besuche heim: sie küsste die Großmutter; es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kuss. Gold im Mund, Gold im Grund, Gold in der Morgenstund! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!“ sagte die Butterblume.

„Meine arme alte Großmutter!“ seufzte Gerda. „Ja, sie sehnt sich gewiss nach mir und grämt sich um mich, ebenso wie sie es um den kleinen Kay tat. Aber ich komme bald wieder nach Hause, und dann bringe ich Kay mit. – Es nützt nichts, dass ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied, sie geben mir keinen Bescheid!“ Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher laufen könne. Aber die Pfingstlilie schlug an ihr Bein, indem sie darüber hinsprang; da blieb sie stehen, betrachtete die lange gelbe Blume und fragte: „Weißt du vielleicht etwas?“ Und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie hinab; und was sagte die?

„Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!“ sagte die Pfingstlilie. „Oh, oh, wie ich rieche! – Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht halb angekleidet, eine kleine Tänzerin. Sie steht bald auf einem Bein, bald auf beiden; sie tritt die ganze Welt mit Füßen; sie ist nichts als Augentäuschung. Sie gießt Wasser aus dem Teetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält: Es ist der Schnürleib. – Reinlichkeit ist eine schöne Sache; das weiße Kleid hängt am Haken; das ist auch im Teetopf gewaschen und auf dem Dach getrocknet; sie zieht es an und schlägt das safrangelbe Tuch um den Hals; nun scheint das Kleid noch weißer. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiel prangt! Ich kann mich selbst erblicken. Ich kann mich selbst sehen!“

„Darum kümmere ich mich gar nicht!“ sagte Gerda. „Das brauchst du mir nicht zu erzählen!“ – und dann lief sie bis an das Ende des Gartens.

Die Tür war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke; so dass diese losbrach. Die Tür ging auf, und die kleine Gerda sprang mit nackten Füßen in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber niemand war da, der sie verfolgte. Zuletzt konnte sie nicht mehr laufen und setzte sich auf einen großen Stein. Und als sie sich umsah, war es mit dem Sommer vorbei; es war Spätherbst; das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.

„Gott, wie habe ich mich verspätet!“ sagte die kleine Gerda. „Es ist ja Herbst geworden!“ Und sie erhob sich, um zu gehen.

Oh, wie waren ihre kleinen Füße so wund und müde! Ringsumher sah es kalt und rau aus. Die langen Weidenblätter waren ganz gelb, und der Tau tröpfelte als Wasser nieder; ein Blatt nach dem andern fiel ab; nur der Schlehdorn trug noch Früchte, die waren aber herb und zogen den Mund zusammen. Oh, wie war es grau und kalt in der weiten Welt!

Prinz und Prinzessin

Gerda musste wieder ausruhen. Da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe; die hatte lange gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopfe gewackelt. Nun sagte sie:

„Krah! Krah! – Gu’Tag! Gu’Tag!“ Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und fragte, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge. Das Wort allein verstand Gerda sehr wohl und fühlte recht, wie viel darin lag; und sie erzählte der Krähe ihr ganzes Leben und Schicksal und fragte, ob sie Kay nicht gesehen habe.

Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: „Das könnte sein! Das könnte sein!“

„Wie? Glaubst du?“ rief das kleine Mädchen und hatte fast die Krähe totgedrückt, so küsste sie diese.

„Vernünftig, vernünftig!“ sagte die Krähe. „Ich glaube, ich weiß; – ich glaube, es kann sein; der kleine Kay – aber nun hat er dich sicher über der Prinzessin vergessen!“

„Wohnt er bei einer Prinzessin?“ fragte Gerda.

„Ja, höre!“ sagte die Krähe. „Aber es fällt mir so schwer, deine Sprache zu sprechen. Verstehst du die Krähensprache? Dann will ich besser erzählen.“

„Nein, die habe ich nicht gelernt“, sagte Gerda; „aber die Großmutter verstand sie, und auch sprechen konnte sie diese Sprache. Hätte ich sie nur gelernt!“

„Tut gar nichts!“ sagte die Krähe. „Ich werde erzählen, so gut ich kann; aber schlecht wird es gehen.“ Dann erzählte sie, was sie wusste.

„In dem Königreich, in dem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz unbändig klug; aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Neulich saß sie auf dem Thron, und das ist doch nicht so angenehm, wie man sagt; da fing sie an, ein Lied zu singen, und das war dieses: ,Weshalb sollt‘ ich mich nicht verheiraten?‘ Höre, das ist etwas daran“, sagte die Krähe, „und so wollte sie sich verheiraten. Aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstehe, wenn man mit ihm spreche, einen, der nicht bloß dastehe und vornehm aussehe, denn das sei zu langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. Du kannst glauben, dass jedes Wort wahr ist“, fügt die Krähe hinzu. „Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt.“

Die Geliebte war natürlich auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und es bleibt immer eine Krähe.

„Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rand von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus. Man konnte darin lesen, dass es einem jeden jungen Mann, der gut aussehe, freistehe, auf das Schloss zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen; und derjenige, welcher so spreche, dass man hören könne, er sei dort zu Hause, und der am besten spreche, den wolle die Prinzessin zum Manne nehmen. – Ja, ja“, sprach die Krähe, „du kannst es mir glauben, es ist so gewiss wahr, wie ich hier sitze. Junge Männer strömten herzu, es war ein Gedränge und ein Laufen: aber es glückte weder am ersten, noch am zweiten Tag. Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schlosstor traten und die Gardisten in Silber sahen und die Treppen hinauf die Lakaien in Gold und die großen erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt. Und standen sie gar vor dem Thron, wo die Prinzessin saß, dann wussten sie nichts zu sagen, als das letzte Wort, das sie gesprochen hatte; und das noch einmal zu hören, dazu hatte sie keine Lust. Es war, als ob die Leute drinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen, dann erst konnten sie wieder sprechen. Da stand eine Reihe vom Stadttor an bis zum Schloss. – Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!“ sagte die Krähe! „Sie wurden hungrig und durstig, aber im Schloss erhielten sie nicht einmal ein Glas Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten Butterbrot mitgenommen, aber sie teilten nicht mit ihrem Nachbarn; sie dachten: Lass ihn hungrig aussehen, dann nimmt ihn die Prinzessin nicht!“

„Aber Kay‘ der kleine Kay!“ fragte Gerda. „Warum kam der? War er unter der Menge?“

„Warte, warte! Jetzt sind wir bei ihm! Es war am dritten Tag, da kam eine kleine Person, ohne Pferd und Wagen, fröhlich gerade auf das Schloss zu marschiert; seine Augen glänzten wie deine, er hatte schönes langes Haar, aber sonst ärmliche Kleider.“

„Das war Kay!“ jubelte Gerda. „Oh, dann habe ich ihn gefunden!“ und sie klatschte in die Hände. „Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken“, sagte die Krähe.

