Schlagwort-Archive: Richard von Volkmann-Leander
Wie sich der Christoph und das Bärbel immer aneinander vorbeigewünscht haben
Der kleine Mohr und die Goldprinzessin
Der zweite ist schmudlich,
Der dritt hat kein Haar,
Der viert ist nicht gar,
Der fünft ist perplex
Und miesrig der sechst!
Die Kur ist aus.
Jagt mir alle sechse zur Stadt hinaus!“ Alsbald erschienen zwölf riesige Heiducken mit mannslangen Birkenreisern und trieben die ganze Gesellschaft zur Stadt hinaus. So ging es schon seit Jahren alle Tage. – Als der kleine Mohr vernahm, wie wunderschön die Prinzessin war, konnte er an weiter gar nichts denken. Er ging nach ihrem Palaste, setzte sich auf die Treppenstufen, nahm die Geige zur Hand und fing an, sein bestes Lied zu spielen. Vielleicht sieht sie zum Fenster heraus, dachte er, dann bekommst du sie zu sehen. Es währte nicht lange, so befahl die Goldprinzessin ihren drei Kammermädchen nachzusehen, wer draußen so schön spiele. Da brachten sie die Nachricht, es wäre ein Mensch, der habe eine so absonderliche Gesichtsfarbe, wie sie dergleichen noch nie gesehen. Und die eine behauptete, er sei mausgrau; die zweite, er sei hechtgrau, und die dritte gar, er wäre eselsgrau. Darauf meinte jene, das müsse sie selber sehen, sie sollten den Menschen heraufholen. Da gingen die Kammermädchen abermals hinunter und führten ihn herauf, und als er die Prinzessin erblickte, die wirklich über und über von Gold war und wie die Sonne glänzte, war er erst so geblendet, daß er die Augen zumachen mußte. Als er sich aber ein Herz faßte und die Prinzessin ordentlich ansah, da wußte er sich nicht weiter zu helfen; er warf sich vor ihr auf die Knie nieder und sagte: „Allerschönste Goldprinzessin! Ihr seid so schön, wie Ihr es gar nicht wißt! Und wenn Ihr es wißt, so seid Ihr noch hunderttausendmal schöner. Ich bin ein kleiner Mohr, der immer weißer wird; und das Lied, das ich gespielt habe, ist noch lange nicht mein allerschönstes. Einen Mann müßt Ihr durchaus haben; und wenn Ihr mich heiraten wollt, werde ich so vergnügt, daß ich mit gleichen Beinen über den Tisch springen will!“ Als die Prinzessin dies hörte, machte sie zuerst ein Gesicht wie die Gänse, wenn’s wetterleuchtet, denn übermäßig klug war sie gerade nicht, trotz aller ihrer Schönheit, und dann fing sie so laut zu lachen an, daß sie sich die Hüften mit den Händen halten mußte. Und die drei Kammermädchen meinten, sie müßten auch mitlachen, und auf einmal traten noch die zwölf Heiducken herein, und wie sie sahen, wer vor der Goldprinzessin kniete, schlugen auch sie ein Gelächter auf, daß es durch die ganze Stadt schallte. Da befiel den kleinen Mohr ein ungeheurer Schrecken, denn er merkte wohl, daß er etwas Dummes gesagt hatte. Er nahm seine Geige, riß die Tür auf und sprang mit drei Sätzen die Treppe hinab. Dann lief er, ohne sich umzusehen, durch die Straße, querfeldein bis in den nächsten Wald. Dort warf er sich todmüde ins Gras nieder und weinte, als wenn er fortschwimmen wollte. – Doch endlich ward er wieder ruhig und sagte zu sich selbst: Wenn der Kutscher betrunken ist, gehen die Pferde durch! Bist du klug oder bist du dumm? Die Goldprinzessin wolltest du heiraten? Ganz dumm bist du! Da darfst du dich nicht wundern, wenn die Leute dich auslachen. Damit hing er sich die Geige wieder über den Rücken, pfiff sich eins und wanderte weiter und zog wie zuvor von Stadt zu Stadt und von Land zu Land. Und von Jahr zu Jahr wurde er immer weißer, und die Leute gewannen ihn immer lieber, denn die Lieder, die er sich ausdachte, wurden immer schöner, und kein Mensch konnte sich mit ihm auf der Geige messen. Und als er groß und ein Mann geworden war, sah er ganz weiß aus, ja selbst weißer und reiner als die meisten andern Leuten. Niemand wollte glauben, daß er früher ein Mohr gewesen sei.– Es trug sich zu, daß er auch einmal in einen Flecken kam, wo gerade Jahrmarkt war. Da sah er eine Bude mit einem roten Vorhang, der war früher einmal neu gewesen, jetzt aber zerlumpt und voller Flecke. Davor stand ein wüster Gesell mit einer bunten Jacke, der stieß in die Trompete und rief, die Leute möchten doch eintreten, es wären die größten Wunder der Welt zu sehen: ein Kalb mit zwei Köpfen, das zweimal fräße und bloß einmal verdaute, ein Schwein, das die Karten legen und wahrsagen könnte, und die hochberühmte, wunderschöne Goldprinzessin, um die sich alle Männer gerissen hätten. „Das kann doch nicht deine Goldprinzessin sein?“ sagte er, ging jedoch trotzdem hinein. Da war es ihm, als solle er vor Schreck in die Erde sinken; denn sie war es wirklich. Aber das Gold war fast überall ab, und er sah, daß sie nur von Blech war. „Heiliger Gott!“ rief er aus, „wie kommst du hierher und wie siehst du aus?“ „Was ist denn?“ erwiderte sie, als wenn gar nichts wäre. Nachdem sie sich jedoch überlegt, daß er sie gewiß schon früher einmal gesehen, wie sie noch ganz golden war, fügte sie zornig hinzu: „Glaubst du etwa, daß man ewig hält, du alberner Laffe? Zupf dich an deiner eigenen Nase!“ Da hätte er beinahe laut aufgelacht, denn er sah, daß sie ihn nicht erkannt. Doch sie tat ihm viel zu leid, und so fragte er nur leise, ob sie denn gar nicht wisse, wer er sei. Er wäre der kleine Mohr, den sie vorzeiten einmal so sehr ausgelacht hätte. Nun war die Reihe an ihr, ganz still zu werden und sich zu schämen, und unter vielem Schluchzen erzählte sie, wie erst an ein paar Stellen und dann fast überall das Gold heruntergegangen sei; wie sie das ihren Untertanen lange verborgen und wie diese es endlich doch gemerkt und sie fortgejagt hätten. Nun zöge sie auf den Jahrmärkten umher, habe es aber satt, und wenn er noch so dächte wie früher, wollte sie ihn gern heiraten. Darauf erwiderte er sehr ernsthaft, er bedaure sie zwar von Herzen, sei aber schon viel zu verständig, um eine Blechprinzessin zu heiraten. Er hoffe bestimmt, noch einmal eine viel bessere Frau zu bekommen wie sie. Damit ging er zur Bude hinaus und ließ die Blechprinzessin stehen, die vor Wut beinahe platzte und ihm, während er ging, fortwährend nachrief: „Mohrenjunge, Mohrenjunge! kohlschwarzer Mohrenjunge, der abfärbt!“ und ähnliches. Doch niemand wußte, wen sie damit meinte, da er ja längst auch nicht ein Tüpfchen Schwarzes mehr an sich hatte. Er ging daher sittsam weiter, ohne sich auch nur umzusehen, und war froh, daß er in seinem Leben nie wieder etwas von der abscheulichen Person erfuhr. Eine Zeitlang setzte er noch sein altes Wanderleben fort; als er aber fast die ganze Welt gesehen hatte und anfing, des Umherziehens müde zu werden, da traf es sich, daß der König von seinem Spiel hörte und ihn rufen ließ. Ein Lied nach dem andern mußte er ihm bis in die späte Mitternacht vorspielen, und zuletzt stieg der König von seinem Thron, umarmte ihn und fragte, ob er sein bester Freund werden wolle. Als er dies bejahte, ließ ihn der König in seinem goldenen Wagen durch die Stadt fahren und schenkte ihm ein Haus und so viel Geld, daß er sein Lebtag daran genug hatte. Und eine Frau bekam er auch. Zwar keine Prinzessin und noch weniger eine über und über goldene, aber eine Frau, die ein goldenes Herz hatte. Mit der lebte er vergnügt und hochgeehrt bis an sein spätes Ende. Die Blechprinzessin aber ward von Tag zu Tag unscheinbarer, und als das letzte bißchen Gold abgegangen war, wurde sie so viel hin und her geworfen, daß sie lauter Buckel und Dellen bekam. Zuletzt kam sie zu einem Trödler. Dort steht sie noch heute in der Ecke zwischen allerhand Tand und Kram und hat Zeit zu bedenken, daß vielerlei abgeht im Leben, Hübsches wie Häßliches, und daß alles darauf ankommt, was drunter ist.
Die Alte-Weiber-Mühle
Goldtöchterchen
„Nacktfrosch im Hemde,
Was willst du in der Fremde?
Hat kein‘ Schuh und hast kein‘ Hos,
Hast ein einzig Strümpfel bloß;
Wirst du noch den Strumpf verlier’n,
Mußt du dir ein Bein erfrier’n.