„Nein, das war sicher sein Schlitten“, sagte Gerda, „denn mit dem Schlitten ging er fort!“

„Das kann wohl sein“, sagte die Krähe, „ich sah nicht so genau danach! Aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten, dass, als er in das Schlosstor kam und die Leibgardisten in Silber sah und die Treppe hinauf die Lakaien in Gold, er nicht im mindesten verlegen wurde. Er nickte und sagte zu ihnen: ,Das muss langweilig sein, auf der Treppe zu stehen; ich gehe lieber hinein!‘ Da glänzten die Säle von Lichtern, Geheimräte und Exzellenzen gingen mit entblößten Füßen und trugen Goldgefäße: Man konnte wohl andächtig werden! Seine Stiefel knarrten gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange.“

„Das ist ganz gewiss Kay!“ sagte Gerda. „Ich weiß, er hat neue Stiefel an; ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören.“

„Ja freilich knarrten sie!“ sagte die Krähe. „Und frischen Muts ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, die so groß wie ein Spinnrad war, und alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern‘ und alle Kavaliere mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt, und je näher sie der Tür standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Dieners Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen, – so stolz steht er in der Tür!“

„Das muss greulich sein!“ sagte die kleine Gerda. „Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?“

„Wäre ich nicht eine Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, selbst dessen‘ ungeachtet, dass ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben wie ich, wenn ich die Krähensprache spreche: Das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich. Er war nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören; und die fand er gut und sie fand ihn wieder gut.“

„Ja sicher, das war Kay!“ sagte Gerda. „Er war so klug: Er konnte im Kopfe mit Brüchen rechnen. – Oh, willst du mich nicht auf dem Schloss einführen?“

„Ja, das ist leicht gesagt!“ antwortete die Krähe. „Aber wie machen wir das? Ich werde es mit meiner zahmen Geliebten besprechen, sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muss ich dir sagen: So ein kleines Mädchen‘ wie du bist, bekommt nie die Erlaubnis, hineinzukommen.“

„Ja, die erhalte ich!“ sagte Gerda. „Wenn Kay hört, dass ich da bin, kommt er gleich heraus und holt mich.“

„Erwarte mich dort am Gitter!“ sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopfe und flog davon.

Erst als es spät am Abend war, kehrte die Krähe wieder zurück. Krah, krah!“ sagte sie. „Ich soll dich vielmals von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für dich. Sie nahm es aus der Küche, dort ist Brot genug, und du bist gewiss hungrig. – Es ist nicht möglich, dass du in das Schloss hineinkommen kannst: Du bist ja barfuss. Die Gardisten in Silber und die Lakaien in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht, du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine schmale Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wie sie den Schlüssel erhalten kann.“

Sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo ein Blatt nach dem andern abfiel. Und als auf dem Schloss die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer Hintertür, die nur angelehnt war.

Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war, als ob sie etwas Böses tun wollte, und sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er musste es sein. Sie gedachte so lebendig seiner klugen Augen, seines langes Haares; sie konnte sehen, wie er lächelte wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh sein, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen seien, als er nicht wiederkam. Oh, das war eine Furcht und eine Freude!

Nun waren sie auf der Treppe, da brannte eine kleine Lampe auf dem Schrank. Mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gerda, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.

„Mein Verlobter hat mir so viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein“, sagte die zahme Krähe. „Ihr Lebenslauf, wie man es nennt, ist auch sehr rührend. Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg‘ denn da begegnen wir niemand.“

„Es ist mir, als käme jemand hinter uns her“, sagte Gerda, und es sauste an ihr vorbei. Es war wie Schatten an der Wand: Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.

„Das sind nur Träume“, sagte die Krähe, „die kommen und holen der hohen Herrschaften Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bett betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, werden Sie ein dankbares Herz zeigen.“

„Das versteht sich von selbst“, sagte die Krähe vom Walde.

Nun kamen sie in den ersten Saal, der war aus rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf. Hier sausten an ihnen schon die Träume vorbei, aber sie ritten so schnell, dass Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere; ja, man konnte wohl verdutzt werden. Nun waren sie im Schlafgemach. Hier glich die Decke einer großen Palme mit Blättern von kostbarem Glas, und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stengel aus Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Die eine war weiß, in der lag die Prinzessin; die andere war rot, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eins der roten Blätter zur Seite, da sah sie einen braunen Nacken. – Oh, das war Kay! – Sie rief laut seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin – die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube hinein – er erwachte, drehte den Kopf um, und es war nicht der kleine Kay.

Der Prinz glich ihm nur im Nacken, aber jung und hübsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor und fragte, wer da wäre. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie getan hatten.

„Du armes Kind“!“ sagten der Prinz und die Prinzessin, und sie lobten die Krähen und sagten, dass sie nicht böse auf sie seien, aber sie sollten es ja nicht öfter tun; übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.

„Wollt ihr frei fliegen?“ fragte die Prinzessin. „Oder wollt ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben mit allem, was in der Küche abfällt?“

Und beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten: „Es wäre schön, etwas für die alten Tage zu haben“, wie sie es nannten.

Und der Prinz stand aus seinem Bett auf und ließ Gerda darin schlafen, mehr konnte er nicht tun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: „Wie gut sind doch die Menschen und die Tiere!“ – Dann schloss sie ihre Augen und schlief sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen, sie sahen wie Engel Gottes aus und zogen einen kleinen Schlitten, nauf dem Kay saß und nickte; aber das Ganze war nur ein Traum, und deshalb war es auch wieder fort, sobald sie erwachte.

Am folgenden Tage wurde sie vom Kopf bis zu den Füßen in Seide und Samt gekleidet. Es wurde ihr angeboten, auf dem Schlosse zu bleiben und gute Tage zu genießen, aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd und um ein Paar Stiefelchen, dann wollte sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.

Und sie erhielt sowohl Stiefelchen als auch Muff und wurde niedlich gekleidet. Als sie fort wollte, hielt vor der Tür eine neue Kutsche aus reinem Gold. Des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte daran wie ein Stern, Kutscher, Diener und Vorreiter – denn es waren auch Vorreiter da – saßen mit Goldkronen auf dem Kopf zu Pferde. Der Prinz und die Prinzessin halfen ihr selbst in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht vertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Tür und schlug mit den Flügeln; sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie eine feste Anstellung und zu viel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitze waren Früchte und Pfeffernüsse.

„Lebe wohl! Lebe wohl!“ rief der Prinz und die Prinzessin, und die kleine Gerda weinte, und die Krähe weinte. – So ging es die ersten drei Meilen, da sagte auch die Krähe Lebewohl‘ und das war der schwerste Abschied. Sie flog auf einen Baum und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, solange sie den Wagen, der wie der helle Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.

Das kleine Räubermädchen

Sie fuhren durch den dunklen Wald, aber die Kutsche leuchtete wie eine Fackel. Das stach den Räubern in die Augen, das konnten sie nicht ertragen.

„Das ist Gold, das ist Gold!“ riefen sie, stürzten hervor, ergriffen die Pferde, schlugen die kleinen Jockeys, den Kutscher und die Diener tot und zogen dann die kleine Gerda aus dem Wagen.

„Sie ist fett, sie ist niedlich, sie ist mit Nussernen gefüttert“, sagte das alte Räuberweib, das einen langen, struppigen Bart und Augenbrauen hatte, die ihr über die Augen herabhingen.

„Sie ist so gut wie ein kleines, fettes Lamm; wie soll die schmecken!“ Und dann zog sie ihr blankes Messer heraus, das glänzte, dass es grässlich war.

„Au!“ sagte das Weib zu gleicher Zeit; sie wurde von der eigenen Tochter, die gar wild und unartig auf ihrem Rücken hing, in das Ohr gebissen. „Du hässliches Balg!“ sagte die Mutter und hatte nicht Zeit, Gerda zu schlachten.