Geh nur wieder heime;
Mach dich auf die Beine!“
Aber es hört nicht, sondern läuft in den Busch, und wie es durch den Busch ist, kommt es an den Teich. Da steht die Ente am Ufer mit einer vollen Mandel Junger, alle goldgelb wie die Eidotter, und fängt entsetzlich an zu schnattern; dann läuft sie Goldtöchterchen entgegen, sperrt den Schnabel auf und tut, als wenn sie es fressen wollte. Aber Goldtöcherchen fürchtet sich nicht, geht gerade darauf los und sagt:
„Ente du Schnatterlieschen,
Halt doch den Schnabel und schweig ein bißchen!“
„Ach“, sagt die Ente, „du bist’s, Goldtöchterchen! Ich hatte dich gar nicht erkannt; nimm’s nur nicht übel! Nein, du tust uns nichts. Wie geht es dir denn?Wie geht es denn deinem Herrn Vater und deiner Frau Mutter? Das ist ja recht schön, daß du uns einmal besuchst. Das ist ja eine große Ehre für uns. Da bist du wohl recht früh aufgestanden? Also, du willst dir wohl auch einmal unsern Teich besehen? Eine recht schöne Gegend! Nicht wahr?“
Wie sie ausgeschnattert hat, fragt Goldtöchterchen: „Sag einmal, Ente, wo hast du denn die vielen kleinen Kanarienvögel her?“
„Kanarienvögel?“ wiederholt die Ente, „ich bitte dich, es sind ja bloß meine Jungen.“
„Aber sie singen ja so fein und haben keine Federn, sondern bloß Haare! Was bekommen denn deine kleinen Kanarienvögel zu essen?“
„Die trinken klares Wasser und essen feinen Sand.“
„Davon können sie ja aber unmöglich wachsen.“
„Doch, doch“, sagt die Ente; „der liebe Gott segnet’s ihnen; und dann ist auch zuweilen im Sand ein Würzelchen und im Wasser ein Wurm oder eine Schnecke.“
„Habt ihr denn keine Brücke?“ fragt dann weiter Goldtöchterchen.
„Nein“, sagt die Ente, „eine Brücke haben wir nun allerdings leider nicht. Wenn du aber über den Teich willst, will ich dich gern hinüberfahren.“
Darauf geht die Ente ins Wasser, bricht ein großes Wasserrosenblatt ab, setzt Goldtöchterchen darauf, nimmt den langen Stengel in den Schnabel und fährt Goldtöchterchen hinüber. Und die kleinen Entchen schwimmen munter nebenher.
„Schönen Dank, Ente!“ sagte Goldtöchterchen, als es drüben angekommen ist.
„Keine Ursache“, sagt die Ente. „Wenn du mich mal wieder brauchst, steh ich gern zu Diensten. Empfiehl mich deinen Eltern. Schön adje!“
Auf der anderen Seite des Teiches ist wieder eine große grüne Wiese, auf der geht Gold-töchterchen weiter spazieren. Nicht lange, so sieht es einen Storch, auf den läuft’s gerade zu: „Guten Morgen, Storch“, sagt’s; „was ißt du denn, was so grünscheckig aussieht und dabei quakt?“
„Zappelsalat“, antwortet der Storch, „Zappelsalat, Goldtöchterchen!“
„Gib mir auch was, ich bin hungrig!“
„Zappelsalat ist nichts für dich“, sagt der Storch; geht an den Bach, taucht mit seinem langen Schnabel tief unter und holt erst einen goldenen Becher mit Milch und dann eine Wecke heraus. Darauf hebt er den rechten Flügel und läßt eine Zuckertüte herunterfallen. Goldtöchterchen läßt sich’s nicht zweimal sagen, sondern setzt sich hin und ißt und trinkt. Wie’s satt ist, sagt’s:
„Ein’n schönen Dank,
Und gute Gesundheit dein Leben lang!“
Darauf läuft’s weiter.
Der verrostete Ritter
Als sie nun dem Eremiten alles erzählt hatte, ging er in die Kapelle, betete dort lange zur Jungfrau Maria und sagte dann, als er wieder herauskam: „Du kannst deinen Mann noch erlösen, aber es ist schwer. Fängst du es an und bringst es nicht zu Ende, so mußt du selbst auch verrosten. Viel Unrecht hat dein Mann sein Lebtag getan, und stolz und hart gegen die Armen ist er gewesen: willst du für ihn betteln gehen, barfuß und in Lumpen wie das allerärmste Bettlerweib, so lange, bis du hundert Goldgulden erbettelt hast, so ist dein Mann erlöst. Dann nimm ihn an der Hand, gehe mit ihm in die Kirche und lege die hundert Goldgulden in das Kirchbecken für die Armen. Wenn du das tust, so wird Gott deinem Manne seine Sünden vergeben, der Rost wird abgehen, und er wird wieder so weiß werden wie zuvor.“
„Das will ich tun“, sagte die Ritterfrau, „und wenn es mir noch so schwer werden wird und es noch so lange dauert. Ich will meinen Mann erlösen, denn er ist nur auswendig verrostet, das glaube ich ganz sicher!“
Darauf ging sie fort, tief in den Wald hinein, und nicht lange, so begegnete ihr ein altes Mütterchen, welches Reisig suchte. Es hatte einen zerlumpten, schmutzigen Rock an und darüber einen Mantel, der war aus ebenso vielen Flecken zusammengesetzt wie weiland das Heilige Römische Reich; was aber die Flicken früher für eine Farbe gehabt, das konnte man kaum mehr sehen, denn Regen und Sonnenschein hatten schon viel Arbeit mit dem Mantel gehabt.
„Willst du mir deinen Rock und deinen Mantel geben, alte Mutter“, sagte die Ritterfrau, „so schenk ich dir alles Geld, was ich in der Tasche habe, und meine seidnen Kleider noch dazu; denn ich möchte gern arm sein.“
Da sah die alte Frau sie verwundert an und sprach: „Will’s schon tun, will’s schon tun, mein blankes Töchterchen, wenn’s dein Ernst ist. Hab‘ schon viel gesehen auf der Welt, auch viele Leute gefunden, die gern reich werden wollten, daß aber jemand gern arm werden will, das ist mir noch nicht vorgekommen. Wird dir schlecht schmecken mit deinen seidenen Händchen und deinem süßen Frätzchen!“
Aber die Ritterfrau hatte schon begonnen sich auszuziehen und sah dabei so ernst und so traurig aus, daß die Alte wohl merkte, daß sie keinen Scherz treibe. Sie reichte ihr also Rock und Mantel hin, half ihr sie anlegen und fragte dann:
„Was willst du nun tun, mein blankes Töchterchen?“
„Betteln, Mutter!“ antwortete die Ritterfrau.
„Betteln? Nun, gräme dich nicht darum, das ist keine Schande. An der Himmelstür wird’s auch mancher tun müssen, der’s hier unten nicht gelernt hat. – Aber das Bettellied will ich dich erst noch lehren:
Betteln und lungern,
Dursten und hungern
Immerdar, allezeit
Müssen wir Bettelleut‘!
Habt ihr was, schenkt mir was,
Ach, nur ein Häppchen!
Brot in den Bettelsack,
Suppe ins Näpfchen! –
Lederne Ranzen,
Röcke mit Fransen
Tragen wir Bettelleut‘!
– Was man erbettelt hat,
Wird verjuchheit!
Nicht wahr, ein hübsches Lied?“ sagte die Alte. Damit warf sie sich die seidnen Kleider um, sprang in den Busch und war bald verschwunden.
Die Ritterfrau aber wanderte durch den Wald, und nach einiger Zeit begegnete ihr ein Bauer, der war ausgegangen, eine Magd zu suchen, denn es war um die Ernte und Leutenot. Da blieb die Ritterfrau stehen, hielt die Hand hin und sagte: „Habt ihr was, schenkt mir was, ach, nur ein Häppchen!“ Aber die anderen Verse sagte sie nicht, weil sie ihr nicht gefielen. Der Bauer sah sich die Frau an, und da er fand, daß sie trotz ihrer Lumpen schmuck und gesund war, fragte er sie, ob sie nicht bei ihm Magd werden wolle.
„Ich schenke dir zu Ostern einen Kuchen, zu Martini eine Gans und zu Weihnachten einen Taler und ein neues Kleid. Bist du damit zufrieden?“
„Nein“, erwiderte die Ritterfrau, „ich muß betteln gehen, der liebe Gott will es so haben.“
Darüber wurde der Bauer zornig, schimpfte und schmähte und sagte höhnisch:
„Der liebe Gott will’s so haben? He? Du hast wohl mit ihm zu Mittag gegessen? Was? Linsen mit Bratwürsten, nicht wahr? Oder bist du vielleicht seine Muhme, daß du so genau weißt, was er will? Eine faule Haut bist du. Gut für den Knüttel, zu schlecht für den Büttel!“ Darauf ging er seiner Wege, ließ sie stehen und gab ihr nichts. Da merkte die Ritterfrau wohl, daß das Betteln schwer sei.
Sie ging jedoch weiter, und nach abermals einiger Zeit kam sie an eine Stelle, wo die Straße sich teilte und zwei Steine standen. Auf dem einen saß ein Bettler mit einer Krücke. Da sie nun müde geworden war, gedachte sie sich eine kurze Zeit auf den leeren Stein zu setzen, um auszuruhen. Kaum hatte sie jedoch dies getan, als der Bettler mit der Krücke nach ihr schlug und ihr zurief:
„Mach, daß du fortkommst, du liederliche Liese! Willst du mir mit deinen Lumpen und deinem zuckersüßen Gesicht die Kundschaft abzwicken? Die Ecke hier habe ich gepachtet. Mach flink, sonst sollst du sehen, was mein Krückholz für ein schöner Fiedebogen ist und dein Rücken für eine närrische Geige!“
Da seufzte die Ritterfrau, stand auf und ging so weit, als sie die Füße tragen wollten. Endlich kam sie in eine große fremde Stadt. Hier blieb sie, setzte sich an den Kirchweg und bettelte; und nachts schlief sie auf den Kirchenstufen. So lebte sie tagaus, tagein, und es schenkte ihr der eine einen Pfennig und der andere einen Heller; manche aber auch gaben ihr nichts oder schimpften gar, wie es der Bauer getan hatte. Es ging aber sehr langsam mit den hundert Goldgulden. Denn als sie drei Vierteljahre gebettelt hatte, hatte sie erst einen Gulden erspart. Und genau wie der erste Gulden voll war, gebar sie einen wunderschönen Knaben, den nannte sie „Docherlöst“, weil sie hoffte, daß sie ihren Mann doch noch erlösen würde. Sie riß sich von ihrem Mantel unten einen Streifen ab, eine gute Elle breit, so daß der Mantel nur noch bis an die Knie reichte, wickelte das Kind hinein, nahm es auf den Schoß und bettelte weiter. Und wenn das Kind nicht schlafen wollte, wiegte sie es und sang:
„Schlaf ein auf meinem Schoße,
Du armes Bettelkind,
Dein Vater wohnt im Schlosse –
Und draußen weht der Wind.
Er geht in Samt und Seide,
Trinkt Wein, ißt weißes Brot,
Und säh er so uns beide,
So härmt er sich zu Tod.
Er braucht sich nicht zu härmen,
Du liegst ja weich und warm;
Er ist ja noch viel ärmer,
Daß Gott sich sein erbarm!“
Da blieben oft die Leute stehen und besahen sich die arme junge Bettelfrau mit dem wunder-schönen Kinde und schenkten ihr mehr als früher. Sie aber war getrost und weinte nicht mehr, denn sie wußte, daß sie ihren Mann gewiß erlösen würde, wenn sie nur ausharrte. –
Als aber die Frau nicht wieder zurückkehrte, ward der Ritter auf seinem Schlosse tief betrübt, denn er sagte sich: Sie hat alles gemerkt und dich deshalb verlassen. Er ging zuerst in den Wald zu dem Eremiten, um zu hören, ob sie in der Kapelle gewesen sei und dort gebetet habe. Aber der Eremit war sehr kurz angebunden und streng gegen ihn und sagte:
„Hast du nicht in Saus und Braus gelebt? Bist du nicht stolz und hart gegen die Armen gewesen? Hat dich nicht der liebe Gott zur Strafe verrosten lassen? Deine Frau hat ganz recht getan, wenn sie dich verließ. Man muß nicht einen guten und einen faulen Apfel in einen Kasten legen, sonst wird der gute auch faul!“
Da setzte sich der Ritter auf die Erde, nahm den Helm ab und weinte bitterlich.
Als der Eremit dies gewahr wurde, ward er freundlicher und sprach: „Da ich sehe, daß dein Herz noch nicht mitverrostet ist, so will ich dir raten: tue Gutes und gehe in alle Kirchen, so wirst du deine Frau wiederfinden.“
Da verließ der Ritter sein Schloß und ritt in alle Welt. Wo er Arme fand, schenkte er ihnen etwas, und wenn er eine Kirche sah, ging er hinein und betete. Aber seine Frau fand er nicht. So war fast ein Jahr vergangen, da kam er auch in die Stadt, wo seine Frau am Kirchweg saß und bettelte, und sein erster Weg war in die Kirche. Schon von weitem erkannte ihn die Frau, denn er war groß und stattlich und trug einen goldnen Helm mit einer Geierklaue auf dem Knauf, der weithin leuchtete. Da erschrak sie, denn sie hatte erst zwei Goldgulden zusammen, so daß sie ihn noch nicht erlösen konnte. Sie zog sich den Mantel tief über den Kopf, damit er sie nicht erkennen sollte, und kauerte sich so eng zusammen, als sie irgend konnte, damit er nicht ihre schneeweißen Füße sähe; denn der Mantel ging ihr nur bis an die Knie, seit sie den Streifen für das Kind abgerissen hatte. Als aber der Ritter an ihr vorbeischritt, hörte er sie leise schluchzen, und als er ihren zerlumpten und geflickten Mantel sah und das wunderschöne Kind auf ihrem Schoß, welches ebenfalls nur in Lumpen gewickelt war, tat es ihm in der Seele weh. Er trat an sie heran und fragte sie, was ihr fehle. Doch die Frau antwortete nicht und schluchzte nur noch mehr, so sehr sie sich auch Mühe gab, es zu verbeißen. Da zog der Ritter seine Geldtasche hervor, in der viel mehr waren als hundert Goldgulden, legte sie ihr auf den Schoß und sagte: „Ich gebe dir alles, was ich noch habe, und sollte ich mich nach Hause betteln.“
Da fiel der Frau, ohne daß sie es wollte, der Mantel vom Kopf herunter, und der Ritter sah, daß es sein eigenes, angetrautes Eheweib war, der er das Geld geschenkt hatte. Trotz der Lumpen fiel er ihr um den Hals und küßte sie, und als er vernahm, daß das Kind sein Sohn war, herzte und küßte er es auch. Doch die Frau nahm ihren Mann, den Ritter, an der Hand, führte ihn in die Kirche und legte das Geld auf das Kirchbecken. Dann sagte sie: „Ich wollte dich erlösen, aber du hast dich selbst erlöst.“
Und so war es auch; denn als der Ritter aus der Kirche trat, war der Fluch gehoben und der Rost, der seine ganze linke Seite bedeckte, verschwunden. Er hob seine Frau mit dem Kinde auf sein Pferd, ging selbst zu Fuß daneben und zog mit ihr zurück in sein Schloß, wo er lange Jahre glücklich mit ihr lebte und so viel Gutes tat, daß ihn alle Leute lobten.
Die Bettlerlumpen aber, die seine Frau getragen hatte, hing er in einen kostbaren Schrein, und jeden Morgen, wenn er aufgestanden war, ging er an den Schrein, besah sich die Lumpen und sagte: „Das ist meine Morgenandacht, die nimmt mir der liebe Gott nicht übel, denn er weiß, wie ich’s meine, und ich gehe nachher doch noch in die Kirche.“
Vom unsichtbaren Königreiche
Je älter er aber ward, desto stiller wurde er; und als sein alter Vater endlich starb und er ihn unter einer großen alten Eiche begraben hatte, wurde er ganz still. Wenn er dann auf dem alten zerbrochenen Mühlsteine saß, was er jetzt viel häufiger tat als zuvor, und hinab in das herrliche Tal sah, wie die Abendnebel an dem einen Ende hereintraten und langsam an den Bergen hinwandelten, wie es dann dunkler wurde und dunkler, bis zuletzt der Mond und die Sterne in ihrer ganzen Herrlichkeit am Himmel heraufzogen: dann wurde es ihm so recht wunderbar ums Herz. Denn dann fingen die Wellen im Fluß zu singen an, anfangs ganz leise, bald aber deutlich vernehmbar, und sie sangen von den Bergen, wo sie herkämen, vom Meer, wo sie hinwollten, und von den Nixen, die tief unten im Grunde des Flusses wohnten. Darauf begann auch der Wald zu rauschen, ganz anders wie ein gewöhnlicher Wald, und erzählte die wunderbarsten Sachen. Besonders der alte Eichbaum, der an seines Vaters Grabe stand, der wußte noch viel mehr wie alle die anderen Bäume. Die Sterne aber, die hoch am Himmel standen, bekamen die größte Lust, herabzufallen in den grünen Wald und in den blauen Strom, und flimmerten und zitterten wie jemand, der es gar nicht mehr aushalten kann. Doch die Engel, von denen hinter jedem Sterne einer steht, hielten sie jedesmal fest und sagten: „Sterne, Sterne, macht keine Torheiten! Ihr seid ja viel zu alt dazu, viele tausend Jahre und noch mehr! Bleibt im Lande und nährt euch redlich!“ –
Es war ein wunderbares Tal! – Aber alles das sah und hörte bloß der Traumjörge. Die Leute, welche im Dorf wohnten, ahnten gar nichts davon; denn es waren ganz gewöhnliche Leute. Dann und wann schlugen sie einen von den alten Baumriesen um, zersägten und zerspellten ihn, und wenn sie eine hübsche Klafter aufgerichtet hatten, sprachen sie: „Nun können wir uns wieder eine Weile Kaffee kochen.“ Und im Fluß wuschen sie ihre Wäsche; das war ihnen sehr bequem. Von den Sternen aber, wenn sie so recht funkelten, sagten sie weiter nichts als: „Es wird heute nacht recht kalt werden; wenn nur unsere Kartoffeln nicht erfrieren.“ Versuchte es einmal der arme Traumjörge, ihnen eine andere Meinung beizubringen, so lachten sie ihn aus. Es waren eben ganz gewöhnliche Leute.
Wie er nun so eines Tages wieder auf dem alten Mühlsteine saß und bei sich bedachte, daß er doch auf der ganzen Welt mutterseelenallein sei, schlief er ein. Da träumte ihm, es hinge vom Himmel eine goldene Schaukel an zwei silbernen Seilen herab. Jedes Seil war an einem Sterne befestigt; auf der Schaukel aber saß eine reizende Prinzessin und schaukelte sich so hoch, daß sie vom Himmel zur Erde herab und von der Erde wieder zum Himmel hinauf flog. Jedesmal, wenn die Schaukel bis an die Erde kam, klatschte die Prinzessin vor Freude in ihre Hände und warf ihm eine Rose zu. Aber plötzlich rissen die Seile, und die Schaukel mit der Prinzessin flog weit in den Himmel hinein, immer weiter, immer weiter, bis er sie zuletzt nicht mehr sehen konnte.
Da wachte er auf, und als er sich umsah, lag neben ihm auf dem Mühlsteine ein großer Strauß von Rosen.
Am nächsten Tag schlief er wieder ein und träumte dasselbe. Beim Erwachen lagen richtig die Rosen wieder da.