„Sie soll mit mir spielen“, sagte das kleine Räubermädchen. „Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben, bei mir in meinem Bett schlafen.“ Und dann biss sie wieder, dass das Räuberweib in die Höhe sprang und sich ringsherum drehte. Und alle Räuber lachten und sagten: „Sieh, wie es mit seinem Kalb tanzt!“

„Ich will in den Wagen hinein“, sagte das kleine Räubermadchen. Sie musste und wollte ihren Willen haben, denn sie war ganz verzogen und sehr hartnäckig. Sie und Gerda saßen drinnen und fuhren über Stock und Stein tiefer in den Wald hinein. Das kleine Räubermädchen war so groß wie Gerda, aber stärker, breitschultriger und von dunkler Haut; die Augen waren schwarz und sahen fast traurig aus. Sie fasste die kleine Gerda um den Leib und sagte: „Sie sollen dich nicht schlachten, solange ich dir nicht böse werde. Du bist wohl eine Prinzessin?“

„Nein“, sagte Gerda und erzählte alles, was sie erlebt hatte, und wie sehr sie den kleinen Kay lieb hätte.

Das Räubermädchen betrachtete sie ganz ernsthaft, nickte ein wenig mit dem Kopf und sagte: „Sie sollen dich nicht schlachten, selbst wenn ich dir böse werde; dann werde ich es schon selbst tun!“ Und dann trocknete sie Gerdas Augen und steckte ihre beiden Hände in den schönen Muff, der weich und warm war.

Nun hielt die Kutsche: Sie waren mitten auf dem Hofe eines Räuberschlosses. Dieses war von oben bis unten geborsten. Raben und Krähen flogen aus den offenen Löchern, und die großen Bullenbeißer, von denen jeder aussah, als könne er einen Menschen verschlingen, sprangen hoch empor, aber sie bellten nicht, denn das war verboten.

In dem großen, alten, verräucherten Saal brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein helles Feuer. Der Rauch zog unter der Decke hin und musste sich selbst den Ausweg suchen. Ein großer Braukessel mit Suppe kochte, Hasen und Kaninchen wurden am Spieß gebraten.

„Du sollst diese Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Tieren schlafen“, sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken Lind gingen dann nach einer Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Oben darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber noch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.

„Die gehören alle mir“, sagte das kleine Räubermädchen und ergriff rasch eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, dass sie mit den Flügeln schlug. „Küsse sie!“ rief sie und schlug sie Gerda ins Gesicht. „Da sitzen die Waldkanaillen“‚ fuhr sie fort und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loch oben in die Mauer eingeschlagen waren. „Das sind Waldkanaillen, die beiden; die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht recht verschlossen hält. Und hier steht mein alter Liebster‘ Bä!“ Und sie zog ein Renntier am Geweih hervor, das einen blanken kupfernen Ring um den Hals trug und angebunden war. „Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzele ich ihn mit meinem scharfen Messer am Hals, davor fürchtet er sich sehr.“ Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Renntiers Hals hingleiten. Das arme Tier schlug mit den Beinen aus, das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gerda mit in das Bett hinein.

„Willst du das Messer behalten, wenn du schläfst?“ fragte Gerda und blickte etwas furchtsam nach diesem hin.

„Ich schlafe immer mit dem Messer“, sagte das kleine Räubermädchen. „Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber erzähle mir nun wieder, was du mir vorhin von dem kleinen Kay erzähltest, und weshalb du in die weite Welt hinausgegangen bist.“ Und Gerda erzählte wieder von vorn, und die Waldtauben gurrten oben im Käfig, aber die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte seinen Arm um Gerdas Hals, hielt das Messer in der andern Hand und schlief, dass man es hören konnte. Aber Gerda konnte ihre Augen durchaus nicht schließen; sie wusste nicht, ob sie leben oder sterben sollte. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib überpurzelte sich. Oh, dies mit anzusehen, war ganz grässlich für das kleine Mädchen.

Da sagten die Waldtauben: „Gurre! Gurre! Wir haben den kleinen Kay gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten; er saß im Wagen der Schneekönigin, der dicht über den Wald hinfuhr‘ als wir im Nest lagen. Sie blies auf uns junge Tauben, und außer uns beiden starben alle. Gurre! Gurre!“

„Was sagt ihr dort oben?“ rief Gerda. „Wohin reiste die Schneekönigin? Wisst ihr etwas davon?“

„Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland‘ denn dort ist immer Schnee und Eis. Frage das Renntier, das am Strick angebunden steht.“

„Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!“ sagte das Renntier. „Dort springt man frei umher in den großen glänzenden Tälern. Dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzeit, aber ihr bestes Schloss ist oben, gegen den Nordpol hin, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird.“

„O Kay‘ kleiner Kay!“ seufzte Gerda.

„Du musst still liegen“, sagte das Räubermädchen, „sonst stoße ich dir das Messer in den Leib!“

Am Morgen erzählte Gerda ihr alles, was die Waldtauben gesagt hatten, und das kleine Räubermädchen sah ernsthaft aus, nickte mit dem Kopf und sagte: „Das ist einerlei! Das ist einerlei! – Weißt du, wo Lappland ist? Frage das Renntier!“

„Wer könnte es wohl besser wissen als ich?“ sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopf. „Dort bin ich geboren und erzogen; dort bin ich auf den Schneefeldern umhergesprungen.“

„Höre“, sagte das Räubermädchen zu Gerda, „du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort; nur die Mutter ist noch hier, und die bleibt. Aber gegen Mittag trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert nachher ein wenig, – dann werde ich etwas für dich tun.“ Nun sprang sie aus dem Bett, fuhr der Mutter um den Hals, zog sie am Bart und sagte:

„Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!“ Und die Mutter gab ihr Nasenstüber, dass die Nase rot und blau wurde, und das geschah alles aus lauter Liebe.

Als die Mutter dann aus ihrer Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Renntier hin und sagte: „Ich könnte große Freude daran haben, dich noch manches mal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist du so possierlich, aber es ist einerlei. Ich will deine Schnur lösen und dir hinaushelfen, damit du nach Lappland laufen kannst; aber du musst tüchtig Beine machen und dieses kleine Mädchen zum Schloss der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört, was sie erzählte, denn sie sprach laut genug, und du horchtest.“

Das Renntier sprang vor Freuden hoch auf. Das Räubermädchen hob die kleine Gerda hinauf und hatte die Vorsicht, sie festzubinden, ja, ihr sogar ihr kleines Kissen als Sitz mitzugeben. „Da hast du auch deine Pelzstiefel“, sagte sie, „denn es wird kalt; aber den Muff behalte ich, der ist zu niedlich. Darum sollst du aber doch nicht frieren. Hier hast du meiner Mutter große Fausthandschuhe, die reichen dir gerade bis zu den Ellbogen hinauf. Kriech hinein! – Nun siehst du an den Händen ebenso aus wie meine hässliche Mutter.“

Und Gerda weinte vor Freude.