So ging es die ganze Woche hindurch. Da sagte sich Traumjörge, daß doch irgend etwas Wahres an dem Traum sein müsse, weil er ihn immer wieder träumte. Er schloß sein Haus zu und machte sich auf, die Prinzessin zu suchen.
Nachdem er viele Tage gegangen war, erblickte er von weitem ein Land, wo die Wolken bis auf die Erde hingen. Er wanderte rüstig darauf zu, kam aber in einen großen Wald. Plötzlich hörte er hier ein ängstliches Stöhnen und Wimmern, und als er auf die Stelle zugegangen war, von welcher das Gestöhn und Gewimmer herkam, sah er einen ehrwürdigen Greis mit silbergrauem Barte auf der Erde liegen. Zwei widerlich häßliche, splitternackte Kerle knieten auf ihm und suchten ihn zu erwürgen. Da blickte er um sich, ob er nicht irgendeine Waffe fände, mit der er den beiden Kerlen zu Leibe gehen könnte, und da er nichts fand, riß er in seiner Todesangst einen großen Baumast ab. Kaum jedoch hatte er diesen erfaßt, als er sich in seinen Händen in eine mächtige Hellebarde verwandelte. Damit stürmte er auf die beiden Ungeheuer los und rannte sie ihnen durch den Leib, so daß sie mit Geheul den Alten losließen und fortsprangen.
Darauf hob er den ehrwürdigen Greis auf, tröstete ihn und fragte, warum ihn die beiden nackten Kerle hätten erwürgen wollen.
Da erzählte jener, er sei der König der Träume und aus Versehen etwas vom Wege ab in das Reich seines größten Feindes, des Königs der Wirklichkeit, gekommen. Sobald dies der König der Wirklichkeit bemerkt habe, hätte er ihm durch zwei seiner Diener auflauern lassen, damit sie ihm den Garaus machten.
„Hattest du denn dem König der Wirklichkeit etwas zuleide getan?“ fragte Traumjörge.
„Behüte Gott!“ versicherte jener. „Er wird aber überhaupt sehr leicht gegen andere ausfällig. Dies liegt in seinem Charakter – und mich besonders haßt er wie die Sünde!“
„Aber die Kerle, die er geschickt hatte, dich zu erwürgen, waren ja ganz nackt!“
„Jawohl“, sagte der König, „splitterfasernackt. Das ist so Mode im Lande der Wirklichkeit. Alle Leute gehen dort nackt, selbst der König, und schämen sich nicht einmal. Es ist ein abscheuliches Volk! – Weil du mir nun aber das Leben gerettet hast, will ich mich dankbar gegen dich erweisen und dir mein Land zeigen. Es ist wohl das herrlichste der Welt, und die Träume sind meine Untertanen!“
Darauf ging der König der Träume voran, und Jörg folgte ihm. Als sie an die Stelle kamen, wo die Wolken auf die Erde hingen, wies der König auf eine Falltüre, welche so versteckt im Busch lag, daß sie gar nicht zu finden war, wenn man es nicht wußte. Er hob sie auf und führte seinen Begleiter fünfhundert Schritte hinab in eine hell erleuchtete Grotte, welche sich meilenweit in wunderbarer Pracht hinzog. Es war unsäglich schön! Da waren Schlösser auf Inseln mitten in großen Seen, und die Inseln schwammen umher wie Schiffe. Wenn man in ein solches Schloß hineingehen wollte, brauchte man sich nur an das Ufer zu stellen und zu rufen:
„Schlößlein, Schlößlein, schwimm heran,
Daß ich in dich ‚reingehn kann!“
dann kam es von selbst an das Ufer. Weiter waren noch andere Schlösser da auf den Wolken; die flogen langsam in der Luft. Sprach man aber:
„Steig herab, mein Luftschlößlein,
Daß ich kann in dich hinein!“
so senkten sie sich langsam nieder. Außerdem waren noch da Gärten mit Blumen, die am Tag dufteten und in der Nacht leuchteten; schillernde Vögel, die Märchen erzählten, und eine Menge anderer ganz wunderbarer Sachen. Traumjörge konnte mit Staunen und Bewundern gar nicht fertig werden.
„Nun will ich dir auch noch meine Untertanen, die Träume, zeigen“, sagte der König. „Ich habe deren drei Sorten. Gute Träume für die guten Menschen, böse Träume für die bösen und außerdem Traumkobolde. Mit den letzteren mache ich mir zuweilen einen Spaß, denn ein König muß doch auch zuweilen seinen Spaß haben.“ –
Zuerst führte er ihn also in eins der Schlösser, welches eine so verzwickte Bauart hatte, daß es förmlich komisch aussah: „Hier wohnen die Traumkobolde“, sprach er, „ein kleines, übermütiges, schabernackiges Volk. Tut niemanden was, aber neckt gern.“
„Komm einmal her, Kleiner“, rief er darauf einem der Kobolde zu, „und sei einmal einen einzigen Augenblick ernsthaft.“ Hernach fuhr er fort und sagte zu Traumjörge: „Weißt du, was der Schelm tut, wenn ich ihm einmal ausnahmsweise erlaube, auf die Erde hinaufzusteigen? Er läuft ins nächste Haus, holt den ersten besten Menschen, der gerade wunderschön schläft, aus den Federn, trägt ihn auf den Kirchturm und wirft ihn kopfüber herunter. Dann springt er eiligst die Turmtreppe hinab, so daß er unten eher ankommt, fängt ihn auf, trägt ihn wieder nach Haus und schmeißt ihn so ins Bett, daß es kracht und er davon aufwacht. Dann reibt er sich den Schlaf aus den Augen, sieht sich ganz verwundert um und spricht: ‚Ei du lieber Gott, war mir’s doch gerade, als wenn ich vom Kirchturm herabfiele. Es ist nur gut, daß ich bloß geträumt habe.'“
„Das ist der?“ riref Traumjörge. „Siehst du, der ist auch schon einmal bei mir gewesen! Wenn er aber wiederkommt und ich erwische ihn, soll’s ihm schlecht ergehen.“ Kaum hatte er dies noch gesagt, so sprang ein andrer Traumkobold unter dem Tische hervor. Der sah aus wie ein kleiner Hund, denn er hatte ein ganz zottiges Wämslein an, und die Zunge streckte er auch heraus.
„Der ist auch nicht viel besser“, meinte der Traumkönig. „Er bellt wie ein Hund, und dabei hat er Kräfte wie ein Riese. Wenn dann die Leute im Traume Angst bekommen, hält er sie an Händen und Beinen fest, daß sie nicht fort können.“
„Den kenne ich auch“, fiel Traumjörge ein. „Wenn man fort will, ist es einem, als wenn man starr und steif wie ein Stück Holz wäre. Wenn man den Arm aufheben will, geht es nicht, und wenn man die Beine rühren will, geht es auch nicht. Manchmal ist’s aber kein Hund, sondern ein Bär, oder ein Räuber, oder sonst etwas Schlimmes!“
„Ich werde ihnen nie wieder erlauben, dich zu besuchen“, beruhigte ihn der König. „Nun komm einmal zu den bösen Träumen, aber fürchte dich nicht, sie werden dir keinen Schaden zufügen; sie sind nur für die bösen Menschen.“ Damit traten sie in einen ungeheuren Raum ein, der von einer hohen Mauer umgeben und mittels einer gewaltigen eisernen Tre verschlossen war. Hier wimmelte es von den greulichsten Gestalten und entsetzlichsten Ungeheuern. Manche sahen wie Menschen, halb wie Tiere, manche ganz wie Tiere aus. Erschrocken wich Traumjörge zurück bis an die eiserne Türe. Doch der König redete ihm freundlich zu und sprach: „Willst du dir nicht genauer besehen, was böse Menschen träumen müssen?“ Und er winkte einem Traume, der zunächst stand; das war ein scheußlicher Riese, der hatte unter jedem Arme ein Mühlrad.
„Erzähle, was du heut nacht tun wirst!“ herrschte der König ihn an.
Da zog das Ungeheuer den Kopf in die Schultern und den Mund bis zu den Ohren, wackelte mit dem Rücken wie einer, der sich so recht freut, und sagte grinsend: „Ich gehe zum reichen Mann, der seinen Vater hat hungern lassen. Als der alte Mann sich eines Tages auf die steinerne Treppe vor dem Hause seines Sohnes gesetzt hatte und um Brot bat, kam der Sohn und sagte zum Gesinde: ‚Jagt mir einmal den Hampelmann fort!‘ Da gehe ich nun nachts zu ihm und ziehe ihn zwischen den zwei Mühlrädern durch, bis alle Knochen hübsch kurz und klein gebrochen sind. Ist er dann so recht schmeidig und zapplig geworden, so nehme ich ihn am Kragen, schüttle ihn und sage: ‚Siehst du, wie hübsch du nun zappelst, du Hampelmann!‘ Dann wacht er auf, klappert mit den Zähnen und ruft: ‚Frau, bring mir noch ein Deckbett, mich friert!‘ Und wenn er wieder eingeschlafen ist, mache ich’s aufs neue!“
Als Traumjörge dies gehört, drängte er sich mit Gewalt zur Tür hinaus, den König nach sich ziehend, und rief: „Nicht einen Augenblick länger bleibe ich hier bei den bösen Träumen. Das ist ja entsetzlich!“
Der König führte ihn nun in einen prächtigen Garten, wo die Wege von Silber, die Beete von Gold und die Blumen von geschliffenen Edelsteinen waren. In dem gingen die guten Träume spazieren. Das erste, was er sah, war ein Traum wie eine junge blasse Frau, die hatte unter dem einen Arme eine Arche Noah und unter dem anderen einen Baukasten.