„Ich kann nicht leiden, dass du grinsest“, sagte das kleine Räubermädchen. „Jetzt musst du gerade recht froh aussehen! Und hier hast du zwei Brote und einen Schinken, nun wirst du nicht hungern.“ Beides wurde hinten auf das Renntier gebunden. Das kleine Räubermädchen öffnete die Tür, lockte alle die großen Hunde herein, durchschnitt dann den Strick mit dem scharfen Messer und sagte zum Renntier: „Lauf nun! Aber gib recht auf das kleine Mädchen acht!“

Und Gerda streckte die Hände mit den großen Fausthandschuhen gegen das Räubermädchen aus und sagte: „Lebewohl!“ Dann jagte das Renntier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald, über Sümpfe und Steppen, so schnell es nur konnte. Die Wölfe heulten und die Raben schrieen. – „Fut! Fut!“ ging es am Himmel. Es war, als sprühe der Himmel Feuer.

„Das sind meine alten Nordlichter“, sagte das Renntier., „sieh wie sie leuchten!“ Und nun lief es noch schneller davon, Tag und Nacht. Die Brote wurden verzehrt, der Schinken auch – und dann waren sie in Lappland.

Die Lappin und die Finnin

Bei einem kleinen Hause hielten sie an. Es war sehr armselig, das Dach hing bis zur Erde herab, und die Tür war so niedrig, dass die Familie kriechen musste, wenn sie heraus oder hinein wollte. Hier war außer einer alten Lappin, die bei einer Tranlampe Fische kochte, niemand im Hause. Das Renntier erzählte Gerdas ganze Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese schien ihm weit wichtiger; und Gerda war so angegriffen von der Kälte, dass sie nicht sprechen konnte.

„Ach, ihr Armen!“ sagte die Lappin, „da habt ihr noch weit zu laufen. Ihr müsst über hundert Meilen in Finnmarken hinein, denn da wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde einige Worte auf einen trockenen Stockfrisch schreiben – Papier habe ich nicht – den werde ich euch für die Finnin dort oben mitgeben, sie kann euch besser Bescheid geben als ich.“

Und als Gerda nun erwärmt war und zu essen und zu trinken bekommen hatte, schrieb die Lappin einige Worte auf einen trockenen Stockfisch, bat Gerda, wohl darauf zu achten, band sie wieder auf dem Renntier fest, und dieses sprang davon. „Fut, Fut!“ ging es oben in der Luft; die ganze Nacht brannten die schönsten blauen Nordlichter – und dann kamen sie nach Finnmarken und klopften an den Schornstein der Finnin, denn sie hatte nicht einmal eine Tür.

Da drinnen war eine Hitze, dass die Finnin fast nackt ging; sie war klein und schmutzig. Gleich löste sie die Kleider der kleinen Gerda und zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, den sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Renntier ein Stück auf den Kopf und las dann, was auf dem Stockfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, da wusste sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn er konnte ja gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.

Nun erzählte das Renntier zuerst seine Geschichte, dann die der kleinen Gerda, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber nichts.

„Du bist sehr klug“, sagte das Renntier; „ich weiß, du kannst alle Winde der Welt mit einem Zwirnsfaden zusammenbinden. Wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht er scharf, und löst er den dritten und vierten, so stürmt es, dass die Wälder umfallen. Willst du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, dass sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?“

„Zwölf-Männer-Kraft?“ sagte die Finnin. „Ja, das würde viel helfen!“ Dann ging sie nach einem Bett, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, dass ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.

Aber das Renntier bat wieder so sehr für die kleine Gerda, und Gerda blickte die Finnin mit so bittenden Augen voll Tränen an, dass sie abermals mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Renntier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:

„Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und findet dort alles nach seinem Geschmack und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Aber das kommt daher, dass er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat. Die müssen erst heraus, sonst wird er nie wieder ein Mensch, und die

Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten.“

„Aber kannst du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, dass sie Gewalt über das Ganze erhält?“

„Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt. Siehst du nicht, wie groß die ist? Siehst du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie mit nackten Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten, die besitzt sie in ihrem Herzen; die besteht darin, dass sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Kay bringen, dann können wir nicht helfen. Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst du das kleine Mädchen tragen. Setze sie beim großen Busch ab, der mit roten Beeren im Schnee steht; halte keinen Gevatterklatsch‘ sondern spute dich, hierher zurückzukommen!“ Und dann hob die Finnin die kleine Gerda auf das Renntier, das lief, was er konnte.

„Oh, ich habe meine Stiefel nicht! Ich habe meine Fausthandschuhe nicht!“ rief die kleine Gerda. Das merkte sie in der schneidenden Kälte, aber das Renntier wagte nicht anzuhalten, es lief, bis es zu dem Busch mit den roten Beeren gelangte. Da setzte es Gerda ab und küsste sie auf den Mund, und es liefen große, blanke Tränen über des Tieres Backen; und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand die arme Gerda ohne Schuhe, ohne Handschuhe, mitten in dem fürchterlichen, eiskalten Finnmarken.

Sie lief vorwärts, so schnell sie nur konnte. Da kam ein Regiment Schneeflocken, aber die fielen nicht vom Himmel herab, der war hell und glänzte von Nordlichtern. Die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde hin, und ja näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gerda erinnerte sich noch, wie groß und künstlich die Schneeflocken damals ausgesehen hatten, als sie dieselben durch ein Brennglas betrachtete. Aber hier waren sie freilich noch größer und fürchterlicher, sie lebten, sie waren der Schneekönigin Vorposten. Sie hatten die sonderbarsten Gestalten: einige sahen aus wie hässliche, große Stachelschweine, andere wie Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten, noch andre wie kleine, dicke Bären, auf denen das Haar sich sträubte; alle waren glänzend weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.

Da betete die kleine Gerda ihr Vaterunser. Die Kälte war so groß, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte, er ging ihr wie Rauch aus dem Mund. Der Atem wurde dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten; und alle hatten Helme auf dem Kopf und Spieße und Schilde in den Händen. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gerda ihr Vaterunser beendet hatte, war eine ganze Legion um sie. Sie stachen mit ihren Spießen gegen die greulichen Schneeflocken, so dass diese in hundert Stücke zersprangen, und die kleine Gerda ging sicher und frohen Mutes vorwärts. Die Engel streichelten ihre Hände und Füße, da empfand sie weniger, wie kalt es war, und eilte nach der Schneekönigin Schloss.

Aber nun müssen wir doch erst sehen, was Kay macht. Er dachte freilich nicht an die kleine Gerda, am wenigsten, dass sie draußen vor dem Schloss stehe.

Von dem Schloss der Schneekönigin, und was sich später darin zutrug

Des Schlosses Wände waren gebildet aus treibendem Schnee und Fenster und Türen aus den schneidenden Winden. Es waren über hundert Säle darin, alle, wie sie der Schnee zusammenwehte. Der größte erstreckte sich mehrere Meilen weit. Das glänzende Nordlicht beleuchtete sie alle, und wie groß und leer, wie eisig kalt und glänzend waren sie! Nie gab es hier Lustbarkeiten, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm hätte aufspielen und wobei die Eisbären hätten auf den Hinterfüßen gehen und ihre feinen Manieren zeigen können; nie eine kleine Spielgeselischaft mit Haschen und Tatzenschlag; nie einen kleinen Kaffeeklatsch von Weißen-Fuchs-Fräulein: Leer, groß und kalt war es in der Schneekönigin Sälen. Die Nordlichter flammten so genau, dass man zählen konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren, unendlichen Schneesaal war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke zersprungen, aber jedes Stück war dem andern gleich, dass es ein vollkommenes Kunstwerk war. Mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war; dann sagte sie, dass sie im Spiegel des Verstandes säße, und dass dieser der einzige und der beste in der Welt sei.