„Wer ist denn das?“ fragte der Traumjörge.
„Die geht abends immer zu einem kleinen kranken Knaben, dem seine Mutter gestorben ist. Am Tag ist er ganz allein, und niemand bekümmert sich um ihn; aber gegen Abend geht sie zu ihm, spielt mit ihm und bleibt die ganze Nacht. Er schläft immer schon sehr früh ein, deshalb geht sie auch so zeitig. Die andern Träume gehen viel später. — Komm nur weiter; wenn du alles sehen willst, müssen wir uns sputen!“
Darauf gingen sie tiefer in den Garten hinein, mitten unter die guten Träume. Es waren Männer, Frauen, Greise und Kinder, alle mit lieben und guten Gesichtern und in den schönsten Kleidern. In den Händen trugen viele von ihnen alle möglichen Dinge, die sich das Herz nur wünschen kann. – Auf einmal blieb Traumjörge stehen und schrie so laut, daß alle Träume sich umdrehten.
„Was hast du denn?“ fragte der König.
„Das ist ja meine Prinzessin, die mir so oft erschienen ist und mir die Rosen geschenkt hat!“ rief der Traumjörge ganz entzückt aus.
„Freilich, freilich!“ erwiderte jener. „Das ist sie. Nicht wahr, ich habe dir immer einen sehr hübschen Traum geschickt? Es ist beinahe der hübscheste, den ich habe.“
Da lief der Traumjörge auf die Prinzessin zu, die gerade wieder auf ihrer kleinen goldenen Schaukel saß und sich schaukelte. Sobald sie ihn kommen sah, sprang sie herab und ihm gerade in die Arme. Er aber nahm sie an der Hand und führte sie an eine goldene Bank. Da setzten sich beide hin und erzählten sich, wie hübsch es wäre, daß sie sich wieder sähen. Und wenn sie damit fertig waren, fingen sie immer wieder von vorne an. Der König der Träume aber ging mittlerweile fortwährend auf dem großen Wege, der gerade durch den Garten ging, auf und ab, die Hände auf dem Rücken, und zuweilen nahm er die Uhr heraus und sah nach, wie spät es wäre, weil der Traumjörge und die Prinzessin immer noch nicht mit dem fertig waren, was sie sich zu erzählen hatten. Zuletzt ging er jedoch wieder zu ihnen und sagte: „Kinder, nun ist es gut! Du, Traumjörge, hast noch weit zu Hause, und über Nacht kann ich dich nicht hierbehalten, denn ich habe keine Betten, weil nämlich die Träume nicht schlafen, sondern nachts immer zu den Menschen auf die Erde hinaufgehen müssen; und du, Prinzeßchen, du mußt dich fertigmachen. Zieh dich heute einmal ganz rosa an, und nachher komm zu mir, damit ich dir sage, wem du heute erscheinen und was du ihm sagen sollst.“
Als dies der Traumjörge gehört, ward es ihm auf einmal so mutig ums Herz, wie noch nie in seinem Leben. Er stand auf und sagte mit fester Stimme: „Herr König, von meiner Prinzessin lass‘ ich nun und nimmermehr. Entweder Ihr müßt mich hier unten behalten, oder Ihr müßt mir sie mit auf die Erde geben. Ich kann ohne sie nicht leben, dazu habe ich sie viel zu lieb!“ Dabei trat ihm in jedes Auge eine Träne, so groß wie eine Haselnuß.
„Aber Jörge, Jörge“, erwiderte der König, „es ist ja der allerhübscheste Traum, den ich habe! Doch du hast mir das Leben gerettet, so sei es denn. Nimm deine Prinzessin und steige mit ihr hinauf zur Erde. Sobald du oben angelangt bist, so nimm ihr den silbernen Schleier vom Kopf und wirf ihn mir durch die Falltüre wieder herab. Dann wird deine Prinzessin von Fleisch und Blut wie ein anderes Menschenkind sein; denn jetzt ist es ja nur ein Traum!“
Da bedankte sich Traumjörge auf das herzlichste und sagte: „Lieber König, weil du nun einmal so überaus gut bist, so möchte ich wohl noch eine Bitte wagen. Sieh, eine Prinzessin habe ich nun, doch es fehlt mir immer noch ein Königreich; und es ist doch ganz unmöglich, daß eine Prinzessin ohne ein Königreich sein kann. Kannst du mir denn keins verschaffen, wenn es auch nur ein ganz kleines ist?“
Darauf antwortete der König: „Sichtbare Königreiche, Traumjörge, habe ich zwar nicht zu vergeben, aber unsichtbare; und davon sollst du eins bekommen, und zwar eins der größten und herrlichsten, was ich noch habe.“
Da fragte Traumjörge, wie es mit den unsichtbaren Königreichen beschaffen wäre; indes der König bedeutete ihm, er würde dies schon alles erfahren und sein blaues Wunder erleben, so schön und herrlich sei es mit den unsichtbaren Königreichen.
„Nämlich“, sagte er, „mit den gewöhnlichen, sichtbaren ist es doch zuweilen eine sehr unangenehme Sache. Zum Exempel: du bist König in einem gewöhnlichen Königreiche, und frühmorgens tritt der Minister an dein Bett und sagt: ‚Majestät, ich brauche tausend Taler fürs Reich.‘ Darauf öffnest du die Staatkasse und findest auch nicht einen Heller darin! Was willst du dann anfangen? Oder, zum andern: du bekommst Krieg und verlierst, und der andere König, der dich besiegt hat, heiratet deine Prinzessin; dich aber sperrt er in einen Turm. So etwas kann in einem unsichtbaren Königreiche nicht vorfallen!“
„Wenn wir es nun aber nicht sehen“, fragte Traumjörge noch immer etwas betreten, „was kann uns dann unser Königreich nützen?“
„Du sonderbarer Mensch“, sagte der König darauf und hielt den Zeigefinger an die Stirn, „du und deine Prinzessin, ihr seht es schon! Ihr seht die Schlösser und Gärten, die Wiesen und Wälder, die zu dem Königreich gehören, wohl! Ihr wohnt darin, geht spazieren und könnt alles damit machen, was euch gefällt; nur die andern Leute sehen es nicht.“
Da war Traumjörge hoch erfreut, denn es war ihm schon etwas ängstlich zumut, ob die Leute im Dorf ihn nicht scheel ansehen würden, wenn er mit seiner Prinzessin nach Hause käme und König wäre. Er nahm sehr gerührt Abschied vom König der Träume, stieg mit der Prinzessin die fünfhundert Stufen hinauf, nahm ihr den silbernen Schleier vom Kopf und warf ihn hinunter. Darauf wollte er die Falltür zumachen, aber sie war sehr schwer. Er konnte sie nicht halten und ließ sie fallen. Da gab es einen ungeheuren Knall, fast so arg, als wenn viele Kanonen auf einmal losgeschossen werden, und es vergingen ihm auf einen Augenblick die Sinne. Als er wieder zu sich kam, saß er vor seinem Häuschen auf dem alten Mühlstein und neben ihm die Prinzessin, und sie war von Fleisch und Blut wie ein gewöhnliches Menschenkind. Sie hielt seine Hand, streichelte sie und sagte: „Du lieber, guter, närrischer Mensch, du hast dich so lange nicht getraut, mir zu sagen, wie lieb du mich hast? Hast du dich denn vor mir gefürchtet?“ –
Und der Mond ging auf und beleuchtete den Fluß, die Wellen schlugen klingend ans Ufer, und der Wald rauschte; doch sie saßen immer noch und schwatzten. Da war es plötzlich, als wenn eine kleine, schwarze Wolke vor den Mond träte, und auf einmal fiel etwas vor ihre Füße nieder, wie ein großes zusammengelegtes Tuch. Darauf stand der Mond wieder in vollem Glanze. Sie hoben das Tuch auf und breiteten es auseinander. Es war aber sehr fein und viele hundert Male zusammengelegt, so daß sie viel Zeit brauchten. Als sie es vollständig auseinandergefaltet hatten, sah es aus wie eine große Landkarte. In der Mitte ging ein Fluß, und zu beiden Seiten waren Städte, Wälder und Seen. Da merkten sie, daß es ein Königreich war und daß es der gute Traumkönig ihnen vom Himmel hatte herunterfallen lassen. Und als sie sich nun ihr kleines Häuschen besahen, war es zu einem wundervollen Schlosse geworden, mit gläsernen Treppen, Wänden von Marmelstein, Tapeten von Samt und spitzen Türmen mit blauen Schieferdächern. Da faßten sie sich an und gingen in das Schloß hinein, und als sie eintraten, waren schon die Untertanen versammelt und verneigten sich tief. Pauken und Trompeten erschallten, und Edelknaben gingen vor ihnen her und streuten Blumen. Da waren sie König und Königin. –
Am andern Morgen aber lief es wie ein Feuer durch das Dorf, daß der Traumjörge wiedergekommen sei und sich eine Frau mitgebracht habe. „Das wird auch etwas Gescheites sein“, sagten die Leute. „Ich habe sie heute früh schon gesehen“, fiel einer von den Bauern ins Wort, „als ich in den Wald ging. Sie stand mit ihm vor der Türe. Es ist nichts Besonderes, eine ganz gewöhnliche Person, klein und schmächtig. Ziemlich ärmlich war sie auch angezogen. Wo soll’s denn am Ende auch herkommen! Er hat nichts, da wird sie wohl auch nichts haben!“
So schwatzten sie, die dummen Leute; denn sie konnten es nicht sehen, daß es eine Prinzessin war. Ind daß das Häuschen sich in ein großes, wundervolles Schloß verwandelt hatte, bemerkten sie in ihrer Einfalt auch nicht, denn es war eben ein unsichtbares Königreich, was dem Traumjörge vom Himmel heruntergefallen war. Aus diesem Grunde bekümmerte er sich auch um die dummen Leute gar nicht, sondern lebte in seinem Königreiche und mit seiner lieben Prinzessin herrlich und vergnügt. Und er bekam sechs Kinder, eins immer schöner wie das andere, und das waren lauter Prinzen und Prinzessinnen. Niemand aber wußte es im Dorf, denn das waren ganz gewöhnliche Leute und viel zu einfältig, um es einzusehen.