Der kleine Kay war blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er merkte es doch nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer weggeküsst, und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er schleppte einige scharfe, flache Eisstücke hin und her, die er auf alle mögliche Weise aneinander fügte, denn er wollte damit etwas herausbringen. Es war, als ob wir kleine Tafeln haben und diese zu Figuren zusammenlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Kay tat dies auch und legte Figuren, und zwar die künstlichsten. Das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ausgezeichnet und von der höchsten Vollendung: das machte das Glaskörnchen, das ihm im Auge saß! Er legte vollständige Figuren, die ein geschriebenes Wort waren, aber nie konnte er es dahin bringen, das Wort zu legen, das er haben wollte, das Wort Ewigkeit. Die Schneekönigin hatte gesagt: „Kannst du diese Figur ausfindig machen, dann sollst du dein eigener Herr sein, und ich schenke dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.“ Aber er konnte es nicht.

„Nun sause ich fort nach den warmen Ländern“, sagte die Schneekönigin. „Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen.“

– Das waren die feuerspeienden Berge Ätna und Vesuv, wie man sie nennt. „Ich werde sie ein wenig weiß machen. Das gehört dazu, das tut den Zitronen und Weintrauben gut!“ Und die Schneekönigin flog davon, und Kay saß allein in dem viele Meilen großen, leeren Eissaal, betrachtete die Eisstücke und dachte so scharf, dass es in ihm knackte. Steif und still saß er: Man hätte glauben sollen, er wäre erfroren.

Da geschah es, dass die kleine Gerda durch das große Tor in das Schloss trat. Hier herrschten schneidende Winde. Sie trat in die großen, leeren, kalten Säle hinein – da erblickte sie Kay. Sie erkannte ihn, flog ihm um den Hals, hielt ihn fest und rief: „Kay! lieber kleiner Kay! Da habe ich dich endlich gefunden!“

Aber er saß still, steif und kalt. Da weinte die kleine Gerda heiße Tränen, die fielen auf seine Brust; sie drangen in sein Herz, tauten den Eis- klumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin. Er betrachtete sie und sie sang:

„Rosen, die blühn und verwehen:

Wir werden das Christkindlein sehen!“

Da brach Kay in Tränen aus: Er weinte so, dass das Spiegelkörnchen aus dem Auge schwamm. Nun erkannte er sie und jubelte: „Gerda! Liebe kleine Gerda! Wo bist du so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?“ Und er blickte rings um sich her. „Wie kalt ist es hier! Wie ist es hier weit und leer!“ Und erklammerte sich an Gerda an. und sie lachte

und weinte vor Freuden. Das war so herrlich, dass selbst die Eisstücke vor Freuden ringsherum tanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie in den Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, dass er sie ausfindig machen solle, dann wäre er sein eigener Herr und sie wolle ihm die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe geben.

Und Gerda küsste seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küsste seine Augen, und sie leuchteten gleich den ihrigen; sie küsste seine Hände und Füße, und er war gesund und munter. Die Schneekönigin mochte nun nach Hause kommen: sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben.

Und sie fassten einander bei den Händen und wanderten aus dem großen Schloss heraus. Sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen oben auf dem Dach, und wo sie gingen, ruhten die Winde, und die Sonne brach hervor; und als sie den Busch mit den roten Beeren erreichten, stand das Renntier da und wartete. Er brachte noch ein anderes junges Renntier mit, dessen Euter voll war, und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küsste sie auf den Mund. Dann trugen sie Kay und Gerda zuerst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube aufwärmten und über die Heimreise Bescheid erhielten, dann zur Lappin, die ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten instand gesetzt hatte.

Das Renntier und das Junge sprangen zur Seite und folgten bis zur Grenze des Landes; dort sprosste das erste Grün hervor. Da nahmen sie Abschied von den Renntieren und von der Lappin. „Lebt wohl!“ sagten alle. Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus ihm kam auf einem prächtigen Pferd, das Gerda kannte, – es war vor die goldene Kutsche gespannt gewesen, – ein junges Mädchen geritten, mit einer glänzend roten Mütze auf dem Kopfe und Pistolen in der Halfter; das war das kleine Räubermädchen, das es satt hatte, zu Hause zu sein, und nun erst gegen Norden und später, wenn ihr das nicht zusagte, nach einer andern Weltgegend hin wollte. Sie erkannte Gerda sogleich, und Gerda erkannte sie auch: Das war eine Freude!

„Du bist ein schöner Patron mit deinem Herumschweifen!“ sagte sie zum kleinen Kay. „Ich möchte wissen, ob du verdienst, dass man deinet halben bis an das Ende der Welt läuft!“ Aber Gerda streichelte ihr die Wangen und fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin.

„Die sind nach fremden Ländern gereist“, sagte das Räubermädchen.

„Aber die Krähe?“ sagte Gerda.

„Ja, die Krähe ist tot“, erwiderte sie. „Die zahme Geliebte ist Witwe geworden und geht mit einem Endchen schwarzen wollenen Garns um das Bein; sie klagt jämmerlich und Geschwätz ist das Ganze. – Aber erzählt mir nun, wie es dir ergangen ist, und wie du ihn erwischt hast.“

Und Gerda und Kay erzählten.

„Snipp-Snapp-Surre-Purre-Basselurre!“ sagte das Räubermädchen, nahm beide bei den Händen und versprach, dass, wenn sie je durch ihre Stadt kommen sollte, sie hinaufkommen wolle, sie zu besuchen. Und damit ritt sie in die weite Welt hinein.

Aber Gerda und Kay gingen Hand in Hand, und wo sie gingen, war es herrlicher Frühling mit Blumen und Grün. Die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Türme, die große Stadt: es war die, in der sie wohnten. Und sie gingen hinein und hin zur Tür der Großmutter, die Treppe hinauf, in die Stube hinein, wo alles wie früher auf derselben Stelle stand. Und die Uhr ging: Tick! Tack! und die Zeiger drehten sich; aber als sie durch die Tür gingen, bemerkten sie, dass sie erwachsene Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster herein, und da standen die kleinen Kinderstühle, und Kay und Gerda setzten sich ein jedes auf den seinigen und hielten einander bei den Händen. Die kalte, leere Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie wie einen schweren Traum vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der Bibel: „Werdet ihr nicht wie die Kinder, so werdet ihr das Reich Gottes nicht schauen!“

Und Kay und Gerda sahen einander in die Augen und verstanden auf einmal den alten Gesang:

„Rosen, die blühn und verwehen:

Wir werden das Christkindlein sehen!“

Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer wohltuender Sommer.