Der Wunschring
Der Bauer ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm sein Beil und machte sich auf den Weg. Nach zwei Tagen fand er die Tanne. Er ging sofort daran, sie zu fällen, und in dem Augenblicke, wo sie umstürzte und mit Gewalt auf den Boden schlug, fiel aus ihrem höchsten Wipfel ein Nest mit zwei Eiern heraus. Die Eier rollten auf den Boden und zerbrachen, und wie sie zerbrachen, kam aus dem einen Ei ein junger Adler heraus, und aus dem anderen fiel ein kleiner goldener Ring. Der Adler wuchs zusehends, bis er wohl halbe Manneshöhe hatte, schüttelte seine Flügel, als wollte er sie probieren, erhob sich etwas über die Erde und rief dann:
„Du hast mich erlöst! Nimm zum Dank den Ring, der in dem anderen Ei gewesen ist! Es ist ein Wunschring. Wen du ihn am Finger umdrehst und dabei einen Wunsch aussprichst, wird er alsbald in Erfüllung gehen. Aber es ist nur ein einziger Wunsch im Ring. Ist der getan, so hat der Ring alle weitere Kraft verloren und ist nur wie ein gewöhnlicher Ring. Darum überlege dir wohl, was du dir wünschst, auf daß es dich nicht nachher gereue.“
Darauf hob sich der Adler hoch in die Luft, schwebte lange noch in großen Kreisen über dem Haupte des Bauern und schoß dan wie ein Pfeil nach Morgen.
Der Bauer nahm den Ring, steckte ihn an den Finger und begab sich auf den Heimweg. Als es Abend war, langte er in einer Stadt an; da stand der Goldschmied im Laden und hatte viele köstliche Ringe feil. Da zeigte ihm der Bauer seinen Ring und fragte ihn, was er wohl wert wäre. „Einen Pappenstiel!“ versetzte der Goldschmied. Da lachte der Bauer laut auf und erzählte ihm, daß es ein Wunschring sei und mehr wert als alle Ringe zusammen, die jener feilhielte. Doch der Goldschmied war ein falscher, ränkevoller Mann. Er lud den Bauer ein, über Nacht bei ihm zu bleiben, und sagte: „Einen Mann, wie dich, mit solchem Kleinode zu beherbergen, bringt Glück; bleibe bei mir!“ Er bewirtete ihn aufs schönste mit Wein und glatten Worten, und als er nachts schlief, zog er ihm unbemerkt den Ring vom Finger und steckte ihm statt dessen einen ganz gleichen, gewöhnlichen Ring an.
Am nächsten Morgen konnte es der Goldschmied kaum erwarten, daß der Bauer aufbräche. Er weckte ihn schon in der frühesten Morgenstunde und sprach: „Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Es ist besser, wenn du dich früh aufmachst.“
Sobald der Bauer fort war, ging er eiligst in seine Stube, schloß die Läden, damit niemand etwas sähe, riegelte dann auch noch die Tür hinter sich zu, stellte sich mitten in die Stube, drehte den Ring um und rief: „Ich will gleich hunderttausend Taler haben.“
Kaum hatte er dies gesprochen, so fing es an, Taler zu regnen, harte, blanke Taler, als wenn es mit Mulden gösse, und die Taler schlugen ihm auf den Kopf, Schultern und Arme. Er fing an, kläglich zu schreien, und wollte zur Türe springen, doch ehe er sie erreichen und aufriegeln konnte, stürzte er, am ganzen Leibe blutend, zu Boden. Aber das Talerregnen nahm kein Ende, und bald brach von der Lat die Diele zusammen, und der Goldschmied mitsamt dem Gelde stürzte in den tiefen Keller. Darauf regnete es immer weiter, bis die hunderttausend voll waren, und zuletzt lag der Goldschmied tot im Keller und auf ihm das viele Geld. Von dem Lärm kamen die Nachbarn herbeigeeilt, und als sie den Goldschmied tot unter dem Gelde liegen fanden, sprachen sie: „Es ist doch ein großes Unglück, wenn der Segen so knüppeldick kommt.“ Darauf kamen auch die Erben und teilten.
Unterdes ging der Bauer vergnügt nach Hause und zeigte seiner Frau den Ring. „Nun kann es uns gar nicht fehlen, liebe Frau“, sagte er. „Unser Glück ist gemacht. Wir wollen uns nur recht überlegen, was wir uns wünschen wollen.“
Doch die Frau wußte gleich guten Rat. „Was meinst du“, sagte sie, „wenn wir uns noch etwas Acker wünschten? Wir haben gar so wenig. Da reicht so ein Zwickel gerade zwischen unsere Äcker hinein; den wollen wir uns wünschen.“
„Das wäre der Mühe wert“, erwiderte der Mann. „Wenn wir ein Jahr lang tüchtig arbeiten und etwas Glück haben, könnten wir ihn uns vielleicht kaufen.“ Darauf arbeiteten Mann und Frau ein Jahr lang mit aller Anstrengung, und bei der Ernte hatte es noch nie so geschüttet wie dieses Mal, so daß sie den Zwickel kaufen konnten und noch ein Stück Geld übrigblieb. „Siehst du!“ sagte der Mann, „wir haben den Zwickel, und der Wunsch ist immer noch frei.“
Da meinte die Frau, es wäre wohl gut, wenn sie sich noch eine Kuh wünschten und ein Pferd dazu. „Frau“, entgegnete abermals der Mann, indem er mit dem übriggebliebenen Gelde in der Hosentasche klapperte, „was wollen wir wegen solch einer Lumperei unsern Wunsch vergeben. Die Kuh und das Pferd kriegen wir auch so.“
Und richtig, nach abermals einem Jahr waren die Kuh und das Pferd reichliche verdient. Da rieb sich der Mann vergnügt die Hände und sagte: „Wieder ein Jahr den Wunsch gespart und doch alles bekommen, was man sich wünschte. Was wir für ein Glück haben!“ Doch die Frau redete ihrem Manne ernsthaft zu, endlich einmal an den Wunsch zu gehen.
„Ich kenne dich gar nicht wieder“, versetzte sie ärgerlich. „Früher hast du immer geklagt und gebarmt und dir alles mögliche gewünscht, und jetzt, wo du’s haben kannst, wie du’s willst, plagst und schindest du dich, bist mit allem zufrieden und läßt die schönsten Jahre vergehen. König, Kaiser, Graf, ein großer, dicker Bauer könntest du sein, alle Truhen voll Geld haben – und kannst dich nicht entschließen, was du wählen willst.“
„Laß doch dein ewiges Drängen und Treiben“, erwiderte der Bauer. „Wir sind beide noch jung, und das Leben ist lang. Ein Wunsch ist nur in dem Ringe, und der ist bald vertan. Wer weiß, was uns noch einmal zustößt, wo wir den Ring brauchen. Fehlt es uns denn an etwas? Sind wir nicht, seit wir den Ring haben, schon so heraufgekommen, daß sich alle Welt wundert? Also sei verständig. Du kannst dir ja mittlerweile immer überlegen, was wir uns wünschen könnten.“
Damit hatte die Sache vorläufig ein Ende. Und es war wirklich so, als wenn mit dem Ringe der volle Segen ins Haus gekommen wäre, denn Scheuern und Kammern wurden von Jahr zu Jahr voller und voller, und nach einer längeren Reihe von Jahren war aus dem kleinen, armen Bauer ein großer, dicker Bauer geworden, der den Tag über mit den Knechten schaffte und arbeitete, als wollte er die ganze Welt verdienen, nach dem Vesper aber behäbig und zufrieden vor der Haustüre saß und sich von den Leuten guten Abend wünschen ließ.
So verging Jahr um Jahr. Dann und wann, wenn sie ganz allein waren und niemand es hörte, erinnerte zwar die Frau ihren Mann immer noch an den Ring und machte ihm allerhand Vorschläge. Da er aber jedesmal erwiderte, es habe noch vollauf Zeit, und das Beste falle einem stets zuletzt ein, so tat sie es immer seltener, und zuletzt kam es kaum noch vor, daß auch nur von dem Ring gesprochen wurde. Zwar der Bauer selbst drehte den Ring täglich wohl zwanzigmal am Finger um und besah ihn sich, aber er hütete sich, einen Wunsch dabei auszusprechen.
Und dreißig und vierzig Jahre vergingen, und der Bauer und seine Frau waren alt und schneeweiß geworden, der Wunsch aber war immer noch nicht getan. Da erwies ihnen Gott eine Gnade und ließ sie beide in einer Nacht selig sterben.
Kinder und Kindeskinder standen um ihre beiden Särge und weinten, und als eines von ihnen den Ring abziehen und aufheben wollte, sagte der älteste Sohn:
„Laß den Vater seinen Ring mit ins Grab nehmen. Er hat sein Lebtag seine Heimlichkeit mit ihm gehabt. Es ist wohl ein liebes Andenken. Und die Mutter besah sich den Ring auch so oft; am Ende hat sie ihn dem Vater in ihren jungen Tagen geschenkt.“
So wurde denn der alte Bauer mit dem Ringe begraben, der ein Wunschring sein sollte und keiner war, und doch so viel Glück ins Haus gebracht hatte, als ein Mensch sich nur wünschen kann. Denn es ist eine eigene Sache mit dem, was richtig und was falsch ist; und schlecht Ding in guter Hand ist immer noch viel mehr wert als gut Ding in schlechter.