Die Schnecke und der Rosenstock

Rings um den Garten zog sich eine Hecke von Haselbüschen,
außerhalb derselben war Feld und Wiese mit Kühen und Schafen,
aber mitten in dem Garten stand ein blühender Rosenstock;
unter diesem saß eine Schnecke,
die hatte vieles in sich, sie hatte sich selbst.
„Wartet nur bis meine Zeit kommt!“ sagte sie,
„ich werde mehr ausrichten, als Rosen ansetzen,
Nüsse tragen oder Milch geben wie Kühe und Schafe!“
„Icherwarte sehr viel von Ihr!“ sagte der Rosenstock.
„Darf ich fragen: wann wird es zum Vorschein kommen?“

„Ih lasse mir Zeit!“ sagte die Schnecke.
„Sie haben nun solche Eile! Das spannt die Erwartungen nicht!“
Im darauffolgenden Jahr lag die Schnecke ungefähr auf derselben Stelle
im Sonnenschein unter dem Rosenstock,
der wieder Knospen trieb und Rosen entfaltete, immer frische, immer neue.
Und die Schnecke kroch halb aus ihrem Haus heraus,
steckte die Fühlhörner aus und zog sie wieder ein.
„Alles sieht aus wie im vorigen Jahr!
Gar keinen Fortschritt; der Rosenstock bleibt bei den Rosen,
weiter kommt er nicht!“
Der Sommer, der Herbst verstrich, der Rosenstock trug Rosen und Knospen,
bis der Schnee fiel,
bis das Wetter rauh und naß wurde;
der Rosenstock beugte sich zur Erde,
die Schnecke kroch in die Erde.
Es begann ein neues Jahr;
die Rosen kamen zum Vorschein, die Schnecke kam zum Vorschein.
„Sie sind jetzt ein alter Rosenstock!“
sagte die Schnecke. „Sie müssen machen, daß Sie bald eingehen.
Sie haben der Welt alles gegeben,
was Sie in sich gehabt haben, ob es von Belang war,
das ist eine Frage, über die nachzudenken ich keine Zeit gehabt habe;
so viel ist aber klar und deutlich,
daß Sie nicht das Geringste für Ihre innere Entwicklung getan haben,
sonst wäre wohl etwas anderes aus Ihnen hervorgegangen.
Können Sie das verantworten?
Sie werden jetzt bald ganz und gar nur Stock sein!
Begreifen Sie, was ich sage?“
„Sie erschrecken mich!“ sagte der Rosenstock.
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.“
„Nein, Sie haben sich wohl überhaupt nie mit Denken abgegeben!
Haben Sie sich jemals Rechenschaft gegeben,
weshalb Sie blühen, und wie der Hergang beim Blühen ist;
wie und warum nicht anders!“
„Nein!“ sagte der Rosenstock.
„Ich blühte in Freude, weil ich nicht anders konnte.
Die Sonne schien und wärmte, die Luft erfrischte,
ich trank den klaren Tau und den kräftigen Regen;
ich atmete, ich lebte!
Aus der Erde stieg eine Kraft in mich hinauf, von oben kam eine Kraft,
und deshalb mußte ich immer blühen;
das war mein Leben, ich konnte nicht anders!“
„Sie haben ein sehr gemächliches und angenehmes Leben geführt!
sagte die Schnecke.
„Gewiß! Alles wurde mir gegeben!“ sagte der Rosenstock.
„Doch Ihnen wurde noch mehr gegeben!
Sie sind eine dieser denkenden, tiefsinnigen Naturen,
eine dieser Hochbegabten,
welche die Welt in Erstaunen setzen werden!“
„Das fällt mir nicht im entferntesten ein!“ sagte die Schnecke.
„Die Welt geht mich nichts an! Was habe ich mit der Welt zu schaffen?
Ich habe genug mit mir selbst und genug in mir selbst!“
„Aber müssen wir alle hier auf Erden
nicht unser bestes Teil den anderen geben, das darbringen,
was wir eben vermögen? Freilich, ich habe nur Rosen gegeben!
Doch Sie? Sie, die so reich begabt sind, was schenken Sie der Welt?
Was werden Sie geben?“
„Was ich gab? Was ich gebe? – Ich spucke sie an! Sie taugt nichts!
Sie geht mich nichts an. Setzen Sie Rosen an, meinetwegen,
Sie können es nicht weiterbringen!
Mag die Haselstaude Nüsse tragen, die Kühe und Schafe Milch geben,
die haben jedes ihr Publikum, ich habe das meine in mir selbst!
Ich gehe in mich selbst hinein, und dort bleibe ich.
Die Welt geht mich nichts an!“
Und damit begab die Schnecke sich in ihr Haus hinein und verkittete dasselbe.
„Das ist recht traurig!“ sagte der Rosenstock.
„Ich kann mit dem besten Willen nicht hineinkriechen,
ich muß immer heraus, immer Rosen ausschlagen.
Die entblättern nun gar, verwehen im Winde!
Doch ich sah, wie eine Rose in das Gesangbuch der Hausfrau gelegt wurde,
eine meiner Rosen bekam ein Plätzchen
an dem Busen eines jungen schönen Mädchens,
und eine ward geküßt von den Lippen eines Kindes in lebensfroher Freude.
Das tat mir so wohl, das war ein wahrer Segen.
Das ist meine Erinnerung, mein Leben!“
Und der Rosenstock blühte in Unschuld,
und die Schnecke lag und faulenzte in ihrem Haus.
Die Welt ging sie nichts an.
Und Jahre verstrichen.
Die Schnecke war Erde in der Erde,
der Rosenstock war Erde in der Erde;
auch die Erinnerungsrose in dem Gesangbuch war verwelkt –
aber im Garten blühten neue Rosenstöcke,
im Garten wuchsen neue Schnecken;
sie krochen in ihre Häuser hinein, spuckten aus – die Welt ging sie nichts an.
Ob wir die Geschichte wieder von vorne zu lesen anfangen?
Sie wird doch nicht anders…

Däumelinchen

Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach einem kleinen Kinde sehnte, aber sie wusste nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: „Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind haben, willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?“
„Ja, damit wollen wir schon fertig werden!“ sagte die Hexe. „Da hast du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen Blumentopf, so wirst du etwas zu sehen bekommen!“
„Ich danke dir!“ sagte die Frau und gab der Hexe fünf Groschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.
„Das ist eine niedliche Blume!“ sagte die Frau und küsste sie auf die roten und gelben Blätter, aber gerade wie sie darauf küsste, öffnete sich die Blume mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte, aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich, es war nicht über einen Daumen breit und lang, deswegen wurde es Däumelinchen genannt.
Eine niedliche, lackierte Walnussschale bekam Däumelinchen zur Wiege, Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt, um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren Stängel im Wasser standen. Hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen und von der einen Seite des Tellers nach der anderen fahren; sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört hatte.
Einmal nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam eine Kröte durch eine zerbrochene Scheibe des Fensters hereingehüpft. Die Kröte war hässlich, groß und nass, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, auf dem Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatt schlief.
„Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!“ sagte die Kröte, und da nahm sie die Walnussschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe fort, in den Garten hinunter.
Da floss ein großer, breiter Fluss; aber gerade am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war hässlich und garstig und glich ganz seiner Mutter. „Koax, koax, brekkerekekex!“ Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Walnussschale erblickte.
„Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!“ sagte die alte Kröte. „Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluss hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo ihr wohnen und hausen sollt, instand setzen.“
Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mit den breiten, grünen Blättern, die aussehen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser. Das am weitesten hinausliegende Blatt war auch das allergrößte; dahin schwamm die alte Kröte und setzte die Walnussschale mit Däumelinchen darauf.
Das kleine Wesen erwachte frühmorgens, und da es sah, wo es war, fing es recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten des großen, grünen Blattes, und es konnte gar nicht an Land kommen.
Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Blumen aus – es sollte da recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden. Dann schwamm sie mit dem hässlichen Sohne zu dem Blatte, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: „Hier siehst du meinen Sohn; er wird dein Mann sein, und ihr werdet recht prächtig unten im Morast wohnen!“
„Koax, koax, brekkerekekex!“ war alles, was der Sohn sagen konnte.
Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz allein und weinte auf dem grünen Blatte, denn sie mochte nicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren hässlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen, und sie hatten auch gehört, was sie gesagt hatte; deshalb streckten sie die Köpfe hervor, sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sie fanden es sehr niedlich und bedauerten, dass es zur hässlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen Stängel, der das Blatt hielt, nagten mit den Zähnen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluss hinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht erreichen konnte.
Däumelinchen segelte an vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: „Welch liebliches, kleines Mädchen!“ Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.
Ein niedlicher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn Däumelinchen gefiel ihm. Sie war sehr erfreut; denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Sonne schien aufs Wasser, das wie lauteres Gold glänzte. Sie nahm ihren Gürtel, band das eine Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja darauf.
Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie, schlug augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt schwamm den Fluss hinab und der Schmetterling mit, denn er war an das Blatt gebunden und konnte nicht loskommen.
Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum flog! Aber hauptsächlich war sie des schönen, weißen Schmetterlings wegen betrübt, den sie an das Blatt festgebunden hatte. Wenn er sich nicht befreien konnte, musste er ja verhungern! Darum kümmerte sich der Maikäfer nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, dass sie niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später kamen alle die anderen Maikäfer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten: „Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus.“ – „Sie hat keine Fühlhörner!“ sagte eine andere. „Sie ist so schlank in der Mitte; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie hässlich sie ist!“ sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie geraubt hatte, aber als alle anderen sagten, sie sei hässlich, so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so hässlich sei, dass die Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, das man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste Rosenblatt.
Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt, sie pflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer und Herbst. Aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nichts als ein gelber, verwelkter Stängel zurück. Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei, und sie war selbst so fein und klein, sie musste erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen halben Finger lang. Da hüllte sie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nicht wärmen; sie zitterte vor Kälte.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld. Das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten, trockenen Stoppeln standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern, und sie zitterte vor Kälte! Da gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte. Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte sich in die Tür, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das mindeste zu essen gehabt.
„Du kleines Wesen!“ sagte die Feldmaus, denn im Grunde war es eine gute alte Feldmaus, „komm herein in meine warme Stube und iss mit mir!“
Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: „Du kannst den Winter über bei mir bleiben, aber du musst meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr.“ Däumelinchen tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es über die lange Winterzeit hinweg außerordentlich gut.
„Nun werden wir bald Besuch erhalten!“ sagte die Feldmaus. „Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum Manne bekommen könntest, so wärest du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du musst ihm, wenn er unser Gast ist, die niedlichsten Geschichten erzählen, die du weißt!“
Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf.
Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzen Samtpelz ab. Er sei reich und gelehrt, sägte die Feldmaus; seine Wohnung war auch zwanzigmal größer als die der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden, von beiden sprach er schlecht, denn er hatte sie noch nie gesehen.
Däumelinchen musste singen, und sie sang:
„Maikäfer flieg!“
und: „Wer will unter die Soldaten“.
Da wurde der Maulwurf der schönen Stimme wegen in sie verliebt, aber er sagte nichts, er war ein besonnener Mann.
Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen die Erlaubnis, zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben und nun begraben war, gerade da, wo er seinen Gang gemacht hatte.
Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln, ging voran und leuchtete ihnen in dem langen, dunklen Gange. Als sie dahin kamen, wo der tote Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, so dass es ein großes Loch gab und das Licht hindurchscheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Das tat Däumelinchen leid, sie hielt viel von allen kleinen Vögeln, sie hatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert. Aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: „Nun pfeift er nicht mehr! Es muss doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, dass keins von meinen Kindern das wird; ein solcher Vogel hat ja außer seinem Quivit nichts und muss im Winter verhungern!“
„Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen“, erwiderte die Feldmaus. „Was hat der Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muss hungern und frieren; doch das soll wohl ganz besonders vornehm sein!“
Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob die Federn beiseite, die den Kopf bedeckten, und küsste ihn auf die geschlossenen Augen.
‚Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer sang‘, dachte sie. ‚Wie viel Freude hat er mir nicht gemacht, der liebe, schöne Vogel‘
Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch das der Tag hereinschien, und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber nachts konnte Däumelinchen gar nicht schlafen. Da stand sie von ihrem Bette auf und flocht von Heu einen großen, schönen Teppich. Den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn über ihn und legte weiche Baumwolle, die sie in der Stube der Feldmaus gefunden hatte, an seine Seiten, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.
„Lebe wohl, du schöner, kleiner Vogel!“ sagte sie. „Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien!“ Dann legte sie ihr Haupt an des Vogels Brust, erschrak aber zugleich, denn es war gerade, als ob drinnen etwas klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur betäubt da, war nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.
Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern fort; aber ist da eine, die sich verspätet, so friert sie so, dass sie wie tot niederfällt und liegen bleibt, wo sie hinfällt. Und der kalte Schnee bedeckt sie.
Däumelinchen zitterte heftig, so war sie erschrocken, denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie; aber sie fasste doch Mut, legte die Baumwolle dichter um die arme Schwalbe und holte ein Krauseminzeblatt, das sie selbst zum Deckblatt gehabt hatte, und legte es ganz behutsam über den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm, und da war er nun lebendig, aber ganz matt. Er konnte nur einen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen, die mit einem Stück faulen Holzes in der Hand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand.
„Ich danke dir, du niedliches, kleines Kind!“ sagte die kranke Schwalbe zu ihr. „Ich bin herrlich erwärmt worden; bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann dann wieder draußen in dem warmen Sonnenschein herumfliegen!“
„Oh“, sagte Däumelinchen, „es ist kalt draußen, es schneit und friert! Bleib in deinem warmen Bette, ich werde dich schon pflegen!“
Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihren einen Flügel an einem Dornbusch gerissen und deshalb nicht so schnell habe fliegen können wie die andern Schwalben, die fortgezogen seien, weit fort nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt zur Erde gefallen. Mehr wusste sie nicht, und auch nicht, wie sie hierher gekommen war.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelinchen pflegte sie und hatte sie lieb, weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe nicht leiden.
Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe Däumelinchen, die das Loch öffnete, das der Maulwurf oben gemacht hatte, Lebewohl. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte auf ihrem Rücken sitzen, sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wusste, dass es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie sie verließ.
„Nein, ich kann nicht!“ sagte Däumelinchen.
„Lebe wohl, lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen!“ sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe von Herzen gut.
„Quivit, quivit!“ sang der Vogel und flog in den grünen Wald. Däumelinchen war recht betrübt. Sie erhielt gar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Felde über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die Luft empor; das war ein ganz dichter Wald für das arme, kleine Mädchen.
„Nun sollst du im Sommer deine Aussteuer nähen!“ sagte die Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Samtpelze, hatte um sie gefreit. „Du musst sowohl Wollen- wie Leinenzeug haben, denn es darf dir an nichts fehlen, wenn du des Maulwurfs Frau wirst!“
Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier Raupen, die Tag und Nacht für sie webten. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, dass, wenn der Sommer zu Ende gehe, die Sonne lange nicht so warm scheinen werde, sie brenne da jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei sei, dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie war gar nicht erfreut darüber, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Tür hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, so dass sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen.
Aber die kam nicht wieder; sie war gewiss weit weg in den schönen grünen Wald gezogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig.
„In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!“ sagte die Feldmaus. Aber Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.
„Schnickschnack!“ sagte die Feldmaus. „Werde nicht widerspenstig, denn sonst werde ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den du bekommst, und das darfst du nicht vergessen. Die Königin selbst hat keinen solchen schwarzen Samtpelz! Er hat Küche und Keller voll. Danke du Gott für ihn!“
Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, nie an die warme Sonne herauskommen, denn die mochte er nicht leiden. Das arme Kind war sehr betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaus hatte von der Türe aus sehen dürfen.
„Lebe wohl, du helle Sonne!“ sagte sie, streckte die Arme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke weiter vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korn geerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln. „Lebe wohl, lebe wohl!“ sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine rote Blume, die da stand. „Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!“
„Quivit, quivit!“ ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam. Sobald sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sie den hässlichen Maulwurf zum Manne haben wolle und dass sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen.
„Nun kommt der kalte Winter“, sagte die kleine Schwalbe; „ich fliege weit fort nach den warmen Ländern, willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich nur mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir von dem hässlichen Maulwurf und seiner dunkeln Stube fort, weit über die Berge, nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer ist und herrliche Blumen gibt. Fliege nur mit, du liebes, kleines Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunkeln Erdkeller lag!“
„Ja, ich werde mit dir kommen!“ sagte Däumelinchen und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seinen entfalteten Schwingen. Sie band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch über die großen Berge, wo immer Schnee liegt. Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber darin verkroch sie sich unter des Vogels warme Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu bewundern.
Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch, und an Gräben und Hecken wuchsen die schönsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, hier duftete es von Myrten und Krauseminze, auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen, bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen an dem blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloss aus alten Zeiten. Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem wohnte die Schwalbe, die Däumelinchen trug.
„Hier ist mein Haus!“ sagte die Schwalbe. „Aber willst du dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die da unten wachsen, aussuchen, dann will ich dich hineinsetzen, und du sollst es so gut und schön haben, wie du es nur wünschest!“
„Das ist herrlich!“ sagte Däumelinchen und klatschte erfreut in die kleinen Hände.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, die zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber zwischen diesen wuchsen die schönsten großen, weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten, klaren Flügel an den Schultern, er selbst war nicht größer als Däumelinchen. Es war der Blumenelf. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber dieser war der König – über alle.
„Gott, wie ist er schön!“ flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie war gegen ihn, der so klein und fein war, ein Riesenvogel; aber als er Däumelinchen erblickte, wurde er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle, dann solle sie Königin über alle Blumen werden! Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Samtpelze. Sie sagte deshalb ja zu dem herrlichen Prinzen, und von jeder Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, dass es eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen, weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume zu Blume fliegen. Da gab es viel Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie konnte; aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen gut und wäre gerne immer mit ihr zusammen geblieben. Am liebsten hätte sie sich daher nie von ihr trennen mögen.
„Du sollst nicht Däumelinchen heißen!“ sagte der Blumenelf zu ihr. „Das ist ein hässlicher Name, und du bist schön. Wir wollen dich von nun an Maja nennen.“
„Lebe wohl, lebe wohl!“ sagte die kleine Schwalbe und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg, nach Deutschland zurück; dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann, vor ihm sang sie „Quivit, quivit!“ Daher wissen wir die ganze Geschichte.