Von der Königin, die keine Pfeffernüsse…
Der König von Makronien, der sich schon seit einiger Zeit gerade in seinen besten Jahren befand, war eben aufgestanden und saß unangezogen auf dem Stuhl neben dem Bett. Vor ihm stand sein Hausminister und hielt ihm die Strümpfe hin, von denen der eine ein großes Loch an der Ferse hatte. Aber obwohl er den Strumpf mit großer Sorgfalt so gedreht hatte, daß der König das Loch nicht merken sollte, und obschon der König sonst mehr auf hübsche Stiefel als auf ganze Strümpfe zu achten pfelgte, war das Loch dem königlichen Scharfblicke diesmal doch nicht entgangen. Entsetzt nahm er dem Minister den Strumpf aus der Hand, fuhr mit dem Zeigefinger durch das Loch, so daß er bis zum Knöchel herausguckte, und sagte dann seufzend:
„Was hilft mit’s, daß ich König bin, wenn ich keine Königin habe! Was meinst du, wenn ich mir eine Frau nähme?“
„Majestät“, antwortete der Minister, „das ist ein sublimer Gedanke; ein Gedanke, der gewiß auch mir ganz untertänigt aufgestiegen wäre, wenn ich nicht gefühlt hätte, daß ihn Ew. Majestät jedenfalls heute selbst noch zu äußern geruhen würden!“
„Schön!“ erwiderte der König, „aber glaubst du, daß ich so leicht eine Frau finden werde, die für mich paßt?“
„Pah!“ sagte der Minister. „Zehn für eine!“
„Vergiß nicht, daß ich große Ansprüche mache. Wenn mir eine Prinzessin gefallen soll, muß sie klug und schön sein! Und dann ist noch ein Punkt, auf den ich ganz besonderes Gewicht lege: du weißt, wie gern ich Pfeffernüsse esse. In meinem ganzen Reiche ist kein einziger Mensch, der sie zu backen versteht, wenigstens richtig zu backen, nicht zu hart und nicht zu weich, sondern gerade knusprig: sie muß durchaus Pfeffernüsse backen können!“
Als der Minister dies hörte, bekam er einen heftigen Schreck. Doch sammelte er sich rasch wieder und entgegnete: „Ein König wie Ew. Majestät werden ohne Zweifel auch eine Prinzessin finden, die Pfeffernüsse zu backen versteht.“
„Nun, dann wollen wir uns zusammen umsehen!“ versetzte der König; und noch am demselben Tage begann er in Begleitung des Ministers die Rundreise zu denjenigen seiner verschiedenen Nachbarn, von denen er wußte, daß sie Prinzessinnen zu vergeben hatten. Aber es fanden sich nur drei Prinzessinnen, die gleichzeitig so schön und klug waren, daß sie dem König gefielen, und von diesen konnte keine Pfeffernüsse backen.
„Pfeffernüsse kann ich freilich nicht backen“, sagte die erste Prinzessin, als der König sie danach fragte, „aber hübsche kleine Mandelkuchen. Bist du damit nicht zufrieden?“ – „Nein!“ erwiderte der König, „es müssen partout Pfeffernüsse sein!“
Die zweite Prinzessin, als er die nämliche Frage an sie richtete, schnalzte mit der Zunge und sagte ärgerlich: „Laßt mich mit Euren Albernheiten zufrieden! Prinzessinnen, welche Pfeffernüsse nacken können, gibt es nicht.“
Am schlimmsten aber ging es dem König bei der dritten, obwohl sie die schönste und klügste war. Denn sie ließ ihn gar nicht bis zu seiner Frage kommen, sondern ehe er sie noch hatte tun können, fragte sie selbst, ob er auch wohl das Brummeisen zu spielen verstünde? Und als er dies verneinte, gab sie ihm einen Korb und meinte, es tue ihr herzlich leid. Er gefalle ihr sonst ganz gut; aber sie höre das Brummeisen für ihr Leben gern und habe sich vorgenommen, keinen Mann zu nehmen, der es nicht spielen könne.
Da fuhr der König mit dem Minister wieder nach Haus, und als er aus dem Wagen stieg, sagte er recht niedergeschlagen: „Das wäre also nichts gewesen!“
Aber ein König muß durchaus eine Königin haben, und nach längerer Zeit ließ er daher den Minister noch einmal zu sich kommen und eröffnete ihm, er habe es aufgegeben, eine Frau zu finden, die Pfeffernüsse backen könne, und beschlossen, die Prinzessin zu heiraten, welche sie damals zuerst besucht hätten. „Es ist die, welche die kleinen Mandelkuchen zu backen versteht“, fügte er hinzu. „Gehe hin und frage, ob sie meine Frau werden will.“
Am nächsten Tag kam der Minister zurück und erzählte, daß die Prinzessin nicht mehr zu haben sei. Sie hätte den König aus dem Lande, wo die Kapern wachsen, geheiratet.
„Nun, dann gehe zur zweiten Prinzessin!“ Allein der Minister kam auch dieses Mal wieder unverichteterdinge zu Hause: Der alte König habe gesagt, er bedaure unendlich, aber seine Tochter sei leider gestorben, und so könne er sie ihm nicht geben.
Da besann sich der König lange; weil er aber durchaus eine Königin haben wollte, so befahl er dem Minister, er solle doch auch noch einmal zur dritten Prinzessin gehen, vielleicht habe sie sich inzwischen anders besonnen. Und der Minister mußte gehorchen, obgleich er sehr wenig Lust verspürte ud obschon ihm auch seine Frau sagte, daß es gewiß recht unnütz wäre. Der König aber wartete ängstlich auf seine Rückkunft. Denn er gedachte der Frage wegen des Brummeisens, und die Erinnerung daran war ihm ärgerlich.
Die dritte Prinzessin jedoch empfing den Minister sehr freundlich und sagte zu ihm, eigentlich hätte sie sich ganz bestimmt vorgenommen, nur einen Mann zu nehmen, der das Brummeisen zu spielen verstünde. Aber Träume seien Schäume, und besonders Jugendträume! Sie sähe ein, daß sich ihr Wunsch nicht erfüllen ließe, und da der König ihr sonst sehr gut gefalle, so wolle sie ihn schon zum Manne nehmen.
Da fuhr der Minister zurück, was die Pferde jagen wollten, und der König umarmte ihn und gab ihm den großen Schranzenorden mit Brettern, den Orden am Hals und die Bretter noch höher zu tragen. Bunte Fahnen wurden in der Stadt ausgehangen, Girlanden von einem Haus zum andern quer über die Straßen gezogen und die Hochzeit so herrlich gefeiert, daß die Leute vierzehn Tage von weiter nichts sprachen.
Der König und die junge Königin aber lebten in Lust und Freude ein ganzes Jahr lang. Der König hatte die Pfeffernüsse und die Königin das Brummeisen gänzlich vergessen.
Eines Tages jedoch stand der König früh mit dem falschen Beine zuerst aus dem Bette auf, und alles ging verkehrt. Es regnete den ganzen Tag; der Reichsapfel fiel hin, und das kleine Kreuz, das oben drauf ist, brach ab; dann kam der Hofmaler und brachte die neue Karte vom Königreiche, und als der König sie besah, war das Land rot angestrichen statt blau, wie er befohlen; und endlich, die Königin hatte Kopfschmerzen.
Da geschah es, daß das Ehepaar sich zum ersten Male zankte; warum, wußten sie am nächsten Morgen selbst nicht mehr, oder wenn sie es wußten, wollten sie es wenigstens nicht sagen. Kurz, der König war brummig und die Königin schnippisch und behielt stets das letzte Wort. Nachdem sie sich beide lange Zeit hin und her gestritten, zuckte die Königin endlich verächtlich mit den Achseln und sagte:
„Ich dächte, du wärest nun endlich still und hörtest auf, alles zu tadeln, was dir vor die Augen kommt! Du selbst kannst ja nicht einmal das Brummeisen spielen.“
Aber kaum war ihr dies entschlüpft, als der König ihr schon ins Wort fiel und giftig antwortete: „Und du kannst nicht einmal Pfeffernüsse backen!“
Da blieb die Königin zum ersten Male die Antwort schuldig und wurde ganz still, und beide gingen, ohne weiter ein Wort zu wechseln, auseinander, jedes in seine Stube. Hier setzte sich die Königin in die Sofaecke und weinte und dachte: Was du doch für eine törichte Frau bist! Wo hast du nur deinen Verstand gehabt? Dümmer hättest du es gar nicht anfangen können!
Der König aber ging in seinem Zimmer auf und ab, rieb sich die Hände und sagte: „Es ist doch ein wahres Glück, daß meine Frau keine Pfeffernüsse backen kann! Was hätte ich sonst erwidern sollen, als sie mir vorwarf, daß ich das Brummeisen nicht zu spielen verstünde?!“
Nachdem er dies wenigstens drei- oder viermal wiederholt hatte, wurde er immer vergnügter. Er fing an, seine Lieblingsmelodie zu pfeifen, besah sich dann das große Bild der Königin, welches in seinem Zimmer hing, stieg auf einen Stuhl, um mit dem Taschentuch einen Spinnenfaden abzuwischen, der der Königin gerade über die Nase herabhing, und sagte endlich:
„Sie hat sich gewiß recht geärgert, die gute kleine Frau! Ich werde einmal sehen, was sie macht!“
Darauf ging er zur Tür hinaus auf den langen Gang, auf welchen alle Zimmer mündeten. Weil aber an diesem Tage alles verkehrt ging, so hatte der Kammerdiener vergessen, die Lampen anzuzünden, obgleich es schon acht Uhr abends und stockdunkel war.
Daher streckte der König die Hände vor sich, um sich nicht zu stoßen, und tappte vorsichtig an der Wand hin. Plötzlich fühlte er etwas Weiches.
„Wer ist da?“ fragte er.
„Ich bin es“, antwortete die Königin.
„Was suchst du, mein Schatz?“
„Ich wollte dich um Verzeihung bitten“, erwiderte die Königin, „weil ich dich so gekränkt habe.“
„Das brauchst du gar nicht!“ sagte der König und fiel ihr um den Hals. „Ich habe mehr Schuld als du und längst alles vergessen. Aber, weißt du, zwei Worte wollen wir in unserem Königreiche bei Todesstrafe verbieten lassen, Brummeisen und – „
„Und Pfeffernüsse“, fiel die Königin lachend ein, indem sie sich heimlich noch ein paar Tränen aus den Augen wischte – und damit hat die Geschichte ein Ende.
Der kleine Vogel
Ein Mann und eine Frau wohnten in einem hübschen kleinen Hause, und es fehlte ihnen nichts zu ihrer vollen Glückseligkeit. Hinter dem Hause war ein Garten mit schönen alten Bäumen, in dem die Frau die seltensten Pflanzen und Blumen zog. Eines Tages ging der Mann im Garten spazieren, freute sich über die herrlichen Gerüche, welche die Blumen ausströmten, und dachte bei sich selbst: „Was du doch für ein glücklicher Mensch bist und für eine gute, hübsche, geschickte Frau hast!“ Wie er das so bei sich dachte, da bewegte sich etwas zu seinen Füßen.
Der Mann, der sehr kurzsichtig war, bückte sich und entdeckte einen kleinen Vogel, der wahrscheinlich aus dem Neste gefallen war und noch nicht fliegen konnte.
Er hob ihn auf, besah ihn sich und trug ihn zu seiner Frau. „Herzensfrau“, rief er ihr zu, „ich habe einen kleinen Vogel gefangen; ich glaube, es wird eine Nachtigall!“
„Lieber gar!“ antwortete die Frau, ohne den Vogel auch nur anzusehen; „wie soll eine junge Nachtigall in unseren Garten kommen? Es nisten ja keine alten drin.“
„Du kannst dich darauf verlassen, es ist eine Nachtigall! Übrigens habe ich schon einmal eine in unserem Garten schlagen hören. Das wird herrlich, wenn sie groß wird und zu singen beginnt! Ich höre die Nachtigallen so gern!“
„Es ist doch keine!“ wiederholte die Frau, indem sie immer noch nicht aufsah; denn sie war gerade mit ihrem Strickstrumpfe beschäftigt, und es war ihr eine Masche heruntergefallen.
„Doch, doch!“ sagte der Mann, „ich sehe es jetzt ganz genau!“ und hielt sich den Vogel dicht an die Nase.
Da trat die Frau heran, lachte laut und rief: „Männchen, es ist ja bloß ein Spatz!“
„Frau“, entgegnete hierauf der Mann und wurde schon etwas heftig, „wie kannst du denken, daß ich eine Nachtigall gerade mit dem Allergemeinsten verwechseln werde, was es gibt! Du verstehst gar nichts von Naturgeschichte, und ich habe als Knabe eine Schmetterlings- und eine Käfersammlung gehabt.“
„Aber, Mann, ich bitte dich, hat denn wohl eine Nachtigall einen so breiten Schnabel und einen so dicken Kopf?“
„Jawohl, das hat sie; und es ist eine Nachtigall!“
„Ich sage dir aber, es ist keine; höre doch, wie er piepst!“
„Kleine Nachtigallen piepsen auch.“
Und so ging es fort, bis sie sich ganz ernstlich zankten. Zuletzt ging der Mann ärgerlich aus der Stube und holte einen kleinen Käfig.
„Daß du mir das eklige Tier nicht in die Stube setzt!“ rief ihm die Frau entgegen, als er noch in der Türe stand. „Ich will es nicht haben!“
„Ich werde doch sehen, ob ich noch Herr im Hause bin!“ antwortete der Mann, tat den Vogel in den Käfig, ließ Ameiseneier holen und fütterte ihn – und der kleine Vogel ließ sich’s gut schmecken.
Beim Abendessen aber saßen der Mann und die Frau jeder an einer Tischecke und sprachen kein Wort miteinander.
Am nächsten Morgen trat die Frau schon ganz früh an das Bett ihres Mannes und sagte ernsthaft: „Lieber Mann, du bist gestern recht unvernünftig und gegen mich sehr unfreundlich gewesen. Ich habe mir eben den kleinen Vogel noch einmal besehen. Es ist ganz sicher ein junger Spatz; erlaube, daß ich ihn fortlasse.“
„Daß du mir die Nachtigall nicht anrührst!“ rief der Mann wütend und würdigte seine Frau keines Blickes.
So vergingen vierzehn Tage. Aus dem kleinen Häuschen schienen Glück und Friede auf immer gewichen zu sein. Der Mann brummte, und wenn die Frau nicht brummte, weinte sie. Nur der kleine Vogel wurde bei seinen Ameiseneiern immer größer, und seine Federn wuchsen zusehends, als wenn er bald flügge werden wollte. Er hüpfte im Käfig umher, setzte sich in den Sand auf dem Boden des Käfigs, zog den Kopf ein und plusterte die Federn auf, indem er sich schüttelte, und piepste und piepste – wie ein richtiger junger Spatz. Und jedesmal, wenn er piepste, fuhr es der Frau wie ein Dolchstich durchs Herz. –
Eines Tages war der Mann ausgegangen, und die Frau saß weinend allein im Zimmer und dachte darüber nach, wie glücklich sie doch mit ihrem Manne gelebt habe; wie vergnügt sie von früh bis zum Abend gewesen seien und wie ihr Mann sie geliebt – und wie nun alles, alles aus sei, seit der verwünschte Vogel ins Haus gekommen.
Plötzlich sprang sie auf, wie jemand, der einen raschen Entschluß faßt, nahm den Vogel aus dem Käfig und ließ ihn zum Fenster in den Garten hinaushüpfen.
Gleich darauf kam der Mann.
„Lieber Mann“, sagte die Frau, indem sie nicht wagte, ihn anzusehen, „es ist ein Unglück passiert; den kleinen Vogel hat die Katze gefressen.“
„Die Katze gefressen?“ wiederholte der Mann, indem er starr vor Entsetzen wurde; „die Katze gefressen? Du lügst! Du hast die Nachtigall absichtlich fortgelassen! Das hätte ich dir nie zugetraut. Du bist eine schlechte Frau. Nun ist es für ewig mit unserer Freundschaft aus!“ Dabei wurde er ganz blaß, und es traten ihm die Tränen in die Augen.
Wie dies die Frau sah, wurde sie auf einmal inne, daß sie doch ein recht großes Unrecht getan habe, den Vogel fortzulassen, und laut weinend eilte sie in den Garten, um zu sehen, ob sie ihn vielleicht dort noch fände und haschen könnte. Und richtig, mitten auf dem Wege hüpfte und flatterte das Vögelchen; denn es konnte immer noch nicht ordentlich fliegen.
Da stürzte die Frau auf dasselbe zu, um es zu fangen, aber das Vögelchen huschte ins Beet und vom Beet in einen Busch und von diesem wieder unter einen anderen, und die Frau stürzte in ihrer Herzensangst hinter ihm her. Sie zertrat die Beete und Blumen, ohne im geringsten darauf zu achten, und jagte sich wohl eine halbe Stunde lang mit dem Vogel im Garten herum. Endlich erhäschte sie ihn, und purpurrot im Gesicht und mit ganz verwildertem Haar kam sie in die Stube zurück. Ihre Augen funkelten vor Freude, und ihr
Herz klopfte heftig.
„Goldner Mann“, sagte sie, „ich habe die Nachtigall wieder gefangen. Sei nicht mehr böse; es war recht häßlich von mir!“
Da sah der Mann seine Frau zum ersten Male wieder freundlich an, und wie er sie ansah, meinte er, daß sie noch nie so hübsch gewesen wäre wie in diesem Augenblicke. Er nahm ihr den kleinen Vogel aus der Hand, hielt ihn sich wieder dicht vor die Nase, besah ihn sich von allen Seiten, schüttelte den Kopf und sagte dann: „Kindchen, du hattest doch recht! Jetzt sehe ich’s erst; es ist wirklich nur ein Spatz. Es ist doch merkwürdig, wie sehr man sich täuschen kann.“
„Männchen“, erwiderte die Frau, „du sagst mir das bloß zuliebe. Heute sieht mir der Vogel wirklich selbst ganz wie eine Nachtigall aus.“
„Nein, nein!“ fiel ihr der Mann ins Wort, indem er den Vogel noch einmal besah und laut lachte, „es ist ein ganz
gewöhnlicher – Gelbschnabel.“ Dann gab er seiner Frau einen herzhaften Kuß und fuhr fort: „Trag ihn wieder in
den Garten und laß den dummen Spatz, der uns vierzehn Tage lang so unglücklich gemacht hat, fliegen.“
„Nein“, entgegnete die Frau, „das wäre grausam! Er ist noch nicht recht flügge, und die Katze könnte ihn wirklich kriegen. Wir wollen ihn noch einige Tage füttern, bis ihm die Federn noch mehr gewachsen sind, und dann – dann wollen wir ihn fliegen lassen!“ –
Die Moral von der Geschichte aber ist: wenn jemand einen Spatz gefangen hat und denkt, es sei eine Nachtigall – sag’s ihm beileibe nicht; denn er nimmt’s sonst übel, und später wird er’s gewiß von selbst merken.