Der Schatten

Einst ging ein gelehrter Mann aus den nördlichen Regionen Europas auf eine Reise nach Süden. Eines Nachts saß er auf seiner Terrasse, während das Feuer hinter ihm seinen Schatten auf den gegenüberliegenden Balkon warf. Wie er da saß, beobachtete der Mann amüsiert, wie sein Schatten jede seiner Bewegungen nachahmte, als würde er wirklich auf dem anderen Balkon sitzen. Als er schließlich müde wurde und schlafen ging, stellte er sich den Schatten vor, wie er dies ebenfalls im Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite tat.

Am nächsten Morgen jedoch stellte der Mann zu seiner Überraschung fest, dass er wirklich seinen Schatten über Nacht verloren hatte. Als ihm allerdings ein neuer Schatten aus seinen Zehenspitzen wuchs, dachte er nicht weiter darüber nach und kehrte nach Nordeuropa zurück, um wieder zu schreiben.

Mehrere Jahre vergingen, bis eines Nachts ein Mann an seiner Türe klopfte. Zu seiner Überraschung war es sein Schatten, den er vor Jahren in Afrika verloren hatte. Dieser Schatten stand nun mit fast vollkommenem menschlichen Aussehen in seiner Haustüre. Erstaunt von seinem plötzlichen Wiederauftauchen lud der gelehrte Mann ihn in sein Haus ein. Beide setzten sich an den Kamin, wo der Schatten dem Mann erzählte, wie er selbst ein Mann geworden war.

Der gelehrte Mann war ein ruhiger und sanftmütiger Mensch. Seine Hauptinteressen lagen im Guten, der Schönheit und der Wahrheit. Dies waren die Themen, über die er oft schrieb, die aber niemanden sonst zu interessieren schienen. Der Schatten sagte seinem Herren, dass dieser die Welt nicht verstünde, dass er aber selbst die wahre Welt gesehen habe, mit ihrer Bosheit und den schlechten Menschen darin.

Der Schatten wurde immer größer und lebendiger im Laufe der Jahre, während der Schriftsteller immer dünner und blasser wurde. Schließlich wurde der Mann so krank, dass sein ehemaliger Schatten ihm einen Ausflug zu einem Kurort auf seine Kosten vorschlug, allerdings unter der Bedingung, dass der ehemalige Schatten selbst als Herr auftreten dürfte, während der Schriftsteller so tun musste, als wäre er der Schatten. So absurd dieser Vorschlag sich auch anhörte, am Ende nahm der gelehrte Mann ihn an. Zusammen gingen sie auf Reisen und der Schatten spielte den Herren. Im Kurort lernte der Schatten eine wunderschöne Prinzessin kennen. Nachdem beide sich eine Nacht lang zusammen unterhalten und getanzt hatten, verliebte sich die Prinzessin in den Schatten.

Kurz bevor die Hochzeit anstand, bot der Schatten seinem ehemaligen Herren eine hohe Stellung im Palast an, unter der Bedingung, dass dieser nun endgültig sein eigener Schatten wurde. Der Schriftsteller lehnte sofort ab und drohte damit, der Prinzessin alles zu sagen, doch der Schatten ließ ihn verhaften. Seine Bestürzung heuchelnd traf er sich mit der Prinzessin und sagte ihr:

Ich habe das Greulichste erlebt, was man erleben kann!“sagte der Schatten, „denke Dir – ja so ein armes Schattengehirn kann nicht viel aushalten! – denke Dir, mein Schatten ist verrückt geworden. Er glaubt, er wäre der Mensch und ich – denke Dir nur – ich wäre sein Schatten!“
„Das ist ja furchtbar“, sagte die Prinzessin, „er ist doch eingesperrt?“
„Das ist er! Ich fürchte er wird nie wieder zu Verstand kommen.“
„Armer Schatten!“ sagte die Prinzessin, „er ist sehr unglücklich. Es würde eine wahre Wohltat sein, ihn von dem bisschen Leben zu befreien, das er hat. Wenn ich es recht bedenke, glaube ich, es wird notwendig sein, es mit ihm in aller Stille abzumachen.“

Als der Schatten und die Prinzessin später in dieser Nacht heirateten, war der gelehrte Mann bereits tot.